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Ars Electronica 1989
Festival-Programm 1989
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Festival 1979-2007
 

 

Radiokunst


'Heidi Grundmann Heidi Grundmann

Bei der letzten documenta (1987) unternahm Klaus Schöning in der Audiothek den großangelegten Versuch, eine "akustische Kunst im Radio" zu definieren und ihre Entwicklung anhand einer Fülle von Beispielen nachzuzeichnen: Zum ersten Mal wurde hier ausdrücklich eine "Kunst im Radio" für eine Großausstellung der bildenden Kunst reklamiert. "Intermediale Begegnung der bildenden Kunst mit der akustischen Kunst, auf einer der größten internationalen Kunstausstellungen. Eine vor zwei Jahrzehnten noch gänzlich unrealistische Vorstellung."(1) Klaus Schönings Ansatz implizierte, daß es eine akustische Kunst gibt, die manchmal ins Radio hineinreicht. Tatsächlich zählt Schöning – als Leiter des WDR-HörSpielStudios – zu den ganz wenigen, die innerhalb von Rundfunkanstalten konsequent an der Entfaltung einer akustischen Kunst gearbeitet haben, deren Tradition nicht die des narrativen Hörspiels, aber auch nicht die der musikalischen Komposition ist. Die Arbeit der aus den verschiedensten Bereichen – und nicht nur, wie beim Hörspiel üblich, aus dem der Literatur – kommenden Autoren, mit denen Schöning für sein HörSpielStudio produziert, läßt sich auf die grenzüberschreitenden Avantgarden vom Beginn unseres Jahrhunderts zurückbeziehen, so z.B. auf die Sprachexperimente und Untersuchungen der Futuristen und Dadaisten oder auf die Einbeziehung der Geräusche und des "Lärms" in die Musik, wie sie Luigi Russolo mit seiner "Arte dei Rumori" und seinen "Intonarumori" eingeleitet hat.

Folgerichtig gelangt Schöning zu folgender Definition der akustischen Kunst:

"AKUSTISCHE KUNST: Welt aus Sprache und Welt aus Klängen und Geräuschen. Sprache, die zum Laut tendiert, zum Sprachklang und zur Musik, dem Allklang der Töne, der akustischen Umwelt. Akustische Kunst: Symbiose dieser Sprach-Geräusch-Welten und Klangorganisation mit den Mitteln der elektronischen Technik. Ihr aufnehmendes und sensibles Ohr: das Mikrofon. Ihr Ton-Träger: das Tonband, die Kassette, die Schallplatte, der Mikrochip. Ihr sprechender Mund: der Lautsprecher. Eine ihrer Utopien: ein allen zugänglicher Hör-Raum: das Radio."(1)

Klaus Schöning hat seit über 20 Jahren dafür gesorgt, daß das Radio zunächst einmal Produktionsstätte und dann Distributionsmittel für Werke der akustischen Kunst geworden ist: Mitte der 60er Jahre entstand das sog. Neue Hörspiel, das weitgehend geprägt war von Autoren, die auch im Bereich der bildenden Kunst auftauchten – unter Stichworten wie "Kunst aus/als Sprache, Sprache als Kunst". Sie verwendeten für ihre Radioarbeiten die Techniken der Collage und Montage, sie bezogen Geräusche und Klänge als der Sprache gleichwertige Elemente ein, sie nutzten den Stereo-Raum, sie zitierten vorgefundenes Material und führten hin zu einer Auseinandersetzung mit dem sog. O(riginal)ton. In einer eigenen Reihe räumte Klaus Schöning ab 1970 Komponisten, die sich vom Herstellen begleitender, unterstützender Hörspielmusik lösen wollten, die gleichen Möglichkeiten ein wie den (zum Großteil grenzüberschreitenden) Literaten, die das Neue Hörspiel prägten: Im Laufe der Jahre entstanden herausragende Beispiele für das "Hörspiel als Musik" (Mauricio Kagel). Mit großem Interesse hatte Klaus Schöning auch die Entwicklungen der "Musique concrète" von Pierre Schaeffer und Pierre Henry in einem vom Radio unterhaltenen elektronischen Studio in Paris studiert und festgestellt, daß John Cage in den USA zur gleichen Zeit gezwungen war, seine Kompositionen mit Schallplatten, Tonband, Plattenspieler etc. ohne jeglichen Zugang zu den Produktionsmitteln des Radios zu realisieren: Es war Klaus Schöning, der John Cage Ende der 70er Jahre diese Produktionsmittel in einer Fülle zur Verfügung stellte, wie sie im Bereich der akustischen Kunst nur eine öffentlich-rechtliche Anstalt und hier wieder – dank des jahrelangen Engagements eines einzelnen – nur der WDR aufzubringen bereit war. Es entstanden verschiedene Radioarbeiten von John Cage, darunter "Roaratorio. Ein irischer Cirkus über Finnegans Wake", "eine allumfassende Kosmogonie aus menschlicher Stimme, Naturlaut, Umweltklang, Geräusch, Gesang und Musik", zusammengesetzt aus über 3000 Einzelaufnahmen.

Klaus Schöning hat mit und für John Cage auch ein Beispiel für das Ausbrechen der akustischen Kunst im Radio aus den für sie vorgesehenen Sendeplätzen erarbeitet: Aus Anlaß des 75. Geburtstages von John Cage gab es 1987 im WDR einen "NACHTCAGETAG", ein 24stündiges dramaturgisch durchkomponiertes HörSpiel, das ein 10stündiges Cage-Konzert von KRO Hilversum im Jahre 1979 weit übertraf. "Composing the Radio" nannte Klaus Schöning das 24-Stunden-Event. In einem Festival "Acustica International" gab Schöning schließlich Werke in Auftrag, die als autonome Hörspiele im Radio gesendet werden, zugleich aber auch einem versammelten Publikum als Performance, Ballett, Raum-Klang-Konzert, HörSpielFilm etc. präsentiert werden können. Hier erwies sich vor allem die Zusammenarbeit mit amerikanischen Künstlern – viele von ihnen der Fluxus-Bewegung nahestehend – als sehr fruchtbar. "Für viele dieser Künstler ist die mehrmediale Performance mit Mikrofon, Tonband, Video, Mischpult und Stimme die geläufigste Form der Darstellung. Die Begegnung dieser künstlerischen Praxis, die sich in den USA nahezu vollständig außerhalb des Radios und des Fernsehens vollzieht, mit der ganz aufs Akustische und auf Sendungen bezogenen Studioarbeit hierzulande fördert beiderseitig belebende Impulse", schreibt Schöningl und folgert: "Es erscheint folgerichtig, in der nächsten Phase auch akustische Werke der bildenden Kunst, wie die der Klangskulptur (Bill Fontana, Alvin Curran, Les Gilbert) sowie klingende Objekte (etwa von Stephan von Huene oder Thomas Schulz) in die weitere Entwicklung der akustischen Kunst im Radio mit einzubeziehen." Und dann erzählt Schöning von einem bereits realisierten "spektakulären Beispiel einer Verbindung der akustischen Kunst mit der bildenden Kunst: der 'Satelliten-Ohrbrücke Köln–San Francisco' von Bill Fontana". An der Realisierung dieser Arbeit haben sich zwei Museen moderner Kunst und über 60 europäische und – und das ist vielleicht das Erstaunlichste an dem Projekt – US-amerikanische Radiostationen beteiligt.

