www.aec.at  
Ars Electronica 1989
Festival-Programm 1989
Back to:
Festival 1979-2007
 

 

Anleitung für einen selbstorganisierenden musikalischen Organismus
EINE STUDIE ÜBER ONTOGENIE UND EVOLUTION DER IMAGINATION

'Allan Lamb Allan Lamb

1. Man bastelt ein Spieltelefon aus zwei leeren Konservendosen, die man an den zwei Enden einer langen Schnur befestigt.

2. Zwei Personen (Spieler) spannen die Schnur zwischen sich und horchen an ihrer Konservendose.

3. Wenn einer etwas hört, antwortet er, indem er in die Dose einen Ton singt, ein Wort sagt oder irgendeinen Laut macht, dann horcht er wieder. Die einzige Spielregel lautet: Der Klang muß zu dem passen, was man hört. Man beantwortet weiter einige oder alle gehörten Klänge. Das Timing wird auch durch die Spielregel des Passenmüssens bestimmt. Hier ist der Beginn des musikalischen Organismus, hier wurde die Zygote (1) empfangen. Die Schnur vermittelt die Stimme und moduliert den Klang. Der Empfänger hört den Klang, der keine Stimme ist.

4. Eine weitere Schnur wird an die Schnur geknotet und eine Konservendose am anderen Ende befestigt.

5. Ein weiterer Spieler hält diese Konservendose an sein Ohr. Was er hört, sind zwei nichtkommunizierende Stimmen.

6. Nun antwortet der dritte Spieler auf das, was er hört, das Gehörte ist eine Überraschung.

7. Weitere Schnüre und Konservendosen werden befestigt und weitere Spieler nehmen teil. Das Netz kann unendlich erweitert werden. Der Organismus wächst. Er wird zu groß für eine Einheitlichkeit. Was man an einem Ende hört, ist nicht das gleiche wie an einem anderen Ende. Doch ergänzen die Enden einander auch, wenn sie nicht gleich sind, durch die Spielregel des Passenmüssens, solange eine gewisse Größe gewahrt bleibt (Kohärenz auf kurze Distanz).

8. Ein Kohärenztest: An jeder Konservendose wird eine zweite Schnur befestigt, und das andere Ende dieser Schnüre wird an einer einzigen Konservendose festgemacht.

9. Nun hält ein Spieler die Konservendose an sein Ohr. Was er nun hört, sind nicht die anderen einzelnen Enden, sondern ein komplexer Klang. Innerhalb einer gewissen Größe ist er kohärent und zusammenhängend, aber keine Einheit. Über die gewisse Größe hinausgehend, bricht der komplexe Klang in sich verschiebende Bereiche auf. Hier beginnt die regionale Differenzierung.

Der den komplexen Klang hörende Spieler ist der Anfang des Nervensystems. Wir nennen diesen Spieler ein Neuron. Ein Neuron ist eine Zelle. Eine Zelle ist ein kohärentes atomares Universum, ein Mikrokosmos. Sie symbolisiert den Beginn des Einzigartigen, des Ich, so wie das Atom den Beginn des Unendlichen, des Makrokosmos. Alle Ebenen sind in einem einzigen unzählbar infiniten Set enthalten. So fallen Spieler, die zellulare Universa sind, in die göttliche Ordnung der Einzigartigkeit.

10. Nun hat das Neuron zu singen oder einen Laut zu machen, auch hier gibt es eine Überraschung. Dies ist der erste Neuronenbefehl, eine Vereinfachung des Komplexen und die Einführung der Kohärenz für weitere Entfernungen.

11. Das Neuron wird schnell abgeschaltet, an zu viel Vereinfachung stirbt der Organismus. Befehl erfordert Kontrolle. Ziel ist die Diversität innerhalb der Kohärenz. Kontrolle wird durch negatives Feedback ausgeübt, die Spieler an den Enden können den Befehl beschränken, indem sie die Befehlsschnur dämpfen. Sie können frei über die Intensität der Dämpfung entscheiden, d.h., der Befehl ist vom Goodwill der Enden abhängig. Ein als gut empfundener Befehl wird nicht gedämpft werden. Wird ein Befehl als schlecht empfunden, können unabhängige Organismen entstehen, was positiv ist. Die Organismen können interagieren. Man stelle sich ein Universum musikalischer Organismen vor.

