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Ars Electronica 1988
Festival-Programm 1988
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Festival 1979-2007
 

 

Die Vereinigung der Künste in den Theatervisionen der frühen Moderne


'Barbara Lesack Barbara Lesack

In der gegenwärtigen Kunstgeschichtsschreibung, die in diesem besonderen Fall auch das Theater umfaßt, weil es diejenige Kunstform in der Zeit der heroischen Moderne darstellt, die die Synthese aller Kunstgattungen zu bringen am allereindringlichsten versprach, ist das Thema der heroischen Pionierzeit der Moderne, das heißt die Zeitspanne zwischen 1900 und 1930, so gut wie ausgereizt. Das Dilemma, sie dennoch darstellen zu wollen – eingedenk all jener bereits geleisteten kunsthistorischen Sammlertätigkeit wie auch ihrer interpretatorischen Sinngebung – gleicht im Grunde genommen folgender in einer Großstadt beobachteten Szene. Sie wurde dem Beobachter durch Zufall beschert und trug sich folgendermaßen zu: Er, der Stadtbewohner, sah einem jener ratlosen Touristen, die diese mit zahlreichen historischen Denkmälern so reizvoll ausgestattete Metropole in Scharen besuchen, zu, wie dieser in einem Anfall letzter Verzweiflung oder aber auch in Ausführung eines glückseligen Geistesblitzes seine Kamera gegen die Scheibe einer Auslage richtete. Dem Kaleidoskop der Eindrücke -so schien es – war der Drei-Tages-Tourist offenbar nicht mehr gewachsen, wie sonst ließe sich seine Handlungsweise, die er gleich darauf setzte, erklären. Vor der Auslage eines Geschäftes mit Andenken stehend ging ihm ein Licht auf, daß alles, was der urbane Erlebnisort zu bieten hatte, hier auf einem Platz vereinigt lag. Dort waren sie alle versammelt – sie, die zu Gebrauchs- und Ziergegenständen depravierten historischen Persönlichkeiten und berühmten Monumente. Eine Souvenir-Industrie hatte es möglich gemacht, daß das oftmals schwer verständliche fremde Kulturgut durch eine auf konsumierbare Größe reduzierte Maßstabsverkleinerung nun faßbar wurde. Intuitiv hatte der touristische Regisseur erkannt, daß sich ihm hier, in dieser Auslage, in der sich die Souvenirs drängelten und den Platz sich streitig machten, ein idealer Drehort anbot. Darum hob er – so schnell er konnte – die Kamera an und filmte in einer Totale das Panorama diese Auslage, in der seligen Gewißheit, nun endlich in diesem Set die Quintessenz der fremden Stadt auf den Film zur Erinnerung gebannt zu haben. Die beschriebene Szene soll im übertragenen Sinn für die heutige, als heikel empfundene Situation der Kunstgeschichte gelten, in der man sich befindet angesichts einer ebenso übervollen Auslage, angeräumt mit den Ikonen der Moderne: Futurismus, Expressionismus, Dadaismus, Bauhaus, Konstruktivismus usw.; sie alle aufgearbeitet und in handlichen Darstellungen vorhanden. Eine nochmalige Bestandsaufnahme gliche jener Filmtotale des ratlosen Touristen und wäre nichts als eine Wiederholung all der Klischees der Moderne, ja ergäbe ein ganz mechanisches Abbild der Geniestreiche der Künstler dieser Pionierzeit. Das heißt, der Blick durch das Auslagenfenster der Kunstgeschichte der Moderne muß ein schiefer, ein schräger, mitunter auch ein verzerrender sein, um neue, frische, ungewohnte und wieder fesselnde Beschreibungsmodi für die allen so sehr schon bekannten Themen der Moderne zu finden.

THEATER DER EMPFINDUNGEN
Um das Jahr 1871 kündigte sich in einem Gedicht, das den Titel "Voyelles" (zu deutsch: "Die Vokale") trägt und von Arthur Rimbaud verfaßt wurde, ein mit synästhetischen Empfindungen operierendes künstlerisches Verfahren an. Es sollte einen sehr frühen Verweis darstellen auf ein potentielles Wechselspiel, ein organisches Ineinanderfließen und Ineinandergreifen, kurzum: auf ein geradezu symbiotisches Zusammenwirken der primären abstrakten Gestaltungsmittel der einzelnen Künste zu einem Ganzen, zu einer Synthese aller Künste, wie sie im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts mit dem Aplomb auf die Abstraktion angestrebt wurde. In "Voyelles" ordnete der französische Dichter Rimbaud – von der intuitiven Gewißheit geleitet, daß es eine Beziehung zwischen Farbe und Ton gibt, die Synästhesie also, die als Anomalie der Empfindungen vor allem von der Musikpsychologie in den zwanziger Jahren des 20.Jahrhunderts genauer erforscht werden sollte – jedem einzelnen Vokal eine ihm adäquate Farbe zu: "A: Schwarz, E: Weiß, I: Rot, O: Grün, U: Blau", (1) so die erste Zeile des Gedichts. Vor dem inneren Auge Rimbauds, dem reinen Klang der Vokale lauschend, tauchte dieser Farbenakkord auf, In den nachfolgenden Versen konkretisierte er dann das Farbenhören mit Hilfe jener eidetischer Bilder, die er aus seiner Farbvision herauszulesen glaubte. Bei Rimbaud fand die "audition colorée" auf noch einfache Weise statt, während zu einem späteren Zeitpunkt technisch ausgeklügelt funktionierende apparative Systeme, etwa die Farbklaviere, entwickelt wurden, um das Prinzip der Synästhesie mechanisch zu demonstrieren. Für den im Gedicht beschriebenen Farb-Ton-Akkord appellierte Rimbaud nur an die aktive Vorstellungskraft des Lesers, die Verschränkung zweier Sinnesempfindungen nachzuvollziehen, auch wenn er selbst kein Synästhetiker war.