EXKURS
Radio als Produktionsstâtte und Distributionsmittel. Die Realität – international.
Das eben in fast schon unzulässiger Kürze geschilderte Beispiel WDR ist, was die Produktion und Distribution von "akustischer Kunst im Radio" betrifft, die Ausnahme:
In Europa gibt es nur in einigen öffentlich-rechtlichen Anstalten Sendungen, in denen regelmäßig das, was Klaus Schöning "akustische Kunst" nennt, gesendet und vor allem produziert wird. (2) In den meisten Hörspiel- und Musikabteilungen wird ihr vielmehr der Stellenwert des – alibihaften – Experiments zugewiesen, obwohl " … die Ästhetik der Ars Acustica nicht in die eigenständige Ästhetik und Tradition des Radiodrama-Hörspiels und seiner großen stilbildenden Werke integrierbar ist. Sie ist nicht aus ihnen hervorgegangen, sie hat sie nicht abgelöst, sie ist nicht ihr 'formaler' oder 'experimenteller' Ableger, ihre permanente Avantgarde. Die akustische Kunst hat … ihre eigene – wenngleich häufig unterbrochene, verdeckte und verhinderte Tradition."(1)

Was die Produktion von akustischer Kunst im Radio angeht, so liegen die Dinge in Australien, Kanada und vor allem den USA nicht besser als in Europa, sondern eher schlechter. In der Distribution spielen dort die vielen kleinen Radiostationen eine wichtige Rolle. Auftrag dieser Stationen ist häufig die Versorgung von Minderheiten. Die Palette der in vielen Fällen von Mitgliedsbeiträgen und vor allem der unbezahlten Arbeit der Programmacher getragenen Stationen reicht von Universitätssendern bis zu Radio-Kooperativen. In solchen Sendern finden oft stundenlange Programme mit akustischer Kunst statt. Honorare gibt es keine, die Produktion findet außerhalb des Radios in manchmal sehr bescheidenen Privatstudios statt, in manchen Fällen mit Hilfe von Subventionen aus der Kunstförderung. Ein Versuch des Kanadiers Ian Murray, Ende der 70er Jahre eine ganze Serie von Künstlerarbeiten fürs Radio ("Radio by Artists") bei Sendern zu plazieren, die den Künstlern die Senderechte honorieren würden – die Produktion war subventioniert –, ist im Grunde fehlgeschlagen, obwohl Arbeiten von so bekannten Leuten wie Vito Acconci, Laurie Anderson, Dan Graham, General Idea oder Lawrence Weiner vertreten waren. In der Zwischenzeit hat Helen Thorington in New York das "New American Radio" begründet und produziert – ebenfalls subventioniert – Kunst fürs Radio im gängigen Halbstundenformat: Jede Woche können Stationen des amerikanischen Public Radio sich ein Stück "New American Radio" (2) vom Satelliten holen und senden – umsonst. Ein weniger umfangreiches Paket von Halbstundenproduktionen schnürt alljährlich unter dem Titel "The Territory of Art" auch Julie Lazar im Museum of Contemporary Art in Los Angeles. Auch diese Produktionen, die u.a. von privaten Sponsoren finanziert werden, können vom Public Radio praktisch kostenlos gesendet werden.

Zwei ganz unterschiedliche Systeme stehen einander also gegenüber: einerseits der Versuch, die Arbeit an einem Projekt und seine Realisierung in einem (Privat-) Studio zu finanzieren, und zwar mit Hilfe privater Sponsoren und/oder der Kunstförderung, wobei die werkgerechte, intendierte Radio-Distribution dadurch angeregt und erleichtert werden soll, daß sie dem Distributor kaum Kosten verursacht. Und andererseits die Produktion mit den sonst nicht zugänglichen Mitteln einer Rundfunk-Anstalt, die dem Autor das Werk zur Realisierung, Sendung und Weiterverwertung abkauft. Welcher Weg im Zeitalter der immer besser werdenden Kassettenmitschnitte überleben wird, sei dahingestellt.

"Urheberrecht ist im elektronischen Zeitalter ein Anachronismus. Wir entwenden und verfremden"(3) – was die (freie) Gruppe Radio Subcom so locker als ein Motto ihrer Arbeit verkündet, ist jedenfalls für Rundfunkanstalten und die Verwertungsanstalten, die die Autoren vertreten, gegenwärtig gleichermaßen unannehmbar.

Akustische Kunst im Radio – was auf den ersten Blick wie eine Tautologie erscheinen mag, denn Kunst im Radio ist (zur Zeit jedenfalls noch) (4) notgedrungen akustisch –, impliziert also, so wie Klaus Schöning diesen Terminus gebraucht und ihn auch in der Audiothek der dokumenta argumentiert hat, nicht nur den Bezug auf bestimmte Traditionen wie Dadaismus, Futurismus, Lettrismus, Lautpoesie, Musique Concrète etc., sondern auch den Produktions- und Distributionsapparat des Massenmediums Radio, wie es sich in Mitteleuropa – lange Zeit ohne Konkurrenz – institutionalisiert hat. Akustische Kunst im Radio, das ist im Radio produzierte, auf jeden Fall aber von ihm gesendete Kunst, die zugleich nachweist, daß die Institution Radio sich (auch) als ein "kulturell initiatorisches Medium" begreift. (1) Der Nachteil dieser nicht nur theoretisierten, sondern auch praktizierten Definitionen zum Themenbereich "Radio (und) Kunst": Auch sie sind in der Institution Radio so wie wir sie vor allem als öffentlich-rechtliche kennen – entstanden. Doch es gibt noch eine Vielfalt anderer Ansätze – auch in Mitteleuropa, u.a. provoziert von den hiesigen medienpolitischen Gegebenheiten, die den eigenständigen Zugriff von Minderheiten auf die Ätherwellen i.a. nicht vorsehen. Darauf reagieren seit vielen Jahren z.B. Künstler im Umkreis von Mike Hentz und Karel Dudesek in den verschiedensten Gruppierungen und entwerfen in sendebereiten Containern oder im Medienbus ein Gegen-Bild zur bestehenden medienpolitischen Situation: Dieses Bild beinhaltet die Möglichkeit von Künstlern (und anderen Minderheiten), selbst senden zu können und eine den eigenen Bedürfnissen angepaßte und entsprechende Radioästhetik zu entwickeln, die eben nicht von den Regeln und Konventionen der (öffentlich-rechtlichen Monopol-) Institution Radio geprägt ist.

