Kunst der Szene
'Peter Weibel
Peter Weibel
VON DER SOZIALEN BÜHNE ZUR IMMATERIELLEN SZENE Im Reiche enigmatischer natürlicher Aktivität, die sich der Kontrolle entzieht, geschieht Seinesgleichen. Die Natur entwickelt keine Bilder, höchstens die Mimikry, die schützende Nachäffung, als Strategie der Evolution. Um Kontrolle über die Aktivität der Natur zu gewinnen und sie zu verstehen, wird im Prozeß der Zivilisation aus der Nachäffung die Nachahmung. Der Mensch entwickelt ein mimetisches Vermögen und entwirft Bilder und Modelle. Doch nicht mehr nur Seines-Gleichen geschieht, sondern in der Simulation entsteht eine Abweichung, ein Abstand, eine Differenz, eine Autonomie. Aus dem Geschehen des Gleichen entwickelt sich das Andere. War schon das animalische Leben mit seinen Schutz- und Warnfarben ein Inszenarium protektiver Strategien des Scheins und der Fälschungen, mit deren Hilfe das Tier einen bestimmten Eindruck erwecken will, eine bestimmte Körperform, ein bestimmtes Verhalten, bestimmte Fähigkeiten und Eigenschaften, eine bestimmte Seinsweise (Tierart) vortäuschen will, um sich vor seinem Feinde zu schützen, um wieviel trickreicher und listiger werden daher die Praktiken sein, mit denen der Mensch sich in den Szenen des realen Lebens darstellen und inszenieren wird, um den sozialen Leitbildern durch An-Gleichung perfekt zu entsprechen und damit sich vor anderen Menschen möglichst vorteilhaft darzustellen. Die öffentlichen Werbeflächen sind die postmodernen Bühnen perfekter Inszenierungen der klassischen Werte und Träume, sind die eigentlichen familialen Szenen des öffentlichen Lebens und der inszenierten Darstellungen des Selbst. Die Inszenierungen des Lebens in den Medien verkehren von der Pubertät bis zur Politik die authentischen Ansprüche des Ichs, die Verwirklichungsstrategien des Imaginären, die Sprache des Privaten in eine öffentliche Sprache, in Ausbeutungsfelder für öffentliche Bedürfnisse, in inszenierte Simulationen. Die Ichentwicklung und -befriedigung wird in den öffentlichen Inszenierungen des Selbst durch die Medien zu einer Technologie des ökonomischen Marktes. Die universale Werbesprache wird zur universalen Pornografie des Sozialen. "Wir alle spielen Theater" hat Erving Goffman 1959 behauptet, als er die Darstellungen des Selbst im Alltagsleben erforschte. Die Darstellungstechniken (der Glaube an die eigene Rolle, die dramatische Gestaltung, die Idealisierung, die Ausdruckskontrolle) und die Techniken der Eindrucksmanipulation sind Techniken der Kontrolle der sozialen Interaktion, bilden aber auch den Apparat einer Selbstinszenierung, die enthüllt, daß "gerade die Struktur unseres Selbst unter dem Gesichtspunkt der Darstellung verstanden werden kann". (1) Das bedeutet, daß aufgrund der Gleich-Setzung von Rolle, die man spielt, und Selbst, das man ist, im inszenierten öffentlichen Raum das Publikum der dargestellten Rolle nur dann ein persönliches Selbst zuschreibt, wenn eine Rolle entsprechend sozialen Vorstellungen richtig gespielt wird. Dadurch wird aber das Selbst, das Ich, die Persönlichkeit das Produkt einer erfolgreichen Szene, einer Inszenierung, und nicht ihre Ursache. Persönlichkeit als Produkt-Inszenierung. Gerade die Politik macht von dieser Strukturierung des Selbst unter dem Gesichtspunkt der medialen Darstellung extensiv Gebrauch. Die wahren Eigenschaften des Darstellers, des Politikers als Schaustellers, und die Eigenschaften seiner Rolle gehören grundlegend verschiedenen Bereichen an. Der Politiker ist heute eine Schauspielfigur, deren Selbstinszenierungen nur mehr das Produkt von (auf der Grundlage von empirischen Vermarktungsstrategien und demoskopisch erforschten allgemeinen Wunschvorstellungen) erfolgreich inszenierten Szenen sind. Ein Inszenarium verführerischer Strategien des Scheins produziert eine Rhetorik, wo nicht nur die Eigenschaften der Menschen, sondern auch die der öffentlichen Darstellungen und medialen Inszenierungen sind. Das politische Selbst hat keinen (klassen)spezifischen Ort mehr. Es verschwindet in der In-Szene-Setzung der semi-wissenschaftlich geplanten sozialen Rolle. Auch Glaubwürdigkeit und politisches Programm sind wie die Worte, die Kleidung, die Gestik nur mehr erfolgreiche Regie-Anweisungen einer umfassenden Inszenierung. Den Manipulationen der Repräsentation im öffentlichen Leben, wo die öffentliche Rollendarstellung nach dem gewünschten Bild modelliert wird und dieses gewünschte Bild selbst das Produkt einer erfolgreich inszenierten und gespielten Szene ist, sind in unserer "Gesellschaft des Spektakels" keine Grenzen gesetzt, wie Guy Debord jene übertriebenen Inszenierungen der Kommunikation und sozialen Interaktion durch die Massenmedien nennt, wo das Soziale destrukturiert und entleert wird. "Das Spektakel ist keine Kollektion von Bildern, sondern eine soziale Beziehung zwischen Leuten, die durch Bilder mediatisiert werden" (Guy Debord), sodaß die Bedeutung in den Medien und das Soziale in den Massen implodiert.