Im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts gab es ausführliche wissenschaftliche Untersuchungen, die von Psychologen durchgeführt wurden, um das Phänomen der synästhetischen Erscheinungen oder, wie sie auch genannt wurden, der Mit- oder Doppelempfindungen zu ergründen. Diese bei nur wenigen Menschen, dann aber freilich mitunter sehr stark ausgebildete bzw. angeborene Fähigkeit zur Synästhesie wie auch jene des "Farbhörens" hat Georg Anschütz, (2) ein deutscher Musikpsychologe in mehreren Studien (3) untersucht. Anhand der Falldarstellung eines hochgradigen Synästhetikers, der sich bereit erklärt hatte, ein Protokoll über seine außergewöhnliche Doppelempfindungen zu führen sowie auch seine durch Musikhören ausgelöste Farb- und Formerscheinungen nachzuzeichnen, bestätigte er die in künstlerischen Experimenten seit langem schon erforschte strukturelle Verwobenheit zweier oder mehrerer anscheinend disjunkter Kunstformen. Diese Erkenntnis wurde – zuerst und am intensivsten – im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts am Musiksektor in Kompositionen verwendet, denen das Prinzip der korrespondierenden Töne und Farben zugrunde gelegt war. Der russische Komponist Alexander Skrjabin (1872–1915) stieß auf diesem Gebiet der opto-phonetischen Synthese weit vor, als er in seiner Symphonie "Prometheus", die zwischen 1908 und 1912 entstand, erstmals ein "Farbenklavier" einsetzte, das von dem Engländer Rimington als ein noch sehr primitiver Beleuchtungsapparat konstruiert worden war. In Skrjabins Absicht lag es, durch Reizung zunächst einmal zweier Sinne – wobei er daran gedacht haben soll, auch Düfte als "Sinnesliebkosung" (4) miteinzubeziehen – nicht nur den Hörvorgang, sondern auch den Sehvorgang so zu bestimmen, daß der Zuhörer, eingekapselt in einem quasi temporären, die Wirklichkeit verdrängenden Ton-Farb-Raum, in Trance, ja Ekstase verfallen konnte. Durch den sich gegenseitig in ihrer Wirkung steigernden Einsatz von Ton und Farbe, wobei jede Tonart eine ihr korrespondierende Farbe hervorrief und jeder Harmoniewechsel einen korrespondierenden Farbwechsel zur Folge hatte, näherte sich Skrjabin dem großen – bereits von Richard Wagner angestrebten – Ziel einer Verschmelzung der Künste. Im ausgehenden 19. Jahrhundert standen sich die Künste, die in hochspezialisierte Einzeldisziplinen aufgesplittert waren, in völliger Isolation gegenüber. Diese Trennscheiben zwischen den einzelnen Künsten zu überwinden, ja niederzureißen, wurde dann zur großen Aufgabe für die Kunst des beginnenden 20. Jahrhunderts erklärt. Die Farbklangintuition, auf der Skrjabins Komposition im wesentlichen noch beruhte, wurde von Georg Anschütz in seinen Studien zur Synästhesie nach ihren Gesetzmäßigkeiten untersucht. Grundsätzlich stellte er einmal fest, daß nur dann von Synästhesie gesprochen werden könne, wenn ein einziger Sinneseindruck gleich zwei Sinneserlebnisse ausgelöst, das heißt, wenn ein Musikerlebnis auch inneroptische Bilder (Photismen) bewirkt hat. Die Bildhaftigkeit dieser Photismen könne derart ausgeprägt sein, so als lägen ihr wirkliche, auf der Netzhaut angeregte und auf physiologische-chemische Zersetzung zurückführbare Sehprozesse zugrunde. Einziges Indiz für ihre Unwirklichkeit bestünde lediglich darin, daß diese inneren Bilder mitwanderten: und zwar mit den Blickbewegungen des Synästhetikers. Ebenfalls Gegenstand der Untersuchungen waren die verschiedenen eidetischen Bilder, die nach dem Hören von einzelnen Tönen oder auch Tonfiguren beim Synästhetiker auftraten. So unterschied Anschütz zwischen synästhetischen Erscheinungen mit analytischem Charakter, bei denen einfache geometrische Figuren wie Kreise, Kugeln oder Ellipsen aufschienen, oder solchen mit komplexem Charakter, die dadurch gekennzeichnet waren, daß die mannigfaltigsten bunten, unbunten, räumlichen oder flächenhaften Gestalten gesehen wurden. Diese psychologischen Untersuchungen des synästhetischen Phänomens bewegten sich bei Anschütz im Rahmen eines musikästhetisch orientierten Interesses.

