Radio als Kunst
"Zeit ist der Gedanke in Bewegung" - Larry Dubin
'Hank Bull
Hank Bull
Radio ist unsichtbare Skulptur. Radio kommt aus dem Dschungel. Radio entsteht aus sprechenden Trommeln, Kirchenglocken, Hörnern, Vögeln und Stimmen. Radio gehört zum Raumfahrtzeitalter. Radio ist schüchtern, jemand der in dein Ohr flüstert. Radio ist ein Massenmedium, holt die Leute von der Straße und isoliert sie in ihren Häusern. Radio ist kapitalistischer Terrorismus. Radio zersetzt den Staat. Es gibt weder Modernismus noch Postmodernismus. Radio ist Teil der elektronischen Revolution.
Die elektronische Revolution, da ist ein Telephon im Auto und ein Anruf ins Büro, während man zum Flughafen fährt. Und telephonieren kann man jetzt auch schon vom Flugzeug aus. Jedermann ist eine Radiostation im Gespräch mit einer anderen Radiostation. Alle kaufen und verkaufen wie verrückt. Das ist reines Radio. Das Wort "Radio" ist letztlich eine Kurzform von Radiotelegraphie. Dies ist Radio als Privatsache, als Interaktion zwischen Individuen, als Konversation. Es gibt einen Unterschied zwischen dieser Form von Radiokommunikation und dem staatlichen oder kommerziellen Radio, das zu einer Massenzuhörerschaft sendet. Man kann sich nicht mit Radio Simbabwe unterhalten. Es spricht. Du hörst zu. Der Zuhörer darf nicht antworten. Die Massenmedien kommunizieren nicht, sie entfremden.
Mit McLuhans Worten: "Marx hat das Medienboot verpaßt."
Die traditionelle marxistische Theorie sah Zeitungen, Radio und alle Massenmedien nur als eine spezielle Form von Produktionsmitteln an. Man mußte nur einfach die Kontrolle über den Radiosender erlangen, bevor man den Palast stürmte. Dann zeigte Bert Brecht auf, daß es egal ist, wer das Radio in der Hand hat – solange es dem Hörer die eigene Stimme verweigert, solange steht der Palast. Die Medien haben die ungute Eigenschaft, alle Versuche einer Veränderung der Gesellschaft zu absorbieren und zu neutralisieren. Das Ergebnis ist, daß heute jedermann über Fax oder Telephon kommuniziert und keiner sich Gedanken über Veränderung macht. Wer die Medien beherrscht, ist egal. Der Palast bleibt nur deswegen mit Mühe im öffentlichen Bewußtsein, weil er regelmäßig saftige Skandalberichte über sich selbst aussendet. Diese frenetischen Geständnisse sind auch nur Eigenwerbung. "Wir müssen den Schein wahren." Der Palast hat die Herrschaft über die Massenmedien und die Wirtschaft verloren. Der Geist der Produktion spukt in den Kasinos der Geschäftswelt. Die Gesellschaft wird in unvorhersehbarer Weise verändert, während sie sich abmüht, sich der neuen Technologie anzupassen. Die Künstler kommen an wie der Reparaturdienst, Werkzeugkiste in der Hand, bereit, ihr eigenes subversives Spielchen zu starten.DER FLUCH DES ECHOS Bevor Edison den Plattenspieler erfand, war die einzige Möglichkeit, die menschliche Stimme zu reproduzieren, das Echo. Der Ursprung des Echos liegt im dunkeln, aber die Mythologie besteht darauf, daß Echo eine lebenslustige Nymphe war, die sich den Zorn Heras zuzog, weil sie mit ihrer Affäre mit Zeus anzugeben beliebte. Hera verdammte sie dazu, niemals als erste sprechen zu können und auch nur jene Worte nachzusprechen, die ihr vorgesagt werden. Sie ist die akustische Begleiterin des Narziß, der von seinem eigenen Spiegelbild so eingenommen war. Reflektierte Vision, reflektierte Stimme. Eine traurige Mär von der Entfremdung. Die Nymphe liebte Narziß, aber der war nicht interessiert. Sie siechte dahin. Ihre Knochen wurden zu Stein, aber ihre Stimme kann noch immer gehört werden, wie sie in Tälern und Grotten dahinklingt.