In den Massenmedien pervertiert Mimikry zu Masken, zu Werkzeugen der Kontrolle und Täuschung der Massen. In den Mythen der Informationsgesellschaft und der Massenmedien verschwindet der soziale Raum und wird ersetzt durch fabrizierte Fiktionen und instrumentalisierte Fantasien. Die Masken der Bühne werden nicht zu Imitationen des Lebens, sondern die mediatisierten Masken erzeugen das Leben selbst als von der Macht kontrollierte Formen der Inszenation und Repräsentation, als Spektakel, wo Inszenation und Realität zusammenfallen. Dies ist der Sinn des Shakespeare-Wortes: "Die ganze Welt ist Bühne."
Simulation und Spektakel sind also das Produkt und gleichermaßen das Projekt der modernen Gesellschaft. So wie die Mimikry als Überlebensstrategie zum Begriffsgebäude der Evolutionstheorie gehört, so ist Inszenierung als Produktionsmodus von Realität und dominierender Bedeutung im Leben unter postmodernen Bedingungen. Simulation und Spektakel, Mimikry und Mediatisierung sind untrennbar mit dem Prozeß der Zivilisation verbunden und laufen im Begriff der Inszenation, der gesteuerten Simulation, des kontrollierten Spektakels, zusammen. Alles ist Bühne, alles ist Schau, alles ist Szene. "Szene" wäre der adaquate Titel für die globale Zeitung. Die permanente Präsenz des Begriffs Szene in allen Lebens-, Kultur- und Kunst-Bereichen dokumentiert die Macht der Inszenation. (2) Wenn nicht nur in den Boulevard-Blittern ständig von der Szene (Musikszene, Rauschgiftszene, Beislszene, Kunstszene etc.) gesprochen wird, sondern auch die avancierte Kulturtheorie, von der Architektur bis zur Fotografie, zum Begriff der Inszenierung greift, können wir daraus ermessen, welch maßgebenden Anteil die Kunst der Inszenierung, des Sich-in-Pose-Setzens, des Rollenspiels, die Kunst der Dar- und Aus-Stellung in unserem gesellschaftlichen Leben spielt. Alles ist inszeniert, von der Bühne des sozialen Lebens bis zur immateriellen Szene der Medien. Vom Medien-Spektakel bis zur politischen Bühne leben wir in einem vollkommen inszenierten Environment. Auf diese totalitäre Dimension der postmodernen Szene, der sozialen mise en scene hat auch die Kunst reagiert. Dieser aktuelle Zustand von Kunst und Gesellschaft, gezeichnet von einer Invasion der Inszenierung, von einer Dominanz der Darstellung über den Inhalt, legitimiert natürlich ein Festival, das wahrhaft zeitgenössisch sein will, sich diesem sozialen und künstlerischen Phänomen als Thema zu widmen und es selbst inszenatorisch darzustellen. Es geht also nicht beliebig um die aktuelle Szene der Kunst, sondern spezifisch um die Kunst der Szene, die gerade in Österreich von der Psychoanalyse über Theater, Mode, Fotografie bis zur Architektur (Joseph Urban, (3) Friedrich Kiesler, Hans Hollein) eine so große Tradition hat, Dementsprechend wurde versucht, nicht nur im Katalog, sondern auch in der Programmgestaltung eine umfassende Darstellung der historischen Entwicklung der Kunst der Szene im 20. Jahrhundert zu geben, von der mechanischen Bühne des Bauhauses bis zur immateriellen Szene des Medientheaters, von szenischen Reisen bis zur digitalen Szenik. Eine Ausstellung wird den Begriff Szene in seiner literarischen, etymologischen und politischen Dimension darstellen. Eingebettet zwischen den aktuellsten Produktionen der Audio- und Video-Szene, zwischen szenischen Performances und bühnendramatischen Werken werden nationale und internationale Beispiele einer geradezu von Linz und der Ars Electronica monopolisierten Kunstform, nämlich das Videotheater bzw. die Medienoper, den technisch fortgeschrittensten Stand der Kunst der Szene als Erbschaft der Renaissance und des Barocks, die elektronische Synästhesie vorführen und den Szeniker als neuen Künstlertypus nach Musiker, Maler, Elektroniker vorstellen. Ein Symposion wird den technologischen Wandel unserer Gesellschaft, welcher die Folie für den Vampirismus und das Avancement der Kunst der Szene abgibt, reflektieren.