Auf Grund der viel größeren experimentellen Freiheit, die die lyrische Form immer schon besaß, konnte Rimbaud es sich leisten, das abstrakte Thema der Farb-Ton-Kongruenz in seinem Gedicht zu behandeln, obwohl er damit gegen das vom Realismusprinzip seiner Zeit diktierte Verbot der abstrakt-elementaren, also nicht abbildenden Sprache verstieß. Dagegen konnte sich die Dramenliteratur diese Freiheit erst dreißig Jahre später herausnehmen. Zuerst mußte diese durch alle Höhen und Tiefen des naturalistischen und realistischen Dramas gehen, bis die Erfindung des Films um 1895 durch die Gebrüder Lumière das Theater von der Pflicht der Wirklichkeitsschilderung entband. Sie wurde an den Film abgegeben – diesen grandiosen technischen Perzeptor der Realien dieser Welt. Um die Jahrhundertwende war der Weg frei für ein Theater der Empfindungen, in dem die Erzählung eine sehr untergeordnete Stellung einnahm, weil im neuen sensualistischen, sensitiv-synästhetischen Theater keine fortlaufend logische Geschichte erzählt wurde. Im neuen Drama wurden entweder nur statische Zustände oder aber dynamische Prozesse geschildert, also absoluter Stillstand und Ruhe kurz vor Ausbruch des Gefühls wie auch extreme Polyphonie der Sinneseindrücke. Der belgische Dramatiker Maurice Maeterlinck (1862–1949), ein Vertreter des Symbolismus, eroberte für das Drama die Freiheit, sich vom Zwang einer fortschreitenden, ereignisreichen Handlung loszubinden, um im Zustand des Stillstandes zu verharren. In seinem Drama "Die Blinden" (5), das 1896 in deutscher Sprache erschien, schaltete er den Sehsinn weitgehend aus, was zur Folge hatte, daß sich auf Grund des körperlichen Gebrechens der Blindheit seiner zwölf Akteure keine allzu starke Bewegung im landläufigen Sinn entwickeln konnte; sein Drama ruhte in sich. Die äußere Aktivität war einer inneren gewichen, nämlich der Entfaltung all jener vom dominierenden Sehsinn, der normalerweise zur Orientierung in dieser Welt dient, unterdrückten anderen Sinne wie Gehör–, Tast, Geruchs- und Geschmackssinn. Ausgeschaltet aus der aktiv-handelnden Welt mußte sich die von ihrem sehenden Führer verlassene Blindengruppe auf ihre anderen Sinnesorgane verlassen, die sonst im Theater, in dem das Visuelle, das realistische Abbild dominiert, wenig zählen. Damit gelang es Maeterlinek, die aus dem Theater lang verbannt gewesenen primären Sinneseindrücke – auf ganz elementare Reize bezogenes Hören, Riechen, Schmecken, Tasten – auf dem Umweg zwar über eine symbolträchtige Zustandsschilderung (als Konzession an das Realismusprinzip) wieder in das Theater zu holen. Er ahnte, daß das Theater der Ort sein kann, wo der rein vernunftorientierte Mensch sich seinen Sinnesempfindungen wieder hingeben wird können, wo er als ganzheitliches sinnliches Wesen ernst genommen werden wird. Damit war der Schritt zum Theater der elementaren Empfindungen, in dem die synästhetische Verquickung der Sinne eine große Rolle spielt, getan.

Die vollständige Ablösung vom traditionellen Theater vollzog dann logischerweise ein Maler, und zwar ein Pionier der abstrakten Malerei: der Russe Wassily Kandinsky. Überhaupt sollten die wichtigsten Erneuerungen des Theaters in den ersten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts im wesentlichen von bildenden Künstlern angeregt werden. Wassily Kandinsky (1866–1944) veröffentlichte 1912 im Almanach "Der Blaue Reiter", dessen Herausgeber er gemeinsam mit Franz Marc war, seine Bühnenkomposition "Der Gelbe Klang". (6) Bereits in der Titelgebung spielte Kandinsky ausdrücklich auf synästethische Erscheinungen an und stellte in Aussicht, daß des Zuschauers Sinnesempfindungen einem Reizschauer ausgesetzt werden würden. Sicherlich hatte Kandinsky Kenntnis von den Farbenmusik-Experimenten seiner Zeit – auf diesem Feld hatten, wie bereits erwähnt, A. Skrjabin, aber auch der mit Kandinsky in Kontakt stehende Arnold Schönherg in seinem Musikdrama "Die glückliche Hand" (1910–1913) experimentiert –, sodaß es nicht weiter verwunderlich ist, daß er das Thema der strukturellen Korrespondenz zwischen elementaren künstlerischen Ausdrucksmitteln auch am Theater erproben wollte. Dazu brachte er als Auffrischung der verknöcherten Theaternormen, die dem Maler am Theater nur einen dienenden Part, den des illusionistischen Dekorationsmalers spielen lassen wollte, seine Kompetenz als Maler ein, und zwar eines Malers, dem die Kunst des 20. Jahrhunderts das erste gegenstandslose Bild (1911) verdankt. Überhaupt wurden in dieser Aufbruchszeit die traditionellen Kompetenzzuweisungen in den Künsten stark angezweifelt und in Frage gestellt.