Bei den Projekten wie PONTON, RADIO X (Kunstradio, Frankfurt) oder RADIO SUBCOM handelt es sich also nicht mehr um das Plazieren "akustischer Kunst" im Radio, sondern um das Sichtbarmachen von bestehenden Kommunikationsformen und -systemen samt ihren Defiziten und Alternativen. Oder wie Richard Kriesche es in seiner Performance/Installation "Radio-Zeit" (1988) formuliert hat: "es geht nicht mehr darum, innerhalb von gegebenen Kommunikationskanälen Kunst zu machen, sondern im Gegenteil darum, die Kommunikationskanäle als Möglichkeiten einer Kunstform zu begreifen."(5)

Ansätze dieser Art sind mit Beschreibungen wie "Verbindung der akustischen Kunst mit der bildenden Kunst" oder "intermediale Begegnung der bildenden Kunst mit der akustischen Kunst" nicht zu fassen. Vielmehr zeichnet sich hier eine Radiokunst ab, die nur als Teil einer umfassenderen "Medienkunst" zu verstehen ist. Diese wiederum ist von Konzepten der bildenden Kunst geprägt und in deren Traditionen verwurzelt:
RADIOKUNST ALS BILDENDE KUNST?
Am Anfang war auch hier Duchamp: mit seinen Ready-mades und den damit verbundenen Kontextfragen, mit der Deklarierung von vorgefundenen Gegenständen zum Kunstwerk und mit der Feststellung, daß das Kunstwerk erst durch den Rezipienten vollendet wird. Auch die Zufallsoperationen in seinem "Musikalischen Erratum", und seine (z.B. von Bill Fontana immer wieder zitierte) Erkenntnis, daß Sound skulpturale Eigenschaften hat, hatten und haben ihre Aus- und Nachwirkungen.
lasting
Sounds leaving from
different places and forming
Sounding
a sculpture which lasts

M. Duchamp (6)
Eine als bildende Kunst verstandene Radiokunst knüpft also – wie jede avancierte zeitgenössische Kunst, darunter auch die "akustische Kunst im Radio" – an die grenzüberschreitenden Avantgarden aus den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts an: Nur die Schwerpunkte liegen ein wenig anders als bei der "Ars Acustica". Über Luigi Russolos "Arte dei Rumori" hinaus lassen sich für die bildende Kunst z.B. wichtige Bezüge zu Filippo Tommaso Marinetti herstellen, der 1933 zusammen mit Pino Masnata ein "Manifesto futurista della radia" verfaßt hat. Danach sollte die kreative Benutzung der Schallwellen zu einer "universellen kosmischen menschlichen Kunst" führen, zu einer Welt ohne "Zeit, Raum, gestern oder morgen". Die futuritische Radiokunst sollte die Eigenheiten des Mediums nutzen: Interferenz, Statik und die "Geometrie des Schweigens". Marinetti hat seine Vorstellungen über eine futuristische Radiokunst zudem in den Partituren zu seinen "5 Sintesi dal Teatro Radiofonico" veranschaulicht und dabei eine Fülle von Ansätzen sowohl zu einer "akustischen Kunst im Radio" wie auch zu einer als Teil der Medienkunst verstandenen Radiokunst vorweggenommen.
DAS NICHT-RETINALE BILD
Ein wesentliches Movens für die Arbeit von Autoren der unterschiedlichsten Herkunft für das Radio ist die Bildkraft dieses Mediums. Auf geradezu exemplarische Weise werden hier Duchamps Sätze von der Fertigstellung des Kunstwerks durch den Rezipienten, von den Bildern, die nicht auf der Netzhaut, sondern im Kopf entstehen, belegt.

"Radio ist visueller als TV. Das Fernsehbild ist auf einen kleinen Bildschirm angewiesen, beim Radio steht dem Bild die gesamte Vorstellungskraft zur Verfügung", meint Douglas Davis (7) und setzte komplexe Live-Performances in Radio um.

Wenn man ohne visuelle Zusatzinformation Radio hört, dann stellen sich im Gehirn, in der Vorstellung sozusagen, von selbst Bilder und visuelle Effekte ein … Für mich ist das besonders wichtig, weil ich in meinen Stücken so viele Umweltklänge verwende, die erkennbar sind, wie z.B. der Klang von Autos oder von Vögeln. Diese Klänge evozieren, wie ich hoffe, visuelle Bilder, die nicht aus musikalischen Quellen stammen, sondern sehr eindeutig bestimmt werden durch das Wiedererkennen dessen, was man hört.
(Peter Cusack).(8)

Peter Cusack verwendet, von der Musik kommend, Elektronik, seine Gitarre und Aufnahmen von Naturgeräuschen für seine Performances und Konzerte. Fürs Radio mischte er Aufnahmen von Vogelstimmen mit seinem eigenen Gitarrenspiel. Sein Interesse am Radio erläutert Cusack mit Hilfe einer Anekdote: "Als das Fernsehen in Großbritannien eingeführt wurde, machte die BBC eine Umfrage unter Kindern, was ihnen lieber sei, das Fernsehen oder das Radio. Mir hat sich die Antwort eines kleinen Mädchens eingeprägt, das sagte, ihm sei Radio lieber, weil dort die Bilder besser seien …"(8)

Voraussetzung für die Wiedererkennbarkeit von Geräuschen, Tönen und Stimmen ist ihre Registrierbarkeit und Reproduzierbarkeit. Es geht also um die Verbindung von Radio und Magnetofon, einem Bereich, der – wie die gesamte Radiokunst – theoretisch noch sehr wenig aufgearbeitet ist.

Aufnahmen von Geräuschen werden gern mit Fotografien verglichen. Wenn ihr Gegenstand erkennbar bleiben soll, werden sie dementsprechend wenig oder gar nicht manipuliert. Als klar umrissene Ab-Bilder, festgehalten auf genau begrenzten Tonbandstücken, die mit anderen Ab-Bildern/Bandstücken zusammengesetzt werden können, erhalten sowohl die Ab-Bilder wie auch die Bandstücke Objektcharakter. Der Objektcharakter des Tonbandes ist allerdings dabei, sich in den neuen Digitalstudios zu verflüchtigen, in denen u.a. auch der Abstand zwischen Mischung und Sendung auf Null schrumpft und sich selbst sehr komplexe Werke während ihrer Entstehung im Radio-Zeit-Raum entfalten könn(t)en.