12. Nun wird jeder Spieler einem Neuron gleichgesetzt, indem alle Spieler mit allen Spielern verbunden werden. Die Spieler dämpfen die Schnüre immer nach der Spielregel des Passendsten. An Verwicklungen läßt sich die obere Grenze der Größe erkennen.

13. Die Zahl der Verbindungen pro Spieler wird eingeschränkt, und die optimale Zahl von Verbindungen pro Spieler, was die Diversität und Kohärenz betrifft, wird festgestellt. Es werden sich großräumige Bereiche bilden.

Damit ist die embryonale Entwicklung des Organismus beendet. Viel Vergnügen mit dem kleinen Liebling. Vielleicht machen Sie nun einen Spaziergang durch Wiesen oder Wüsten oder vielleicht durch die Ebenen des Geistes, wie unten ausgeführt. (Bestellen Sie rechtzeitig die Autobusse.)

DIE ERSTE HÄUTUNG
1. Begeben Sie sich an einen Ort, wo ständig der Wind weht. Anstelle der Schnüre werden Drähte straff zwischen feste Pfosten gespannt. Hören Sie, wie die Drähte im Wind singen.

2. Anstelle der Konservendosen werden metallene Trommeln verwendet und Windspiele, Klappern, Gongs, Flöten, Pfeifen, was immer Ihnen einfällt. Die Spieler spielen nun auf den Drähten, dämpfen sie, antworten dem Drahtgesang. Sie tanzen und singen, klopfen und schlagen auf Klappern und Gongs, trommeln auf den Trommeln, blasen auf den Flöten, tuten auf den Trompeten, was immer ihnen einfällt. Alles ist möglich. Es gibt nur eine Regel: die Regel des Passens. Die Trommeln nehmen den Klang auf und schicken ihn die Drähte entlang. Beachten Sie, wie sich die Schwankungen des Windes, die Windstille auswirken.

3. Die Spieler gehen zwischen den Trommeln herum. Beachten Sie die Gruppenbildung; Spieler von entsprechender Affinität gesellen sich zueinander. Beachten Sie die Interaktionen derGruppen, die Durchsetzung der Gruppen, wie einzelne Spieler von einer Gruppe zur anderen wandern. Achten Sie auf die Bildung und Auflösung von Obergruppen. Gruppen bilden sich auch außerhalb des Drahtgebildes, lokale Domänen ganz besonderer Struktur, unabhängig von der Kontrolle durch den Wind. Vielleicht wandern Gruppen wieder in die Stadt und lösen dort Musik aus, fangen die Bewohner in Netze aus Gesang und Tanz, und der Köder ist die Neugier. Es zeigt sich das Phänomen der kritischen Masse, die Gruppengröße, die nötig ist, um den Effekt auszulösen.
ZWEITE HÄUTUNG
1. Jeder Spieler erhält ein Singlepoint-Stereomikrophon, einen UKW-Empfänger von N Stereokanälen, einen N+1-Kanalmixer (auch Stereo), einen Stereowalkman und einen UKW-Stereosender, der auf einer Frequenz des Set x sendet. Der Radius der Sender wird entsprechend 1 zu R mal Entfernung zwischen den Trommeln eingestellt.

2. In jeder Trommel wird ein Singlepoint-Stereomikrophon plaziert, das auf einer der Frequenzen vom Set y in der gleichen Reichweite wie oben sendet.

