www.aec.at  
Ars Electronica 1989
Festival-Programm 1989
Back to:
Festival 1979-2007
 

 

Lauschendes Radio – Radiolauschen


'Hildegard Westerkamp Hildegard Westerkamp

Angenommen, unsere Ohren sind so frisch wie die eines kleinen Kindes. Wir würden alle Klänge hören, würden sie bemerken und würden durchs Hinhorchen lernen, was sie bedeuten. Sobald wir sprechen könnten, würden wir "neu-gierig" fragen: "Was ist das? – Wieso klingt das so? – Warum hat es ein Echo? – Wer/Was macht das Geräusch?" Wir würden unsere Ohren zuhalten, wenn es laut ist, und würden mitsingen oder Klänge imitieren, wenn sie uns Spaß machten. Wir würden weinen, wenn uns eine Stimme Angst macht. Wir würden lachen, wenn wir uns geborgen fühlten und aus dieser Geborgenheit überraschende, neue Klänge hörten.

KLANG IST INFORMATION
Und Kinder haben immer – es sei denn sie werden davon sehr früh abgehalten – den Wunsch, diese Information zu erforschen, sich an Klängen zu orientieren. Wieviele Erwachsene der westlichen Welt haben diesen Wunsch aufrechterhalten können, diese "Klang-Neu-Gier"? Das sogenannte Erwachsenwerden hat meistens Abstumpfung unserer "Neu-Gier" zur Folge und somit Abstumpfung unserer Ohren. Wie oft horchen wir bewußt auf den Verkehr (haben Sie sich heute schon den Verkehr auf Ihrer Straße angehört? Wie unterscheidet er sich vom Verkehr im Ortszentrum oder auf der Landstraße?), auf Hintergrundmusik (wo hört man sie?), auf Vogelgesang (kennen Sie die Namen der Vögel, die Sie heute gehört haben? Welche Vögel singen wann und wo?), auf Glocken (wieviele Glocken hören Sie samstags um sechs Uhr abends), auf den Wind (im Gras, in den Bäumen, um Hausecken), auf den Rhythmus und Klang unserer Schritte, auf die Stimmen anderer Menschen, auf den Industrielärm, die Bauarbeiten, die Kinderstimmen? Wer, unter uns "Erwachsenen", singt noch oder imitiert alltägliche Laute? Wer äußert noch Wünsche nach Klängen oder wehrt sich gegen den Lärm? Wer stellt bewußt Fragen über die Qualität unserer Klangumwelt?

Wann haben wir jemals den tiefen Wunsch zu horchen?
RADIOLAUSCHEN
Radio kann den Wunsch zu horchen wieder in uns erwecken. Fortschrittliches Radio "macht nicht mit" ("nicht mitmachen" im Sinne von Adorno): das heißt, daß der Status quo des Ohrenabstumpfens nicht folgt. Im Gegenteil, es ist Radio zum Aufhorchen. "Nicht mitmachen" im Radio heißt, alle die Klänge und Stimmen zu senden, die man gewöhnlich nicht hört. Was im täglichen Leben unserer Gesellschaft nicht gehört wird, wird auch meistens auf keiner Radiostation gehört, ob es Kinderstimmen, Fremdsprachen oder Verkehrslärm sind.

"Mitmachen" heißt, wenn eine Radiostation zum Beispiel Musik zum Nichtanhören sendet, so wie es die Muzak Corporation in vielen Ländern der Welt oder die "Easy Listening"-Radiostationen in Nordamerika tun. "Mitmachen" heißt, etwas zu senden, das von der täglichen Welt ablenkt, entfremdet, verführt, isoliert; das uns in eine gemütliche Phantasiewelt versetzt, in der scheinbar alles in Ordnung ist; das uns zum Schneller-Arbeiten und Mehr-Kaufen verführt, ohne daß wir es merken. Mitmachen heißt auch, solch eine Radioklangwelt ohne Protest zu akzeptieren.

Fortschrittliche Radiozuhörer machen nicht mit. Im Gegenteil, sie hören sich gerade das, was nicht angehört werden soll, ganz genau an.

Fortschrittliche Radiomacher senden uns Klangwellen, die den traditionellen Radiorhythmen nicht entsprechen und die die Radiozeit anders einteilen. Eine Radiokomposition aus Umweltklängen läßt das Ohr aufhorchen. Rohe, unveränderte Umweltklänge, obwohl im täglichen Leben hauptsächlich ignoriert, veranlassen uns meistens auch zum Lauschen, wenn sie im Radio gesendet werden. Sie überraschen, weil es ungewohnte Radioklänge sind. Und doch sind sie den Zuhörern bekannt: Das, was täglich unbewußt mit den Ohren aufgenommen wird, wird plötzlich erkannt und – aus dem sozialkulturellen Zusammenhang herausgerissen – mit Aufmerksamkeit angehört.
LAUSCHENDES RADIO: "SOUNDWALKING" (EIN BEISPIEL)
"Soundwalking" war ein einstündiges Programm auf "Vancouver Cooperative Radio", das den Zuhörer jede Woche einmal in die akustische Umwelt von Vancouver und Umgebung führte. Zum Beispiel ging ich mit dem Tonbandgerät und Mikrophon auf die Berge in die stille Schneelandschaft, wo meine Schritte, meine Stimme und der vonBäumen fallende Schnee die lautesten Klänge waren. Oder ich führte Zuhörer durch eine Shopping Mall, in einen Park, auf Spielplätze, in eine Fabrik, an den Strand, zum Zoo, unter die Einflugschneise in der Nähe des Flughafens oder ganz einfach durch die Straßen Vancouvers.