John F. Rieger, der vor allem in San Francisco an verschiedenen Sendern Programme mit Radio- und Audiokunst gestaltet, gibt diesen Sendungen Titel wie "Artefacts" oder "Objects in Boxes". "Elemente eines Programms werden als Tonbandstücke behandelt so wie Tonscherben, die bei einer archäologischen Ausgrabung gefunden werden … es geht darum, eine Form zu finden, die aus den gefundenen Objekten Kunstwerke macht, und zwar ohne ihren Charakter als gefundenes oder dokumentarisches Material zu verändern … " (9) Rieger, der selbst Radiokünstler ist, zieht auch die Parallele zur Fotografie und versucht, den Ort der Radiokunst von dem der Musik und des Hörspiels abzugrenzen. "Ich interessiere mich für Bilder, für Klangbilder. Darunter verstehe ich etwas, das sich deutlich sowohl von Literatur wie von Musik unterscheidet. Ich habe in meiner Sendung schon oft gesagt: Was Sie hier hören, sind weder Geschichten noch Musik. Es handelt sich vielmehr um eine Kunst der Bilder … ich interessiere mich nicht für die Klangfarbe oder andere musikalische Eigenschaften von Tönen, sondern dafür, daß sie als aufgenommene Klänge auf die Welt verweisen. Sie haben eine geradezu semantische Qualität. Sie sind Bilder, so wie Fotos Bilder sind … Ich will ein aufgezeichnetes Bild der Welt hören, das mit Hilfe des Magnetofons zusammengesetzt worden ist, und zwar auf eine so sorgfältige Weise, daß man wirklich etwas über die Welt erfährt …" John F. Rieger arbeitet übrigens an seinen eigenen Arbeiten, in denen Klänge als Objekte fungieren, in einem kleinen Studio – ganz so wie ein Maler in seinem Atelier.

In Toronto hat Dan Lander an einem Collegeradio eine wöchentliche Sendung, die den bezeichnenden Titel "The Problem With Language" trägt. Tonbänder und Kassetten aus aller Welt werden von Dan Lander präsentiert – ohne Honorar für sich oder die Autoren. "The Problem With Language" ist Anlaufstelle für einige der vielen weltweiten Netze für Arbeiten auf Kassette oder Tonband, Netze, die fast immer auch in Radiostationen hineinreichen … Dan Lander selbst hat die Fotografie zugunsten der Arbeit mit Tönen verlassen. "Wir alle sollten manchmal die Augen schließen und nur zuhören, denn Töne erzählen viel mehr als Bilder … mit Tönen läßt sich schlecht lügen …" Auch Dan Lander arbeitet in seinem eigenen kleinen Studio. Er begnügt sich dabei mit einer Vierspurmaschine, "… auch wenn es angeblich schon 150-Spur-Geräte gibt. Denn "wieviele Spuren hat die Welt?"(10)

Un Paesaggio Udito – (aus den "5 Sintesi dal Teatro Radiofonico" di F. T. Marinetti) 10 sec. di sciacquio – 1 sec. di crepitio – 8 sec. di sciacquio – 1 sec. di crepitio – 5 sec. sciacquio – 1 sec. crepitio – 19 sec di sciacquio – 1 sec di crepitio – 35 sec di sciacquio – 6 sec di fischio di merlo.(11)

Vorgefundene Geräusche (Spülen mit Wasser, Rascheln) und Töne (das Schlagen einer Amsel) werden zusammengesetzt zu einer Hörlandschaft. Töne und Geräusche werden nicht anders behandelt als jedes andere künstlerische Material, zu dem 1933 längst auch Fahrkartenreste, Zeitungsschnipsel usw. zählten, die – in einer Art von Recyclingsprozeß in den Kontext eines Kunstwerkes gestellt – sich dort einerseits selbst darstellten und andererseits neue Beziehungen mit anderen Gegenständen und Materialien eingingen.

Die von Duchamp formulierte Vorstellung, daß der Rezipient erst das Kunstwerk vollendet, beinhaltete bereits ein zeitliches Element. Abgelöst von einem greifbaren Objekt entfaltete sich in den 60er Jahren unseres Jahrhunderts bildende Kunst in der Zeit – u.a. als Konzept, das nicht unbedingt auch ausgeführt werden muß. Strategien und Techniken, wie die des Readymades, des Versetzens eines vorgefundenen Objekts in den Kunstkontext, die Collage, die Montage, das Cut/Up, das – von William Burroughs ausgehend – seit den 70er Jahren in den verschiedensten Bereichen der bildenden Kunst immer mehr an Bedeutung gewonnen hat – man denke an die Performances der Industrial und Post-Industrial Culture –, lassen sich nahezu auf jedes Material und in jedem Raum anwenden – ohne Schwierigkeiten auch im Radioraum und auf Ton, Geräusch, Sprache, Tonband oder Radiosendungen …

Die konzeptuelle Kunst zu Ende der 60er Jahre beschäftigte sich aber vor allem auch mit den Relationen und Bedingungen, die sich bei der Benutzung von Materialien einstellen, sowie mit dem Eingebundensein künstlerischen Tuns in gesellschaftliche Gegebenheiten, dem Kontext der Kunst und des Künstlers, ihren Abhängigkeiten, u.a. von der sog. "support-structure", also von allem, das mit den Produktions- und Distributionsbedingungen von Kunst zu tun hat. Man begann vorwiegend in Räumen/spaces zu denken – gesellschaftlichen Räumen, institutionalisierten Räumen, öffentlichen Räumen, Räumen, die für die verschiedenen Medien spezifisch sind – und seine Kunst in diesen Räumen immer sorgfältiger zu positionieren, schon um sie nicht der allgegenwärtigen Gefahr der Absorption, Entschärfung oder Aneignung durch den sogenannten Kunstbetrieb und andere gesellschaftliche Bereiche, wie etwa die Werbung, auszusetzen.

"Radio ist ein klassenloses Medium. Radio durchdringt alles – ohne Rücksicht auf gesellschaftliche, kulturelle, ökonomische, politische oder geographische Grenzen. Radio ist Teil unseres Alltagslebens und, so gesehen, kein hierarchisches Medium. Wir hören Radio, während wir alle möglichen Dinge unseres Alltags verrichten, in unseren privaten Räumen. Radio bietet dem Künstler daher einen ganz neuen Kontext, der sich grundlegend von dem der Galerie unterscheidet …"
(William Furlong).(12)

I Silenzi Parlano Tra Loro – (aus den "5 Sintesi dal Teatro Radiofinico" di F. T. Marinetti): 15 sec di silenzio puro – do, re, mi, di flauto – 8 sec di silenzio puro – do, re, mi, di flauto – 29 sec di silenzio puro – sol di pianoforte – do di tromba – 40 sec di silenzio puro – do di tromba – ve ve ve di pupo – 11 sec di silenzio puro –1 minuto di rrrr di motore – 11 sec di silenzio puro – oooo! stupito di bambina undicenne.(11)

Marinetti führt hier nicht nur Geräusche (RRR eines Motors), die menschliche Stimme (genau umrissen als Stimme eines Babys und erstaunter Ausruf einer Elfjährigen) sowie musikalisch definierte und produzierte Klänge als gleichberechtigte Elemente, als Material einer nicht musikalischen Komposition ein, sondern auch das reine Schweigen. Und dieses reine Schweigen ist selbst heute noch einer der ganz großen Verstöße gegen die Konventionen der Institution Radio. Solange eine Sendung vorgesehen ist, haben aus dem Radio Klänge zu kommen. Ein Loch im Informations- und Unterhaltungsfluß der Tapete Radio zieht mehr Aufmerksamkeit auf sich als jede Nachrichtensendung. Die meisten der mittlerweile zahlreichen Künstler, die Radio zum Inhalt ihrer Arbeit gemacht haben, haben sich irgendwann einmal mit den Radiokonventionen auseinandergesetzt und versucht, sie gegen den Strich zu bürsten.