3. Setze N « x + y

4. Die Spieler gehen zwischen den Trommeln herum, gehen rund um sie, nehmen Klang/Musikgebilde mit Mikrophonen auf, die an den N+1-Stereokanal des Mixers angeschlossen sind; Mikrophon wird mit UKW-Signalen auf Wahlfrequenzen 0 bis N gemäß der Spielregel gemischt; Gesang, Rufe, Harfenzupfen, Trommelschlagen oder sonstiges; die gesamte Synthese wird vom Mixer auf den Walkman überspielt, um für zukünftiges weiteres Mischen aufgenommen zu sein (NB langdauernde zeitliche Oszillationen: Gedächtnis); schließlich wird auf der jeweiligen UKW-Frequenz gesendet. Es werden sich Strukturen bilden, die den vorherigen Gruppen und Obergruppen ähnlich sind. Als neues Phänomen bilden sich hierarchische Strukturen aus den von den Spielern erstellten Mischungen durch Feedbackschleifen. Und ganz spontan entwickeln sich stabilisierende Klang/Musikstrukturen. Es sind dies die ersten auftretenden Strukturen des Organismus. Ihre Ontogenie und ihr Verhalten entsprechen den Theorien von Nicolis und Prigogine (1977). Die genauen Formen der entstehenden Strukturen sind nicht vorhersehbar, auch wenn sie in unterscheidbare Klassen einzuordnen sind. Diese Eigenschaften lassen sich mit den seltsamen Attraktoren der Chaostheorie erklären. Die Formen der Strukturen sind metastabil, gegen Änderungen der Spielerantworten abgeschirmt. Man beachte die Schwellen, an denen durch eine kollektive Veränderung auftauchende Strukturen in neue metastabile Formen mutieren. Diese Schwellen zeigen die Phasenräume des Organismus an, die in allen Organismen der gleichen Spezies gleichbleibend sind. Diese Eigenschaften lassen sich mit Hilfe der Katastrophentheorie erklären. Die Spezies entwickeln sich entsprechend den Mutationen ihrer Phasenraumpläne.

5. Führen Sie Übertragung über Glasfaser (oder direkten Laser) für die private Kommunikation zwischen den Spielern ein. Schaffen Sie die Möglichkeit, Netzwerke zu erstellen. Schleifen werden sich innerhalb der Gesamtheit der Sendestruktur bilden und verschwinden. Das ist der Beginn der Reifung des Gehirns, die Wahl der optimalen Verbindungen aus allen anderen Möglichkeiten. Das sich entwickelnde Gehirn behält eine globale Kohärenz mit dem sich erweiternden System.

Der Organismus ist nun so gereift, daß er ein Lebewesen wird. Es gibt für die Spieler keine Einschränkung ihrer Freiheit, zu reagieren oder sich zurückzuziehen oder die Strukturen zu wechseln. Eine Struktur bleibt solange bestehen, als die Spieler übereinstimmend weitermachen wollen. Strukturen, die von Interesse (z.B. ästhetischem) für die Spieler sind, bleiben bestehen, andere verkümmern. Es fällt auf, daß Spieler den Organismus betreten oder verlassen können, ohne seine Gesamtform zu beeinträchtigen, solange die Anzahl der Spieler nicht ein gewisses Minimum unterschreitet (Immigration bzw. Emigration im großem Ausmaß kann allerdings zu Mutationen führen). Eigentlich hat der Organismus das Potential der Unsterblichkeit
DRITTE HÄUTUNG
1. Installieren Sie in jedem Sender einen Komparator und verwenden Sie dabei integrierte Schaltungen, die dem Spieler nicht zugänglich sind, um die Wellenform des Outputsignals mit den Wellenformen des Inputsignals auf allen Kanälen des UKW-Empfängers zu vergleichen. Der Komparator soll nun die Energie der Outputwellenform messen, welche sich in den Eingabesignalen als das Verhältnis der summierten Energie der Eingabesignale darstellt.

2. Verändern Sie den Bereich r jedes Senders entsprechend dem Komparatorverhältnis. Der Senderhereich wird sich vergrößern, je mehr sich das Outputsignal von den anderen Spielern in ihr eigenes synthetisches Output vermischt wird. So werden Strukturen optimaler kollektiver Zustimmung durch Feedbackkontrolle verfeinert und verstärkt.

3. Installieren Sie Netze von Verstärkerstationen, um hohe R-Level zu erzielen.

4. Rüsten Sie die Verstärkerstationen mit N1-Stereo-UKW-Inputkanälen aus, mit N1-computergesteuerten Mixern mit jeweils N1-Stereokanälen zur Bedienung durch fortgeschrittene Spieler (Auswahlkriterium: Verstärkung des persönlichen Sendebereichs über eine gegebene Schwelle).