Jahrhundertelang träumten die Menschen davon, die Stimme einzufangen und sie in eine Schachtel zu stecken. Die Italiener hatten im 16. Jahrhundert eine Echomaschine. Sie bestand aus einer Serie von Wänden in einigem Abstand voneinander aufgestellt. Man stand vor der ersten und sprach ein Wort, etwa "Clamore" (Lärm). Die erste Wand warf dann als Echo "Amore" zurück, die zweite "More" (Sitten), die dritte "Ore" (Stunden) und die vierte "Re" (König). Aus einem Wort war ein ganzer Satz geworden: "Clamore amore more ore re." Das war der erste – erfolglose – Versuch der Erfindung des Plattenspielers.
Heute, dank Edison und allen anderen, werden wir von technologischen Echos aller Art umgeben – Radio, Film, Fernsehen, Tonbandgeräten, CDs – und die Liste wächst. Aber nur weil wir endlich die Stimme in die Kiste gesteckt haben, haben wir die Kommunikation auch nicht einfacher gemacht. In gewissem Sinne leben wir unter dem Fluch des Echos. Denn was ist die Postmoderne anderes als ein Echo vergangener Zeiten? Es ist behauptet worden, daß die moderne Philosophie nur eine Kritik der Vergangenheit ist. Die Massenmedien existieren als Film, der uns von der Realität trennt. Wir beobachten hilflos, wie die Welt brennt, und sind unfähig, eine wirklich authentische Aktion zu starten. Der einzige Weg aus dieser Sackgasse führt durch sie hindurch. Wir müssen die Wahrnehmung aktivieren.DIE WAHRNEHMUNG AM WERK Radio ist eine kinästhetische Kunst. Radio ist Bewegung. Zum Radio kann man tanzen. Man kann Radio hören und gleichzeitig autofahren. Radio beweist, daß es mehr als fünf Sinne gibt. Es gibt überhaupt viele Sinne.
Das Ohr kann zum Beispiel viel mehr als nur zuhören. Der nervus vestibularis, der das Ohr mit dem Gehirn verbindet, überträgt auch Informationen von jenen halbkreisförmigen Kanälen, die die Geschwindigkeit und Richtung der Bewegung registrieren, und von Nerven aus dem ganzen Körper, die uns über das Gleichgewicht und die Beziehung aller Glieder und Organe zueinander informieren. Diese Sinne werden unter dem Begriff der "Propriozeption", der Eigen-Wahmehmung, zusammengefaßt. Die erste Sinneswahrnehmung, die wir zum Überleben brauchen, während wir noch im Mutterleib sind, ist dieser Bewegungssinn, das Gefühl der Schwerkraft. Die Aktion selbst ist Sinneswahmehmung. Wenn man dies umdreht, so öffnet sich der Weg zu einem Verständnis aller Sinne, nicht als passive Empfänger von Information, sondem als aktive Mitwirkende. Perzeption ist Aktion. Das Ziel des Radios ist es, den Hörer zu aktivieren.PROPAGANDA Radio zu machen ist billig. Jedermann kann einen Sender aufbauen. Im Radio zu sprechen gibt einem ein gewisses Gefühl. Wenn man das Radiogefühl hat, kann man nachhallen. Leute können dazukommen und ebenfalls dieses Resonanzgefühl empfinden. Die Radiokünstler setzen den Hörer in den Sessel des Rundfunkmachers, sie senden von unter dem Wasser, sie verbinden die Sendung mit dem Taxifunk-System, sie lassen das Mikrophon unbeaufsichtigt stehen, sie verbinden zwei oder drei Radiostationen gleichzeitig miteinander, sie verwenden die Radioresonanz, um damit gebrochene Knochen zu heilen.