Liège, 6. August 1988 … ein paar Worte über die Kassette, die ich schicke: Ich weiß, sie ist extrem. Aber als ich daran dachte, ein Stück speziell für Radio zu machen, entschloß ich mich aus mehreren Gründen für dieses: 1. der Klang ähnelt vielen der Klänge, die ich mit meinen Instrumenten produziere. 2. Ich wollte nicht einfach einen Mitschnitt einer Performance oder ein "Hörspiel" oder ein Interview oder Statement schicken. Ich wollte einen Klang produzieren, der aus dem Radio selbst kommt. Und 3. wollte ich, daß dieser Sound für einen Hörer, der sein Radio während der Sendung zufällig einschaltet, sehr überraschend ist. Ich bin überzeugt davon, daß er alle Konventionen von Radiosendungen durchbricht … Es wäre deshalb sicher sehr interessant, das Stück zu senden. Ich nahm es mit einem tragbaren Radio in einem großen leeren Raum mit Betonboden auf. Daher das Echo …
(Terry Fox zu seiner ersten ausdrücklich fürs Radio produzierten Arbeit "Radio Tuning")(13)

Doch viel mehr als "Radio Tuning" verstieß die Sendung des Stückes "Das Labyrinth, komponiert für das Schnurren von Katzen" (1972) von Terry Fox gegen die Konventionen des Radios. Die "Cat Purrs " waren die erste Arbeit von Terry Fox mit aufgezeichneten Tönen. Sie war Teil einer sich über Jahre hinziehenden Auseinandersetzung mit dem aus 11 konzentrischen Kreisen bestehenden Labyrinth auf dem Boden der Kathedrale von Chartres und damit mit dem Welt-Bild des Mittelalters. Terry Fox nahm für jeden Kreis 8 Minuten ununterbrochenes Schnurren einer Katze auf. Diese Aufnahmen wurden dann so aneinandergereiht, daß sie dem Weg durchs Labyrinth entsprachen, wobei jede Katze einen der Kreise darstellte. Die "Cat Purrs" erreichten schließlich eine Dauer von 90 Minuten … Sie wurden in voller Länge von KPFA in Berkeley gesendet – allerdings erst im zweiten Anlauf. Beim ersten Versuch gab es so viele durch das lange Schnurren aus dem Radio irritierte Hörer, daß die Sendung nach 45 Minuten abgebrochen wurde. Heute hält Terry Fox das ursprünglich gar nicht für das Radio konzipierte Stück besonders gut für dieses Medium geeignet, "ein Medium, das vom Standpunkt des bildenden Künstlers aus noch nahezu unerforscht ist."(14)

Everything about radio … its aims, audience, content, modes of representation and exclusion, expectations and so on should be challenged continually … after this ideological extreme has been reached perhaps the most political act on radio about radio would be to broadcast what commercial stations in particular fear most … silence … but that, too, has been done …"
(Rick Rue) (15)

In der Rubrik IN KÜRZE in der Zeitschrift FALTER stand am 10.5.89 folgende Notiz: "STILLE HÖRBAR. Mit einer eigenwilligen Werbeeinschaltung wollen die privaten Rundfunkgesellschaften der USA ihre leeren Kassen wieder füllen. Am 26. Mai sollen 10.000 Sendeanstalten ihr Programm mit der Durchsage unterbrechen: Dieser Sender und andere wollen, daß Sie sich in den nächsten Sekunden Ihr Leben ohne Radio vorstellen. Stellen Sie sich vor, daß alle Tage so klingen."

Diese kurze Meldung beleuchtet als Beispiel die immer rapider stattfindende Appropriation von Kunst durch die Werbung. Diese Entwicklung erfordert von den Künstlern eine immer präzisere Definition ihrer eigenen Arbeiten im jeweiligen Kontext. Dabei haben sich die Schwergewichte in den Intentionen der Künstler – auch der Radiokünstler – in den letzten Jahren verschoben: Hoffnungen auf Veränderungen des Bewußtseins oder gar der (politischen) Umstände durch die Kunst sind längst dahin: Die Kunst definiert nicht nur die Medien, in denen sie stattfindet oder deren Bild sie sichtbar macht – sie definiert vor allem sich selbst und ihren möglichen Ort.

Battaglia di Ritmi: una lentezza prudente e paziente espressa con un tac … tac … tac … di goccia d'acqua prima tagliata e poi uccisa da una elasticità volante e arpeggiante di note sul pianoforte prima tagliata e poi uccisa da una scampanellata di campanello elettrico prima tagliata e poi uccisa da un silenzio di tre minuti tagliato prima e poi ucciso da un affammo di chiave in serratura ta-trum-trac – seguito da un silenzio di un minuto.(11)

Im vierten seiner Sintesi führt Marinetti also als "Schlacht der Rhythmen" eine fortschreitende Überlagerung und gegenseitige Ablösung genau beschriebener Töne, Geräusche und Schweigen vor.