"Soundwalking" führte neue Zuhörer durch bekannte Klangumwelten. Die reine Tatsache, daß sie im Radio gesendet wurden, gab diesen Klängen neue Bedeutung. Sie wurden vielleicht zum erstenmal richtig angehört, und zwar gerade weil sie aus dem Zusammenhang des täglichen Lebens gerissen worden waren. Das Radio hat die Klangumwelt auf diese Weise als akustisches/musikalisches Ereignis aus dem gewohnten, "normalen" Alltagsleben herausgehoben. Es lauschte in die Umwelt und lud damit Zuhörer zum aktiven Lauschen ein. Der Wunsch mitzuhorchen ist dadurch geweckt worden.

Meine Stimme hat "live" vom Ort der Aufnahmen zu der Zuhörerschaft gesprochen. Manchmal habe ich die Umgebung, das Wetter oder die Situation etwas beschrieben, manchmal habe ich auch Informationen über oder Kommentare zu den Klängen gegeben oder auf Besonderheiten aufmerksam gemacht, so daß der Zuhörer sich in die Umgebung hineinversetzen konnte.

Das "musikalische Thema", mit dem das Programm jede Woche eingeleitet wurde, bestand aus den Klängen außerhalb der Radiostation. Das Mikrophon hing aus dem Fenster unseres Studios heraus und brachte den Zuhörern die Klänge eines problematischen Teils von Vancouver: die Stimmen vernachlässigter, armer Menschen, die mit ihren Weinflaschen auf den Bänken eines winzigen Parks ("Pidgeon Square") Ruhe zu finden hofften. Ihre Stimmen wurden meistens von den Ampelrhythmen des Verkehrs übertönt. Möven, Tauben und Schiffshörner vom naheliegenden Hafen punktierten diese Klangumwelt mit ihren Signalen.

"Soundwalking" führte uns also von einer sozialen Realität in die andere – von "Pidgeon Square" zum Beispiel in die Berge oder in ein reiches Einkaufszentrum – während Zuhörer in ihrer eigenen Klangrealität zu dieser Klangwelt des Radios lauschten.

Diesen "Split" zwischen der Klangumwelt, in der wir uns befinden, und der, die über den Lautsprecher gesendet wird, nennt Murray Schafer "Schizophonie". Das, was man über den Lautsprecher hört – ob es Beethovens Fünfte, Nachrichten, Schlager, Hörspiele, Hintergrundmusik, Rock 'n' Roll oder Umweltklang ist –, hat nichts mit der Situation zu tun, in der man sich gerade befindet. Und doch, obwohl da ein Split zwischen zwei Klangwelten ist, ist es für die meisten Menschen ganz "normal", Musik und Nachrichten im Restaurant, im Laden oder zu Hause zu hören, ja wir erwarten sie oft sogar. Es scheint uns "natürlich", daß eine entkörperte Stimme oder entkörperte Musik in unserer Wohnung erklingt.

Es ist allerdings noch ungewöhnlich für unsere Ohren, Umweltklänge oder neue Klangwelten im Radio zu hören. Radio, das uns – wie durch viele Türen – in viele verschiedene Klangwelten führt, ist noch eine Seltenheit. Zuerst lauschen wir noch vorsichtig durchs Schlüsselloch. und dann schließen wir die erste Tür auf und horchen. Wir sind in einem neuen Klangraum, einer neuen Klangwelt. Statt uns abzustumpfen, stärkt es unsere Einbildungskraft, unsere Kreativität, statt uns zum Schneller-Arbeiten oder Mehr-Kaufen, zum "Mitmachen" anzuhalten, feuert es unseren Erfindungsdrang an; statt uns im Nichtanhören zu ermatten, stärkt es unsere akustisehe Empfindsamkeit; statt uns zum Ignorieren der Realität zu bewegen, gibt es uns die Kraft, der Realität mit offenen Ohren entgegenzutreten; statt uns mit Information zu überladen, gibt es uns Raum, Information zu finden; statt immer wieder dasselbe zu senden, wiederholt es sich nie; statt unsere Stimmen zum Schweigen zu bringen, ermutigt es uns zum Singen, zum Mitsprechen: statt nur zu senden lauscht es.

Lauschendes Radio – Radiolauschen: Es fängt damit an, daß wir mit "Neu-Gier" durchs Schlüsselloch lauschen. Danach öffnen sich die Türen von selbst, und neue Klangräume/-welten erscheinen vor unseren Ohren.