Der Weg der Künstler zu den abstrakten, primären und absoluten Elementen ihrer jeweiligen Kunstdisziplin hatte die Einheit aller Elemente trotz der Verschiedenheit der Künste offenbart. Zum erstenmal konnte daher gewagt werden, die eigene, eindimensionale Spezialisierung zu überwinden, um das große Projekt der Synthese aller Künste, an dem bis heute gearbeitet und gerungen wird, ins Auge zu fassen. Für Kandinsky bildete sein glühender Glaube an eine innere Identität der verschiedenen künstlerischen Mittel, mochten sie äußerlich noch so verschieden sein, die theoretische Basis seines gewiß damals sehr umstrittenen Versuchs einer Vereinigung der Künste. Da es Kandinsky klar war, daß seine Bühnenkomposition "Der gelbe Klang" – mit welcher er die gesamte Theatertradition verabschiedete und einen Aufbruch in eine noch fremde Theaterwelt andeutete – aus vielerlei Gründen erklärungsbedürftig war, erläuterte er seine Absichten in einem dem "Gelben Klang" vorangestellten Aufsatz, der den Titel "Über Bühnenkomposition" (7) trägt. Darin kritisierte Kandinsky die künstlerische Position des 19. Jahrhunderts, und zwar die der Spätphase des vorigen Jahrhunderts, in der die offiziös anerkannte Kunst der Gründerzeitgeneration nach Darstellung der materiellen äußeren Wirklichkeit, gesteuert und gebremst durch die Normen des sogenannte guten Geschmacks der bürgerlichen Gesellschaft, strebte. Dagegen wandte sich der expressiv gestaltende Künstler des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts, denn dieser wollte den Gegenstand von seiner äußeren Erscheinung entkleiden, um ins Innere, zu seinem Kern, vorzustoßen – der kleinsten und daher ungegenständlichen Einheit. Kandinsky schilderte das Erlebnis dieser Entdeckungsreise des Künstlers in das Innere einer Erscheinung folgendermaßen: "Es verschwindet plötzlich der äußere Schein jedes Elementes. Und sein innerer Wert bekommt vollen Klang." (8) Später wird man sachlicher über die abstrakten Gestaltungsmittel der Künste sprechen können, zur Zeit des Expressionismus jedoch bekommt das abstrakte Element, die gegenstandslose Form eine besonders geistige als auch seelisch-expressive Kraft zugesprochen. Auch Kandinsky mußte zuerst eine Sprachregelung treffen, wie er über diese abstrakten Gestaltungskräfte seiner Kunstform sprechen sollte. Es erschien ihm adäquat, einstweilen Termini der Musik zu übernehmen, weil diese immer schon abstrakte, rein sinnesbezogene Vorgänge bezeichnen mußten. Sehr von der Musik bestimmt war daher auch Kandiskys Vorstellung vom Theater als einer Bühnenkomposition, die – in der ersten Bedeutung des Wortes "Komposition" – eine Zusammenstellung von Dingen – hier: eine wahrhaftige Verschmelzung der verschiedenen Künste am Theater unter Zuhilfenahme des Schmelzmittels Musik (Thomas v. Hartmann überließ er den musikalischen Teil des "Gelben Klangs") – bedeutete. Wie nun sah in Kandinskys Bühnenkomposition das Zusammenspiel der verschiedenen Künste aus und wie hatte er ihr Beziehungssystem untereinander geordnet bzw. geregelt? In Kandinskys "Gelbem Klang" war alles auf eine monumentale Ausdruckssteigerung ausgerichtet, die er durch ein wahres Crescendo oder im Gegenteil – durch ein Decrescendo der reinen, absoluten Elemente der verschiedenen im Theaterereignis eingesetzten Kunstmittel durch ihre Abstraktion zum erstenmal nun auch miteinander legierbar – erreichen wollte. Sein Ziel war: "einen bestimmten Klang einer Kunst durch den identischen Klang einer anderen Kunst zu unterstützen, zu stärken und dadurch eine besonders gewaltige Wirkung zu erzielen." Der "Gelbe Klang" stand – allerdings war diese Verbindung von Kandinskys nicht offen ausgesprochen allenfalls in einem strukturellen Kontakt mit dem mittelalterlichen Symbolspiel, in dem Farbe, Form, Gestus und Sprache – abgehoben von ihrer äußeren Erscheinung – Symbole für einen höheren, göttlichen Zusammenhang darstellten. Daß dieses Symbolspiel für Kandinsky ein Vorbild gewesen sein könnte, läßt eine dem "Gelben Klang" beigefügte Illustration, und zwar ein mittelalterlicher Holzschnitt – auf dem eine Stadt, Menschen und Tiere, also Kultur und Natur in einem inneren Zusammenhang zu sein scheinen – indirekt vermuten. Symbolträchtig waren auch die sechs farbigen, sich unmerklich wandelnden Bilder, die Kandinsky vor den Augen des Zuschauers auf einer Bildbühne vorübergleiten ließ, untermalt von Klängen, die ein Chor und ein Tenor, für das Publikum nicht sichtbar, hinter der Bühne erzeugten. Auf der Bühne bewegten sich, ohne in eine reale Handlung verknüpft zu sein, sondern als Farbenträger oder als Bewegungselement eingesetzt: Menschen in Trikots, Menschen in losem Gewand und undeutliche Wesen; aber auch ein Kind, das als irrationales, zu wenig vernunftbegabtes Wesen im Theater der rationalen Erwachsenewelt weitgehendst ausgeschaltet und unterrepräsentiert war, sowie "Fünf Riesen", die sich in das Bühnengeschehen ohne Sinn mischten. Mit dieser reliefartigen bewegten Bilderfolge – von Tönen und Klängen untermalt –, in der das Spiel des farbigen Lichtes, der Farbe überhaupt ein eigenständiger mitspielender Faktor war, sollte im Zuschauer eine "Seelenvibration" erzielt werden. Kandinsky wollte keine rationale Botschaft verkünden, sondern der "Gelbe Klang" appellierte vor allem an die Macht der Empfindungen im Zuschauer als eine dem abstrakten Spiel äquivalente, das heißt elementare sinnliche Reaktion.