"Need To Know" nannte Lawrence Weiner ein Mitte der 80er Jahre in New York gesendetes, 90 Minuten langes "experimentelles Radiotheater", in dem Sprache und Musik als Material verwendet werden und sich in immer neuen Überlagerungen als Skulptur in der Zeit und im Raum unserer Erinnerungen an Gegenstände, Melodien, Stimmungen, Bedeutungen erstrecken …

… ein Barnett Newman ist ein großartiges Bild, weil man sich – wenn man es einmal gesehen hat nicht mehr daran zu erinnern braucht, ob es drei oder vier Meter lang ist … man erinnert sich an eine bestimmte Menge von Rot und eine bestimmte Menge von Gelb, und die Idee ist präsent … Dasselbe gilt für Pollock … die großen Maler aller Zeiten geben uns etwas, das das Objekt Bild selbst überflüssig macht, nachdem man es einmal gesehen hat … meine Verwendung von Sprache als Material in der Kunst bedeutet, daß man den von ihr bezeichneten Gegenstand immer sieht … denn jeder weiß, wie die Gegenstände aussehen, wie sie sich anfühlen: Meine Arbeit besteht aus Sprache und dem Material, auf das sie sich bezieht … Musik ist Material, Sound ist Material, die meisten Leute, zumindest in den Museen, erkennen heute Sound oder Licht als Material für Skulpturen an, aber sie weigern sich immer noch, Sprache als Material von Skulpturen anzuerkennen … Ich liebe Radio – warum die Kunst nicht hören und damit gleichzeitig sehen?
(Lawrence Weiner) (16)

La Costruzione di un Silenzio: A = Costruire un muro di sinistra con un rollo di tamburo (_ minuto). B = costruire un muro di destra con un trombetto – vocio – stridio automobilistico tramviario di capitale (1/2 minuto). C = costruire un pavimento con un borbottio di acqua in tubi (1/2 minuto). D = costruire un soffitto terrazza con cip-cip-cip di passeri e rondini (20 sec.) (11)

"Fünf kleine Pyramiden" baute/konstruierte der Bildhauer Gottfried Bechtold 1985 fürs Radio: Der Titel beschreibt die strenge Form der Arbeit. Je vier Tonelemente bilden die Grundfläche jeder Pyramide, vermischen sich und streben der Spitze zu: der Stille. Die fünfte Pyramide besteht aus den Elementen der vier vorhergehenden. "Im geometrischen Punkt der Spitze sind alle Punkte enthalten und stehen in Beziehung zueinander. An der Spitze wird die Stille erreicht, der Übergang, an dem das Kunstwerk im Kopf des Hörers sein müßte, der Punkt, an dem es aus dem Ereignishaften übergegangen ist in die Erinnerung des Hörers. Erst dann existiert das Kunstwerk, die Pyramide, die verlassen worden ist …"(17)

Bechtold verwendete Naturgeräusche wie Wind, Wasser oder Grillen, Geräusche von Verkehrsmitteln – Eisenbahn, Flugzeug und Ausschnitte aus historischen Aufnahmen politischer Reden in verschiedenen Sprachen sowie einzelne Klaviertöne.

"Als Bildhauer kann ich die Dimension des Sichtbaren abschneiden und die Dimension des Hörbaren einführen, wobei meine Arbeiten immer sehr räumlich sind. Es sind Ton-Skulpturen."(17)
RADIO ALS MATERIAL
La radia sarà
Utilizzazione delle interfèrenze tra stazioni e del sorgere e della evanescenza dei suoni.(18)

Einige Jahre lang habe ich immer wieder Kurzwellenradio-Konversationen gemacht. Man kann auf einem Kurzwellenradio richtig spielen, so viel passiert da fortwährend: nicht nur, wenn man eine Station erwischt – Moskau z.B. –, sondern auch zwischen den Stationen. Da gibt es Satellitengeräusche, den Schiffsfunkverkehr und viele andere seltsame Geräusche. Es ist fast wie ein Synthesizer. Ich habe also zwei, drei Arbeiten mit Kurzwellenradio gemacht, die erste, glaube ich, 1969: Ich verwendete Radio für das Radio … Radio ist ein Instrument …
(Michael Snow) (19)

1952 stellte John Cage in einem Konzertsaal 12 Radioapparate auf und ließ sie als Instrumente spielen. Diese "Imaginary Landscape" ist immer dabei, wenn Künstler "die Interferenzen zwischen den Stationen, das Anschwellen und Verklingen der Töne" als Material verwenden, auch wenn sich eine spiegelbildliche Verdoppelung einstellt, sobald das Instrument Radio fürs bzw. im Radio konzertiert.

Ed Tomney arbeitet z.B. an einem "work in progress", für das er Aufnahmen von Radiosendungen der verschiedensten Art – einschließlich CB radio, Amateurfunk, Kurzwelle usw. – zu "Erzählungen" gruppiert und z.B. weibliche Stimmen und männliche Stimmen in Blöcken anordnet, denen verschiedene Orte im Stereoraum zugeteilt werden.(20)

Ausdrücklich auf Cage bezieht sich Nicholas Collins in seiner "Real Landsape", die aus Radiofragmenten besteht, die an den verschiedenen Orten aufgenommen wurden, an denen Collins seine Performances und Konzerte gibt. In seiner neuen Arbeit "The Spark Heard Round the World" (1988) für die Serie "New American Radio" hat Collins Material aus dem breiten Spektrum der vom Menschen erzeugten und der natürlich ablaufenden elektromagnetischen Übertragungen innerhalb des Radiospektrums in Europa, den Vereinigten Staaten und Südamerika aufgenommen und das vielsprachige Material mit einem Hintergrund von Interferenzen gemischt, deren Auftreten gewöhnlich von den Toningenieuren im Radio auf das heftigste bekämpft wird.

Konrad Becker kombiniert seine "Weltempfänger" als Instrumente in einer Installation nicht nur mit dem Tropfen eines Wasserhahns, sondern auch mit der spiegelbildlichen Live-Radio-Sendung der entstehenden Komposition.
RADIO ÜBER RADIO
La radia sarà
Un Arte nuova che comincia dove cessano il teatro il cinematografo e la narrazione.(18)

Filippo Tommaso Marinetti forderte in seinem futuristischen Manifest über das Radio also bereits eine Radiokunst, deren Inhalt nicht die "prä-existenten Medien" wären, die nach McLuhan regelmäßig zum Inhalt neuer Medien werden.

In vielfältiger Weise werden die vielen verschiedenen Arten von Radiosendungen zu Inhalt und Form von Radiokunst. David Troostwyck plazierte einen Werbespot für Kunst in einem kommerziellen Sender. Bill Furlong und Maricio Nanucci verwendeten Straßenbefragungen auf ganz unterschiedliche Art, Bill Johnson bearbeitete ein Radio-Interview, das Bruce McLean zur Zeit der Hochblüte der Neuen Malerei gegeben hatte (Everybody's Doing It) …

Der Kanadier Ian Murray setzte 1970 die ersten 10 Sekunden der "Hundert Number-One-Radio-Hits" der vergangenen 10 Jahre zusammen, nachdem ihm von Radioproducern und Disc-Jockeys immer wieder bedeutet worden war, daß es die ersten 10 Sekunden seien, die darüber entschieden, ob eine Aufnahme zum Hit wird oder nicht. "Ich betrachte diese Arbeit als einen skulpturalen Akt. Das Material wird geschnitten und auf eine ganz andere Art wieder zusammengesetzt als reguläre Radioprogramme: nach einem beliebig ausgewählten Raster, der über das breite Spektrum von Material gelegt wird und nichts mit dem Inhalt der Musik oder mit dem, was vorher oder nachher kommt, zu tun hat … "(21)