5. Koppeln Sie Mixer, so daß sich hierarchische Strukturen in den Verstärkerstationen bilden können durch die Prinzipien des positiven und negativen Feedbacks wie oben. Übertragen Sie die kollektive Synthese auf einem Stereokanal auf eine der Frequenzen von Set z, im Bereich der Ordnung 1 zu R1 mal der Distanz zwischen den Verstärkerstationen.

6. Speichern Sie in einem hochqualifizierten Computerspeicher alle Mischungen auf allen Levels einschließlich des Sendeoutputs, um es später in die Komplexgebilde mischen zu können.

7. Setzen Sie N N1 x + y + z

8. Wenden Sie das Prinzip der Komparator-Feedbackkontrolle wie oben an, um die Senderenergie zu variieren.

9. Installieren Sie private Konununikationseinrichtungen zwischen den Stationen wie oben.

10. Installieren Sie Supernetze von Verstärkerstationen für den regionalen, den nationalen, den globalen Bereich, mit Frequenzsets i, i1, i2 etc. Gleiche Operationsprinzipien wie bei niedrigeren Levels.

11. Installieren Sie einen einzelnen globalen Sender (R = zweimal der galaktische Radius), und senden Sie auf Wasserstoffanregungsfrequenzen.

12. Installieren Sie in allen Empfängern auf allen Levels Kanäle für den Empfang von Outputs von allen höheren Levels. Der Organismus ist jetzt gewachsen und gereift, er funktioniert auf der Ebene der globalen Kohärenz. Die Zahl der Spieler könnte sich nun 10 hoch 10 nähern, der voraussichtlichen Zahl der Weltbevölkerung des Jahres 2020. 10 hoch 10 ist die Ordnung der Zahlen der kritischen Masse: Atome pro Zelle, Neuronen pro Hirn. Im Prinzip hat der Organismus das Potential des Empfindungsvermögens. Doch es ist festzustellen, daß Empfindungsvermögen nicht ohne Kommunikation mit gleichartigen Organismen dargestellt werden kann.

Frage: Können Einzelspieler ein globales Empfindungsvermögen feststellen?
VIERTE HÄUTUNG
1. Führen Sie parallele System ein, so daß Netzwerkkanäle unabhängig von Klangkanälen sind, d.h. eigene Systeme für Signale unterschiedlicher Herkunft. Jeder Spieler empfängt, mischt und sendet auf eigenen Kanälen für die jeweilige Modalität. Multipliziere N mit der Zahl der Modalitäten M. d.h. Na + Nb + Nc … Nm.

2. Die Spieler mischen innerhalb der Modalitäten nach der bestehenden Spielregel. Weitere spezifische Kanäle werden für jede Permutation gemischter Modalitäten zur Verfügung gestellt. Multiplizieren Sie N mit der möglichen Anzahl von Modalitäten, d.h. N = M! Die Spieler dürfen in jeder Modalität ihrer Wahl aus dem Set M! entsprechend der Spielregel senden und andere ebenso empfangen.

3. Experimentieren Sie mit verschiedenen Signalquellen wie Wasserwellen, Wettermustern. Verwandeln Sie Signale in Video und/oder Sound, siehe unten.

4. Schaffen Sie dedizierte Systeme für jede gültige Signalquelle, bestimmen Sie die Gültigkeit durch allgemeine Zustimmung.

5. Machen Sie das Elektroenzephalogramm (EEG) eines Spielers zu einer Signalquelle. Wandeln Sie das EEG in Farbvideo und Sound mittels computergesteuerter Umwandler um.

6. Die Spieler erzeugen mit Hilfe von Meditation visuelle und akustische Bilder aus ihrer Vorstellung.

7. Die Spieler vermischen ihre Versionen auf dem globalen Netzwerk.

Nun hat der Organismus eine Psyche, eine Seele. Es ist festzustellen, daß die Psyche ein Kohärenzfeld ist, das über das Vielfache von Raum und Zeit hinausgeht.
FÜNFTE HÄUTUNG
1. Der Spieler hört zu.

2. Der Spieler antwortet.

Der Organismus bricht aus dem Kosmos aus. Frage: Welchen Namen soll er erhalten?

(1)
Zygote = die aus einer Befruchtung hervorgehende Zelle.zurück