Daß die in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gesetzten Impulse für eine Erneuerung des Theaters in der Regel von nicht-professionellen Theaterschaffenden kamen, lag gewiß auch im Streben der Künstler dieser Aufbruchszeit, aus ihren Einzeldisziplinen auszubrechen und ein Gesamtwerk aus dem neuen Geist zu komponieren. Alle Kunst- als auch Lebensbereiche waren von den einschneidenden technischen und gesellschaftspolitischen Veränderungen gleichermaßen betroffen, so daß eine Generalrevision aller tradierten Werte angebracht zu sein schien. Das Theater als Experimentierstube und Modell ganzheitlicher Vorstellungen aus der Sicht der Modernität bot sich an. So auch für die Architekten des deutschen Expressionismus, die während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg nichts zu bauen hatten, aber im Planen von Architektur-Schauspielen ein Ventil für ihre architektonischen Zukunftsvisionen fanden. Der Architekt Bruno Taut entwarf 1920 ein Architektur-Schauspiel für symphonische Musik, das er "Der Weltenbaumeister" (9) nannte; das Schwergewicht lag dabei auf den raffinierten Illustrationen Bruno Tauts, die den Hauptteil des Szenariums ausmachten. Darauf ziehen in verschiedene Bildphasen zerlegt expressive Form- und Farbmetamorphosen am Betrachter vorbei. So zum Beispiel eine Kathedralenform, die sich langsam ins Bild schiebt und dann explosionsartig zerbirst; die Explosionsteile – Atome nun – formieren sich im Weltall, ein Sternenkosmos leuchtet auf, Meteore fallen, Kristalle bilden sich, die Erdkugel wird sichtbar, ein Regenbogen, Menschenhütten und zum Schluß das Kristallhaus, die Krone der expressionistischen Architektur-Schöpfung: funkelnd und herrlich. Untermalt sollte diese architektonische Symphonie von Musik sein – ganz im Sinne synästhetischer Empfindungen bestand ein enger Konnex von Farbe und Ton. Ihre Verschränkung stellte sich Bruno Taut folgendermaßen vor: "Die Farbe klingt, die Formen klingen – Farben und Formen als reine ungebrochene Elemente des Alls tragen den Ton. Die Geburt des Musikwerks geschieht ohne Zwang aus ihnen und ebenso zwanglos wird die Formen- und Farbenschöpfung aus dem Musikwerk geboren." (10) Auf die Frage, ob das Theater der Empfindungen auch nach zwei Weltkriegen in irgendeiner Weise als theatralischer Typus erhalten geblieben ist, gibt indirekt der Musikpsychologe Anschütz eine Antwort. Dadurch, daß er kurz auf das Problem des künstlerischen Hervorrufens von Synästhesien eingeht, fällt bei ihm auch das Stichwort "Mescalin", das ein diese Farbtonempfindungen künstlich auslösendes Rauschmittel ist. Damit ist die Verbindung zu den späten fünfziger Jahren hergestellt, einem Zeitabschnitt, in dem vor allem in Amerika in Underground-Bereichen der Kunst auch mit Drogen (LSD und Mescalin) experimentiert wurde, um die halluzinatorischen Empfindungen als künstlerische Inspiration auszubeuten. Die im Rauschzustand als Bewußtseinserweiterung erfahrenen Doppelempfindungen wie eben intensives Farbenhören wurden in sogenannten Mixed-Media-Aufführungen oder Light-Shows, aber auch im psychedelischen Film weitergegeben.
THEATER DER WIRKLICHKEIT
Parallel zu den Bemühungen Kandinskys um ein handlungsloses und elementares Theater, in welchem die Stimulierung der Empfindungen zum höchsten theatralischen Ereignis erklärt wurde, gab es zwischen 1910 und 1920 eine Bewegung in der europäischen Theateravantgarde, deren Anliegen es war, die "rohe" Wirklichkeit als Formmaterial in das Theater zu holen. Und wiederum waren es Außenseiter auf dem Gebiet des professionellen Theaters, die die Grenze, die dem Theater bei seiner Wirklichkeitsdarstellung aus Gründen der Konvention gesetzt war, überschreiten wollten. Sie strebten allerdings keine Abbildung der Wirklichkeit im Sinne des Wirklichkeits-Verständnisses der Naturalisten, Realisten, aber auch Neuromantiker oder Symbolisten, die mit Teilwirklichkeiten arbeiteten, an. Für diese nämlich bedeutete die Realität nur Fundus für ein wirklichkeitsgetreu erzähltes Szenarium, das einer Idee unterstellt und zudem an die Bedingungen des im Theater Möglichen angepaßt war. Dagegen hatte der eigenwillige deutsche Schriftsteller Paul Scheerbart (1863–1915), der in seinen ironischen Kurzdramen das absolute Theater antizipierte und auf Grund seiner "Glasphantasien" mit dem Architekturexpressionisten Bruno Taut in Kontakt stand – eine viel totalere, umfassendere Vorstellung, wie die "Wirklichkeit" als Theaterstoff verwendbar wäre. Sein dramaturgischer Einsatz der Wirklichkeit – in ihrer jeden Theaterrahmen sprengenden Totalität – lief darauf hinaus, daß das Theater verlassen werden mußte. Zum Darstellungsort wurde die "Welt" selbst erklärt, das Handlungsgeschehen nur in Form von Anweisungen skizziert, kurzum: das moderne Leben – von kleinen Eingriffen Paul Scheerbarts abgesehen – war theatralischer Schauplatz genug. In seinem "Oratorium für Ballongondeln" (11), um 1910 oder 1911 verfaßt, sollten am Nachthimmel von Dresden Ballongondeln, in denen Orchester und Chöre untergebracht worden wären, aufsteigen, um dort oben in den Lüften Sphärenmusik zu spielen. Ein Scheinwerfer hätte die Funktion eines Dirigentenstabs übernommen zur musikalischen Leitung des am Himmel schwebenden Orchesters. Diese Handlungsanleitung war außerordentlich revolutionär, band sie doch Natur, Zivilisation und Kunst zu einer verblüffenden Synthese. Durch diese Verwobenheit von neuer Technik (Luftschiffahrt), Kunst (Musik) und Natur (Element: Luft) suchte Scheerbart eine unerhörte Erlebnistotalität und infolgedessen auch eine Erweiterung des Kunstbegriffs zu erreichen. Mit Hilfe dieser "Luftmusik", wie sie Scheerbart nannte, sollten neue Klangwirkungen erzeugt werden, und zwar dadurch, daß "die Musik und der Gesang immer wieder von einer anderen Seite und immer wieder aus einer anderen Lufthöhe herunterkommen könnte." (12)