Ian Murray betrachtet seine Arbeit mit TV und Radio ausdrücklich als Teil seiner Tätigkeit als bildender Künstler und zählt sie der sog. "Kunst im öffentlichen Raum" zu. Er hat sich mit sehr vielen Aspekten der Ausweitung der Arbeit bildender Künstler in die Neuen Medien beschäftigt, auch mit den finanziellen und rechtlichen Veränderungen, die sich aus einem Wechsel von Pinsel und Leinwand zu elektronischen Medien hin ergeben, in denen es kein Unikat, kein Original, ja oft keine klare Autorenschaft mehr gibt. "… Musiker und Literaten können Radio zur Verbreitung dessen verwenden, was sie ohnehin immer produzieren. Was mich an der Arbeit bildender Künstler interessiert, ist, daß es ihnen nicht so sehr darauf ankommt, eine vorgeformte Information an möglichst viele Leute heranzutragen, sondern vielmehr auf die formale Innovation, die daraus resultiert, das Medium selbst zum Gegenstand der Arbeit zu machen …"(21)

In einer exemplarischen Serie "Towards A Northern Service" (1976–78) beschäftigte sich Ian Murray mit der Einführung einer eigenen Radiostation für die Inuit im Norden Kanadas: In der – sehr wahrscheinlichen – Annahme, daß auch diese Station die Muster populärer nordamerikanischer Sendeformen übernehmen würde, die längst die mögliche Vielfalt der vielen Tausenden von Radiostationen in Nordamerika zunichte gemacht hat, nahm sich Murray die alltäglichsten und beliebtesten Shows – wie die "Tierecke", das "Reisemagazin", den Wetterbericht oder die Hitparade – vor und füllte sie mit Inhalten aus dem Leben der Inuit: In der Tierecke erinnerte sich ein junger Mann daran, wie in seiner Jugend die kanadische berittene Polizei sämtliche Schlittenhunde umbrachte, als die Eltern versuchten, ihre Kinder aus der Schule wegzubringen. Im Reisemagazin gab es zunächst die Geschichte eines Jugendlichen, der in der Großstadt Toronto Drogen, Alkohol und Huren kennenlernt, und dann die Geschichte einer jungen Frau, die mit schwerer Tuberkulose in ein weit entferntes Sanatorium gebracht wird. Beide Geschichten handelten also von Menschen, die die Arktis zum ersten Mal in ihrem Leben verlassen …

"Talking to a Loudspeaker" nennt Dan Lander seine Arbeit in der Serie "New American Radio", 1989, eine Arbeit, in der er sich in kurzen sketchartigen Szenen mit verschiedenen Radioformen wie der Hörerkontaktsendung, mit der "Ausgewogenheit" von Nachrichtensendungen, mit der "sendereifen technischen Qualität" von Radiomaterial auseinandersetzt – und zwar nicht ohne einen Anflug von distanziertem Humor …

Der Österreicher Helmut Mark verwendete 1988 Archivmaterial von Informationssendungen des Österreichischen Rundfunks über den Attentatsversuch auf Ronald Reagan zu einer Arbeit mit dem Titel "Coca Cola". Vorgefundenes Material wurde hier neu montiert und mit verschiedenen "Rahmen" versehen: einmal dem Rahmen der Sendung "Kunstradio – Radiokunst", dann einem unmittelbaren Rahmen, der aus Material zu einem Coca-Cola-Werbespot bestand – ohne Nennung des Namens –, der wurde dafür zum Titel der Arbeit und als solcher erwähnt (Werbung ist im Programm Österreich 1 nicht gestattet). Viele Hörer glaubten an ein neuerliches Attentat, obwohl bei genauerem Hören ganz deutlich wahrzunehmen war, daß es sich um Ausschnitte aus verschiedenen Sendungen mit verschiedenen Moderatoren handelte. Das in der Sendung Kunstradio übliche einleitende Interview mit dem Autor verweigerte Mark und ersetzte es durch ein fiktives Interview, in dem der Künstler selbst die Fragen stellte. Die von einem Radiosprecher gelesenen Antworten waren samt und sonders Zitate …: Eine zunächst einfach wirkende Arbeit enthüllte eine Fülle von Bedeutungs- und Assoziationsebenen – zur Geschichte der Radiokunst (vom Readymade bis zu Orson Welles), über die Auseinandersetzung mit verschiedenen Sendungsformen, den potentiell fiktionalen Charakter, die Rezeptionsweisen des Mediums bis hin zur Appropriationskunst unserer Tage.
LA RADIO ABOLISCE
  1. lo spazio o scena necessaria nel teatro compreso il teatro sintetico futurista e nel cinema.

  2. il tempo

  3. l'unità d'azione

  4. il personaggio teatrale

  5. il pubblico inteso come massa giudice autoeletto sistematicamente ostile e servile sempre misoneista sempre retrogrado(18)
Nur selten haben Künstler Gelegenheit, langfristige Live-Projekte zu realisieren. Am ehesten ist das in den erwähnten Universitätssendern und manchmal in Stationen möglich, die von Spenden und Mitgliedsbeiträgen solcher Hörer finanziert werden, die sich u.a. für neue Musik, Kunst, Literatur interessieren. Eine solche Station ist Radio CFRO in Vancouver, eine Kooperative, die sowohl ethnische wie auch politische und kulturelle Minderheiten bedient. 1976 hatte bei CFRO, Vancouver, die "H.P.Show" Premiere, eine Sendung von Hank Bull und Patrick Ready: 90 Minuten lang, wöchentlich, live hielt sie sich jahrelang mit großem Erfolg. Hank Bull und Patrick Ready hatten vorher unter Einbeziehung des Publikums Performances gemacht, deren Inhalt die nostalgisch-altmodische Produktion von Hörspielen mit Hilfe von einfachen Soundeffekten war. Die Nostalgie für die frühen und populären Formen des (nordamerikanischen) Radios durchzog auch die vielen Ausgaben der H.P.Show.

Wir begannen die H.P.Show mit der ausdrücklichen Absicht, Radiokunst zu machen. Mit der Absicht, in eine gegebene gesellschaftliche Institution einzudringen, in diesem Fall die Institution Radio, und diese Institution zum Ort von Kunst zu machen … Unsere Vorstellung war, daß es sich dabei um eine Kunst handelt, die nicht durch den Kunstbetrieb hindurch muß, sondern direkt von den Künstlern, den Produzenten, zu den Hörern gelangt.