Dem Motto unseres Festivals für Kunst, Technologie und Gesellschaft gemäß können wir nämlich die Entwicklung der Kunst (der Szene) nicht ohne Zusammenhang mit der technologischen und sozialen Entwicklung sehen. Würden wir Kunstgeschichte und -entwicklung als bloßes Spiel von Stilen und Formen auffassen, würden wir gerade jene sozialen Voraussetzungen vernachlässigen, welche die Ursache für den Bruch mit Traditionen und für die Veränderungen der Formen und Stile sind. Als die Wissenschaft zu Ende des 19. Jahrhunderts die Analyse der Empfindungswelt begann (Gustav Fechner, Ernst Mach, Helmholtz, G. S. Ohm) und bald auf das Phänomen der Doppelempfindung stieß, das gleichzeitige und korrespondierende Erleben von Gehör- und Farbempfindungen, hat sie damit nur auf jene Techno-Transformation der natürlichen Wahrnehmungswelt und auf die Extension der natürlichen Sinnesorgane reagiert, die das Ergebnis der industriellen Revolution war. Erst als der Mensch durch die Industrialisierung von akustischen Reizen überflutet zu werden begann, formierte sich die Wissenschaft der psychologischen Akustik, welche sich die Frage stellte, wie nimmt der Mensch überhaupt akustische Reize wahr. Dabei wurde der Einfluß des Schalls auf die Lichtempfindungen entdeckt. Bei zunehmender Komplexität des aktustisch-visuellen Environments, bei zunehmender technischer Inszenierung unserer urbanen Umwelt wurde auch eine Theorie für eine komplexere Interaktion der Sinnesempfindungen, die sekundären und synästhetischen Sinnesempfindungen, entdeckt. (4) Nachdem die Wissenschaft die synästhetische Akkumulation der Sinneserregungen als Folge der mechanischen Modernisierung der Welt in den Mittelpunkt gestellt hat, die heute von den immateriellen Kommunikationsmedien fortgesetzt wird, hat auch die Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Korrespondenzen von Seh- undHörempfindung, von Malerei und Musik zu den Grundlagen einer neuen Ästhetik gemacht, die bis in die unmittelbare Gegenwart in Form der Musikvideos äußerst erfolgreich wirksam ist. Die Entwicklung der Synästhetik durch Maler und Musiker der Synästhesie, durch die synästhetische Szene und den synästhetischen Avantgardefilm mündete in den optophonetischen Maschinen und Spektakeln einer totalen synästhetischen Erfahrung, die mit der elektromechanischen Exzentrik der Bauhaus-Bühne begann und, in gegenwärtigen Formen des Broadway-Musicals, der Rock-Show, der Multimedia-Performance und der digitalen Szenik triumphiert. Die totale Erregung der Sinnesorgane in einer vollindustrialisierten Welt, wie sie in einer Synästhetik aufgefangen wird, korrespondiert also mit der Zunahme darstellerischer Inszenierungen im sozialen Raum, wie sie von der Kunst der Szene reflektiert wird. Synästhesie und Inszenation sind also gewissermaßen Komplizen. Die industrielle Revolution, die Techno-Transformation der Welt seit 1800, bewirkte eine exzessive Steigerung der Synästhesie, Simulation und Inszenation. Die um die Synästhetisierung der Sinnesempfindungen zentrierte, die Schnittflächen von Simulation und Mediatisierung einerseits, von Realität und Unmittelbarkeit andrerseits spiegelnde Kunst der Szene mit ihren hochentwickelten Strategien des In-Szene-Setzens ist also als Antwort, als Proliferation der Kunst, auf das hochentwickelte Netzwerk der Rollendarstellungen, der Inszenationen und manipulierten Repräsentationen (in den Medien) im öffentlichen Leben zu verstehen. Der Kunst käme dabei die Aufgabe zu, subversive Strategien der Differenz, der Abwehr, der Entregelung und Auflösung zu entwickeln, um das soziale Unbewußte zu erkennen, um durch die Masken des sozialen Textes und der medialen Dramatisierung zu blicken. Insoferne ist die Kunst der Szene auch eine Theorie und Technik der Wahrnehmung, die versucht, unsere