Eine andere Form, das Theater zum Schauplatz "wirklicher" Ereignisse werden zu lassen, war das Prinzip der Collage bzw. der Montage von Realitätsfragmenten und absoluten Formen zu einer heterogenen Theatersynthese. Der unbestrittene Meister der Collage war der Dadaist und Merz-Künstler Kurt Schwitters (1887–1948), dem sie – die Merz-Collage -ein so universales Gestaltungsprinzip darstellte, daß er in der Malerei das Merz-Bild, in der Dichtung das Merz-Gedicht, in der Architektur den Merz-Bau und für das Theater die Merz-Bühne forderte. Neben Wirklichkeitseinschlüssen in Form von "objets trouvés" in das Merz-Bühnenbild, das zum Hauptträger des dynamischen Bühnengeschehens erklärt wurde, sah Schwitters die Verwendung elementar belassener Gestaltungsmittel wie Ton, farbiges Licht, abstrakte Formen vor. Für die Aufführung und Gestaltung des Merz-Bühnenwerks hatte Schwitters einen detaillierten Materialplan ausgedacht sowie eine Bewegungs- und Tonregie erstellt, mit der er die Beziehung zwischen gegenständlichen und abstrakten Objekten folgendermaßen regelte: "Materialien für das Bühnenbild sind sämtliche festen, flüssigen und luftförmigen Körper, wie weiße Wand, Mensch, Drahrverhau, Wasserstrahl, blaue Ferne, Lichtkegel. Man verwendet Flächen, die sich verdichten oder in Gewebe auflösen können … Man lasse Dinge sich drehen und bewegen und lasse Linien sich zu Flächen erweitern … Materialien für die Partitur sind sämtliche Töne und Geräusche, die durch Violine, Trommel, Posaune, Nähmaschine, Ticktackuhr, Wasserstrahl usw. gebildet werden können." (13) Gegenüber der Scheinwirklichkeit einer am traditionellen Theater erzählten bzw. dargestellten dramatischen Handlung – in der die Wirklichkeit" nur als Reflex oder Spiegelung einer außerhalb des Theaters stattfinden Wirklichkeit aufscheint – besaßen die Objekte der "Merz-Bühne" eine Autonomie, bar jeglicher Rückversicherung auf eine Bühnenwirklichkeit, die eine illusionäre ist. Auf Schwitters' Bühne fand sozusagen eine wirkliche Materialschlacht statt, die sich auch keinem logischen Prinzip einer diskursiven Geschichte beugen mußte, sondern die Bühnenelemente bewegten sich nach Gesetzen, auf denen sie auch wirklich beruhten, zudem stellten sie sich nur selber dar und wollten darüber hinaus – in Treue zu ihrem Material- und Objektcharakter – nicht anders gelten. Die programmatischen Vertreter eines primär physischen Theaters, in dem der Zuschauer mit visuellen als auch akustischen Reizen – die so elementar und ungeschminkt belassen wurden, als wären sie von der Straße des Lebens weg ins Theater geholt worden – konfrontiert wurde, waren die italienischen Futuristen. Sie waren es, die das vom Bildungsbombast der letzten 2000 Jahre befrachtete Theater entrümpelten, es lüfteten, entstaubten und seine Tore weit öffneten, damit darin das als alogisch, chaotisch, dynamisch und absurd erfahrene moderne Leben, in dem der anthroprozentische Standpunkt durch den unglaublichen Triumph der Technik ins Schwanken geraten war, seinen Einzug halte. Das Leben im Theater sollte dem zivilen Leben draußen, in dem die Telephone klingelten, die Maschinen stampften, das Radio plärrte, die Automobile rasten und der Massenmensch zum uniformen Verhalten am Fließband der Fabriken gezwungen wurde, gleichen. Die futuristischen Proklamationen eines neuen Theaters (14) überstürzten sich: F. T. Marinetti (1876–1944), der 1909 in Paris den Futurismus ausgerufen hatte, forderte ein "théâtre aeroradiotelévisé"; Mario Scaparro verfaßte "Aerosynthesen", in denen Flugzeuge wie Menschen agierten; und auch Pino Masnata, in dessen "Synthèse radiophoniques" der in einen Ballsaal brandende Flugzeuglärm eine wichtige dramaturgische Rolle spielt, zollte dem von den Futuristen maßlos bewunderten Aeroplan seine Verehrung. Für die beabsichtigte Erfassung des ganzen modernen, zivilisatorischen Lebens am Theater hatten die Futuristen eine scheinbar zur Komplexität des Lebens in Widerspruch stehende dramaturgische Form gefunden – nämlich das Kurz-Drama, den schnellen Plot, das Dramolett. In einem kurzen schnellen Ausleuchten einer Situation wurde ihre Totalität erfaßt; ein schnelles Streiflicht auf das Leben gerichtet, sollte aus dem rasenden Fluß des Lebens ein beliebiges Detail herausholen. Die futuristische Methode bestand also darin, daß sie durch Konzentration der Lebensvielfalt Herr wurde. Die Futuristen arbeiteten aber auch mit Archetypen, mit Masken; sie erlaubten sich psychologische Ungereimtheiten in ihren Sketches, sie reduzierten die Handlung auf die bloße Intrige und in ihren Kurz-Dramen hielten sie absurde, alogische, sinnlose Begebenheiten fest.