Bei der Radiokunst gibt es natürlich einen gesellschaftlichen Aspekt. Es handelt sich um Kunst im öffentlichen Raum, um Kunst für alle … in der H.P.Show wurde das Wort Kunst nie erwähnt, selbst dann, wenn ein Künstler interviewt wurde. Kunst wurde verkleidet oder in etwas anderes umgesetzt. Es war der Versuch, zu einer neuen Ausdrucksform, einer neuen Kommunikationsform, vorzudringen, die über Kunst im Sinne des Kunstbetriebes hinausreicht …

Radiokunst, das bedeutete den Gebrauch von Soundeffekten, von Telefon, von Hörspielformen, von Musik, das Improvisieren im Studio, das Interviewen von Gästen, die Entwicklung von Science-fiction-Serien, Live-Aktionen usw. usf. Wir sahen uns nicht als Disc-Jockeys und unsere Sendung nicht als eine Sendung über Kunst. Die H.P.Show war selber Kunst"(22)

Die "H.P.Show" (sie wurde schließlich von den Künstlern selbst Mitte der 80er Jahre eingestellt) betrachtete also den einen Schwerpunkt des Radios in unserer Gesellschaft – die Unterhaltung und ihre vielen verschiedenen Formen – als Material und war dabei so erfolgreich, daß ihre jeweils live in Fortsetzungen gespielte Science-fiction-Serie "Captain Bonnard, Captain Lafargue and Caroline in Space" (Captain Bonnard wurde von Hank Bull gespielt, der dabei die Stimme von William Burroughs imitierte) schließlich von amerikanischen Fernsehleuten bei einem Urlaub in Vancouver entdeckt und für die TV-Serie "The Muppets" in "Pigs in Space" umgewandelt wurde. (Ein klassisches Beispiel für McLuhans, uns hier des öfteren beschäftigende These, daß das "prä-existierende" Medium zum Inhalt des jüngeren Mediums wird: Radio als Inhalt von TV.)

Wir haben die H.P.Show von Anfang an als bildende Kunst betrachtet, und ich halte Radio immer noch für bildende Kunst. Ich komme aus dieser Tradition und gehöre dorthin, selbst unsere Subventionsansuchen gingen an die Behörde für bildende Kunst …(22)

Tatsächlich wurde die "H.P.Show" auch von der kanadischen Kunstförderungsbehörde subventioniert, genauso wie die "New Sounds Gallery", eine Sendung, die G. X. Jupitter-Larsen spät nachts mit offenem Ende bei Radio CRFO Vancouver ausstrahlte. (Der hohe Anteil an Kanadiern an der Radiokunst im besonderen und der Medienkunst im allgemeinen hat mit der Medien- und Kunstpolitik des Landes zu tun, aber auch mit Leitfiguren wie Glenn Gould, Marshall McLuhan oder Murray Schafer.) Larsen beschäftigt sich auch in seinen Performances und Texten mit Re-Information. Dabei geht es darum, Bekanntem eine neue Bedeutung zu geben, etwas Neues mit einer bekannten Bedeutung zu versehen, kurz: den Dingen eine Bedeutung zu geben, die sie normalerweise nicht haben.

Ich behandle Information als Rohmaterial. Und forme sie so um, daß sie etwas anderes bedeutet oder als etwas anderes als das erscheint, was sie ursprünglich war … man kann Information zur Skulptur verarbeiten, man kann sie neu arrangieren, man kann sie schmelzen, brennen, etwas ganz Neues aus ihr gestalten. Information hat nicht nur mit der Vermehrung von Wissen zu tun, sondern stellt die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit dar daß etwas auch etwas ganz anderes sein kann.(23)

Für Jupitter-Larsens Sendung hieß das, daß die Hörer nie so genau wußten, was sie erwartete und für wie lange. Ein Beispiel für eine Sendung, das mit Re-Information zu tun hat:

Vor einiger Zeit brach der Sender unserer Station zusammen. Wenn man sein Radio auf unsere Station einstellte, hörte man nur zufälliges Krachen. Ich ging trotzdem ins Studio. Dort nahm ich diese Zufallsgeräusche, diese Zufallsstatik auf, die statt meiner Sendung im Äther herumspukten. In der Woche darauf, als der Sender wieder repariert war, begann ich meine Sendung mit folgender Ansage: Falls Sie die Ausgabe der letzten Woche versäumt haben, machen Sie sich nichts daraus. Es gab keine, denn der Sender war zusammengebrochen. Für alle, die das versäumt haben, hier noch einmal das, was letzte Woche geschah. Und darauf folgte die stundenlange Aufzeichnung der Zufallsstatik …

Das eigentlich interessante Potential der künstlerischen Auseinandersetzung liegt darin, daß man die Sendung selbst als eigenes Medium behandeln kann. Ich nehme Sendungen deshalb in der Regel auch nicht auf, denn dadurch werden sie ja zu Kassetten oder Schallplatten.

Mir gefällt die Vorstellung, daß Radiokunst sozusagen durch den Kosmos schwebt – auf ihrem Weg zum Orion, oder wo immer sie gerade hinzischt …

Was Jupitter-Larsen als "Re-Information" bezeichnet, ist für die österreichisch-schweizerische Medienkünstlergruppierung RADIO SUBCOM (Armin Medosch, Oil Blo u.a.) "Klischeeverarbeitung".

Die Klänge, die aus dem Radio kommen, sind klischiert, ihre Signifikanz ist an erlernte Hörgewohnheiten gebunden. RADIO SUBCOM greift diese Klischees auf, verändert sie mit tontechnischen Mitteln und verschiebt sie im Kontext, so daß sie eine von der ursprünglichen Absicht völlig unabhängige Bedeutung erlangen. Das Radio wird zur Recycling-Anlage gegen mediale Umweltverschmutzung …(3)

RADIO SUBCOM darf zum Unterschied von Jupitter-Larsen nicht senden. Es hat sein Studio in einem alten Bus, der durch Europa nomadisiert … Das Studio ist selbst eine Collage – aus verschiedensten Geräten und Geräteteilen, montiert von Oil Blo.

Kreative Tontechnik ist ein weiterer wesentlicher Bestandteil der von RADIO SUBCOM vertretenen neuen RADIOÄSTHETIK. Oil Blo verwendet eine Mischung aus neuester digitaler Audio-Technologie und Geräten aus der Steinzeit der Radiotechnik …
Radiokunst ist keine besondere Sparte im konventionellen Radio, sondern die Kunst des Radiomachens selbst.(3)

"Dramma di Distanze" (aus den "5 Sintesi dal Teatro Radiofonico" di F.T. Marinetti): 11 sec di una marcia militare a Roma – 11 sec di un tango danzato a Santos – 11 sec di musica giapponese religiosa suonata a Tokio – 11 sec di ballo campestre vivace nella campagna di Varese – 11 sec di un incontro di pugilato a New York – 11 sec di rumorismo stradale in Milano – 11 sec di romanza napoletana cantata nell albergo Copacabana di Rio de Janeiro.(11)

Dieses "Drama der Distanzen" enthält ein Telekommunikationsmodell, das in seinem antihierarchischen Aufbau die Konventionen des Mediums Radio, wie wir