Obwohl Künstler seit jeher im Radio aufgetreten sind, um über ihr Werk zu sprechen, ihre Musik zu spielen, Gedichte zu lesen und so fort, so haben sie doch erst in den letzten zwanzig Jahren begonnen, Werke ausdrücklich für Radiosendungen zu schreiben, und diese Bewegung ist erst in den achtziger Jahren so richtig in Schwung gekommen. Radiokünstler haben die traditionellen Formen – Hörspiele, Dokumentationen, Parodien – ebenso eingesetzt wie neue Strukturen, die den Zuhörer als Aufführenden einbinden, Umweltereignisse über Radio choreographieren, haben Piratensender aufgebaut und unabhängige Netzwerke errichtet.
Massenmedien-Aufführungen – Nachrichtensprecher im Radio, Filmstars, Fernsehstars, Musiker auf Platte – sind die dominante Form kulturellen Ausdrucks in diesem Jahrhundert. Es ist nur natürlich, wenn sich Künstler dieser neuen Medien bedienen. Und so sind tatsächlich viele junge Künstler mehr von Hollywood beeinflußt als von der Geschichte der Malerei. Die Ausstrahlung einer eigenen Sendung im Radio ist häufig ein Weg, der Kunstwelt überhaupt aus dem Wege zu gehen und direkt mit einem wesentlich größeren Publikum in Kontakt zu treten.
Radiokunst kann vom Wert her nicht gemessen werden. Radiokunst hat einen kulturellen Wert, aber keinen Marktwert. Und dennoch, die Radiokunst steht für das Heraufdämmern einer Ökonomie der Ideen. Kunst ist nicht mehr wertvoll und exklusiv. Die Kunst, für die die Leute so viel zahlen, ist wertlos geworden. Sie wird ihren Wert nicht halten, jedenfalls nicht so wie früher. In zukünftigen Krisenzeiten werden die Leute nicht mehr Kunst kaufen, sie werden Radio hören.
Radio ist spontan. Radio ist frei. Radio hört niemals auf. Die Erdatmosphäre erzeugt ihre eigenen Radiosignale. Radio geht jederzeit ganz durch ihren Körper.RADIOVISION Radio ist unser Fenster ins Universum. Denken Sie nur an das Radioteleskop. Welche Art von Geräusch macht es? Könnten wir ein Radioteleskop über den Äther aussenden? Ja. Wir können die Klänge eines Radioteleskops präsentieren. Ein Radioteleskop ist ein Radio zum Sehen. Es ist ein Radio in der Form eines Teleskops. Radio ist visuelle Kunst. Wie in der konzeptuellen Kunst hängt seine Vitalität vom Bild im Kopf des Betrachters ab. Radiokunst – ein junges Medium von großer emotionaler Stärke – bewohnt diesen Nexus der Sinne. Ihre wahre Natur, die wir erst zu definieren beginnen, wird klarlegen, daß die Perzeption eine aktive Kraft ist. Doch ihre Existenz hat die Perzeption bereits verändert.
Radiokunst ist nicht Tanz. Radiokunst ist nicht Musik. Radiokunst ist nicht Dichtung. Radiokunst ist ein Meta-Medium, sie trägt andere Medien. Radiokunst ist immer Zusammenarbeit. Rrrrrrrrrrrrrrrrradio Librrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrre Radio ist wie ein Wasserhahn: Man kann es auf- und abdrehen. Wenn man es abdreht, so folgt immer ein Augenblick der Stille. Radio ist Resonanz. Radio ist eine Form von Magie. Radio ist Telepathie. Radio ist eine Sirene. Radio ist flüchtig. Radio ist subliminal. Radio ist eine Halluzination. Live-Radio ist am besten. Reine Radiokunst ist live und interaktiv.
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