Geschult waren sie alle am Varieté und an den Music-Halls, den großstädtischen, vom Bürgertum verachteten Vergnügungsstätten par excellence, die sie als Keimstätte des neuen, zukunftsträchtigen Theaters bewunderten. Denn im Varieté gab es all die technischen Effekte, insbesondere die der Elektrizität, all die physischen Attraktionen der Exzentrik-Akrobaten, die absurden Slapsticks der Clowns, die mechanischen Effekte der Schnellrechner und Taschenspieler, die von den Futuristen in ihrem "synthetischen Theater" gleichfalls angestrebt wurden. Für die theatralische Momentaufnahme des modernen Lebens entwickelten die Futuristen das sogenannte "synthetische Theater", das eine Fülle spezieller, ganz revolutionärer dramaturgischer Techniken barg, die allein geeignet waren, die binären, parallelen als auch simultanen Situationen des Lebens zu erfassen. In den futuristischen Simultan-Stücken etwa – sie alle von nur minutenkurzer Dauer – werden zwei widersprüchliche oder analoge Realitäten fusioniert. So ließ Marinetti in seinem 1915 entstandenen Simultan-Stück, das den gleichlautenden Titel "Simultanéité" trägt, zwei ganz unterschiedliche Wirklichkeiten aufeinanderprallen: Die Welt der Kokette auf die des Spießbürgers. Zu diesem Zweck bediente sich Marinetti des simplen Tricks, zwei nebeneinanderliegende Wohnungen zu öffnen und ihre unterschiedlichen Bewohner – eben eine Kokette und eine bürgerliche Familie – nebeneinander, also parallel agieren zu lassen. Damit war der Bruch mit der klassischen Linearität einer Geschichte vollzogen und der Weg frei für die überraschenden Offenbarungen des Prinzips der Simultaneität. Einen ebenfalls einschneidenden Bruch in das traditionellerweise von Menschenschicksalen handelnde Theater vollzogen die Futuristen, indem sie das "Drame d'objets" kreierten. Der anthropozentrische Standpunkt wurde zugunsten einer unerhörten Autonomie des Objekts aufgegeben, das von ihnen nun in den Mittelpunkt des theatralischen Geschehens gestellt wird. In dem Kurz-Drama "Ils vont venir" von Marinetti aus dem Jahr 1915 werden Stühle gerückt, ein Tisch gedeckt, Sitzkissen verteilt – aus nichts anderem als diesen einfachen Vorgängen besteht die Handlung. Diese Ereignislosigkeit bewirkte, daß die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die genaueste Beobachtung der Gegenstände gelenkt wurde. Unter anderem war dies eine der vielen Methoden, die die Futuristen anwandten, um das Publikum durch Brüskierung traditioneller Erwartungen zu verunsichern. Sie sind Legion, die futuristischen Blitzeinfälle, die dramaturgischen Knalleffekte, die Überraschungsattacken auf das bürgerliche Publikum, das zu tumultuösen Handlungen gegen die futuristischen Darbietungen bewußt provoziert wurde, was genau in den Regieplan der Futuristen paßte: Die Aktivierung des passiven Zuschauers mit allen Mitteln in Gang zu bringen, sollte eine der wichtigsten Errungenschaften des experimentellen Theaters des zwanzigsten Jahrhunderts werden. Wie unerhört war aber auch die Gleichschaltung des Theaters mit der Wirklichkeit: Auf der futuristischen Bühne wurde die Wirklichkeit nicht reproduziert, sondern die "Wirklichkeit" selbst hatte ihren Auftritt – schufen doch die Futuristen auch Szenarien mit Auftrittsmöglichkeiten selbst für Tiere, deren Reaktionen unberechenbar wie eben die Natur waren. Francesco Cangiullo schrieb 1915 eine Handlungsanleitung, die er "Pas même un chien" nannte und die nur aus dem Auftritt eines die Bühne von links nach rechts überquerenden Hundes bestand. Wahrscheinlich ein gekonnter Dressurakt; was aber darin zum Ausdruck kam, war die Sehnsucht der Futuristen, daß Kunst und Leben eins werde. Viele der futuristischen Ideen sind später dann – in den fünfziger Jahren – vom Theater des Absurden, das sich als eigenes Genre etabliert hatte, aufgegriffen, verfeinert und erweitert worden. Aber auch der fließende Wirklichkeitsbegriff des futuristischen Theaters, auf Grund dessen Theater und Wirklichkeit zu austauschbaren Faktoren wurden, erwies sich als überaus tragfähige Basis, auf der heutzutage das Happening oder die mehr musikorientierte Fluxus-Bewegung aufbauen. Reste von futuristischem Sprengstoff stecken gewiß auch noch im sogenannten "Unsichtbaren Theater" des Brasilianers Augusto Boal. (15) In diesem als "unsichtbar" apostrophierten Theater agieren die Schauspieler – vom Publikum unerkannt, weil sie sich nicht als Schauspieler deklarieren – in Metro-Stationen, in Supermärkten oder ähnlichen Schauplätzen des Alltagslebens nach nur ihnen bekannten Szenarien, um soziale und gesellschaftliche oder politische Ungerechtigkeiten den unwissend in die Aktion einbezogenen Passanten aufzudecken.