Sinne für komplexe soziale Interaktionen zu schärfen, um wahrnehmen zu können, was an den Inszenationen auf der politischen Bühne überhaupt noch wahr und nicht vollkommen eine Inszenierung des Scheins ist. Eine emphatische, rauschhafte Fusion der Künste, die auf alle Sinnesorgane gleichzeitig trommelt, im Sinne eines Gesamtkunstwerkes (in der Tradition Wagners, Skrjabins, Nitschs), ist daher eine scheinhafte und falsche Versöhnung. "Im Gesamtkunstwerk ist der Rausch unumgänglich als principium stilisationis: ein Augenblick der Selbstbesinnung des Kunstwerks würde genügen, den Schein seiner ideellen Einheit zu zerstören." (5) Der Ausweg aus der Undurchschaubarkeit der total inszenierten Welt gelingt nicht im Rausch der Empfindungen, der ja selbst wiederum nur gesteuerte Inszenierung auf den Sinneskanälen, immaterielle sensorische Inszenation der Kontrolle und eine Flucht in die Unwahrheit wäre. Im Erlösungsanspruch einer emphatisch inszenierten Kunst verbirgt sich im Kern der "verklärte Tod", also die Fortsetzung des Terrors des Spektakels, nur mit anderen, künstlerischen (statt sozialen) Mitteln. "In der innersten Zelle der Erlösungskonstruktion wohnt das Nichts", schreibt Adorno. (6) Die konstruktiven Parallelen zwischen Musik und Malerei, zwischen Zeit und Raum, zwischen Ton und Licht dürfen also nicht wie im Gesamtkunstwerk einer falschen Einheit geopfert werden, sondern müssen als "zwischen den Kategorien" (Morton Feldman) erkennbar bleiben. Die Kunst der Szene als Ort der Aufklärung enthüllt uns die Strategien der Inszenation, indem sie eben "zwischen Zeit und Raum, zwischen Malerei und Musik" (Morton Feldman), zwischen Konstruktion und umstrukturiertem Zustand bleibt. Die Kunst der Szene nicht als Inszenation von Kunst, das wäre ja eine Fortsetzung des Dopings, eine Perseveranz des Trugbilds, sondern als De-Szenation, als Entszenierung mit szenischen und medialen Mitteln. Destination "Deszenation" steht auf der postmodernen Straßenbahn. Vergiß die Kunst!
(1) Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Piper, München 1969, S. 230. zurück
(2) Arthur Kroker/David Cook, The Postmodern Scene: Excremental Culture and Hyper-Aesthetics. St. Martin's Press, New York.
John Fekete, Life After Postmodernism. St. Martin's Press, N.Y. 1987. Kathleen Woodward, The Myths of Information: Technology and postindustrial Culture. Coda Press, Inc., Madison 1980. zurück
(3) Der österreichische Bühnenbildner, Designer, Architekt Joseph Urban, der nach Erfolgen an der Wiener Oper um die Jahrhundertwende nach New York auswanderte, gehört zu den zwei wesentlichen Begründern der Kunst des Film-Dekors, der Film-Architektur in Amerika. "Urban-Blue" ist ein Fachausdruck geworden, der auch heute noch verwendet wird. Natürlich hat keine einzige österreichische Institution das wichtige Gesamtwerk dieses Mannes vorgestellt, sondern es blieb Amerika vorbehalten, eine Wanderausstellung im Jahre 1988 zu organisieren, zurück
(4) Bleuler und Lehmann: Zwangsweise Lichtempfindungen durch Schall …, Leipzig 1881.
Steinbrügge: Über sekundäre Sinnesempfindungen, Wiesbaden 1887.
Viktor Urbantschitsch: Über den Einfluß einer Sinneserregung auf die übrigen Sinnesempfindungen, Wien 1888.
Ewald Hering: Outlines of the Light Sense, Cambridge 1964.
Augusto Garau: Le armonie del colore, Mailand 1984.
Die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Sinnesempfindungen wurden also zu Ende des 19. Jahrhunderts von der experimentellen Psychologie untersucht. Lichtphonismen sind Gehörempfindungen, die durch Licht hervorgerufen werden, Schallphonismen sind Farbempfindungen, die durch Schall entstehen. zurück
(5) Theodor W. Adorno, Musikalische Schriften 1, Frankfurt 1978, S, 387. zurück
(6) ibid, S. 137, zurück
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