THEATER ALS SCHAUMASCHINERIE
Etwa ab den zwanziger Jahren, als die seelentiefen Empfindsamkeiten des Expressionismus wie auch die grellen theatralischen Überraschungseffekte der Futuristen oder die aggressive Schockwirkung Dadas einem neuen Trend weichen mußten, und zwar der Suche nach einer neuen Stabilität, kurzum: sich der Konstruktivismus zu etablieren begann, machte sich auch in den Theaterexperinnenten eine neue Gangart bemerkbar. Generell kann gesagt werden, daß sich im Zuge der Suche nach konstruktiver Ausgeglichenheit – wie sie in den abstrakt-geometrischen Bildern der holländischen De Stijl-Gruppe oder aber in den "Bildarchitektur" genannten Kompositionen des ungarischen Konstruktivisten Lajos Kassák zum Ausdruck kam – am Theater gleichfalls eine Wende abzeichnete. Es verlagerte sich der Schwerpunkt von der formalen als auch inhaltlichen Erneuerung des Schauspiels auf die Gestaltung der "Absoluten Schaubühne", aber auch auf die architektonische Neufassung der Bühne bzw. des ganzen Theaters; allerdings immer unter Einbezug der Erkenntnisse, die die Futuristen, die Expressionisten und die Dadaisten für die Schaffung eines neuen multimedialen theatralischen Schauereignisses ein für allemal erbracht hatten. Darauf aufbauend wurde von den konstruktivistischen Bühnenkünstlern die theatralische Aktion in abstrakte Formelemente zerlegt und unter Anwendung durch neuzeitliche Technik ermöglichte Mechanisierungstechniken zu einem kinetisch-mechanischen Raum-Zeit-Gebilde synthetisiert. Ein frühes Beispiel für solch ein mechanisches Theater ist das Projekt "Mechano" (16) des Stuttgarter Malers Willi Baumeister (1889–1955), der schon sehr früh konstruktivistisch malte und vom Neoplastizismus (malerisches Prinzip der Aufteilung der Bildfläche in Quadrate und Rechtecke) der holländischen De Stijl-Bewegung beeinflußt war. Ursprünglich war das "Mechano", das 1921 in dem tschechischen Avantgarde-Blatt "Pásmo" publiziert wurde, als mechanisches Relief konzipiert, in dem aber nach den eigenen Worten Willi Baumeisters noch viel mehr steckte: "In Mechano in großen Dimensionen und längerer Laufdauer wäre das moderne "Schauspiel" real, plastisch, dynamisch." (17)

Daher kann das "Mechano"-Projekt durchaus als paradigmatisches Modell für das Maschinentheater, an dessen Formgebung viele Künstler gleichzeitig arbeiteten, herangezogen werden. Entbunden von irgendeiner literarisch vorgegebenen Handlung (wie eine solche im futuristischen "synthetischen Theater" rudimentär vorhanden war; oder auch noch im abstrakt expressionistischen Theater, in dem menschliche Figuren wie Schattenwesen auf der Bühne vorbeizogen) konnte der konstruktivistische Bühnenkünstler, wenn er nicht an die Theaterpraxis gebunden war wie etwa die russischen Theaterkonstruktivisten, den Theaterprozeß wie auch jedes Formelement darin selber bestimmen. Seine Allmacht war grenzenlos; ermöglicht wurde sie ihm durch das Instrument der Abstraktion, das ihm gestattete, das an und für sich komplizierte, arbeitsteilig organisierte Gebilde Theater ganz allein zu gestalten und zu bestimmen. Willi Baumeister trat mit seinem "Mechano"-Theater die Alleinherrschaft des bildenden Künstlers der zwanziger Jahre auf dem Experimentierfeld des Theaters an und bewies auch, daß er in der Lage war, den gesamten Theaterbereich, indem er ihn auf das Elementar-Abstrakte reduzierte, neu zu organisieren. Das "Mechano" von W. Baumeister war als Maschine ohne praktischen Zweck konzipiert und diente nur der "künstlerischen Kraftentfaltung". Wie er sich diese vorstellte, illustrierte er anhand von Entwürfen, die dem "Mechano"-Manifest beigefügt waren, sodaß man sich etwa folgendes Bewegungsbild vorzustellen hat: Vor dem Hintergrund einer mit farbigen Motiven bemalten Leinwand, die über zwei Zylinder läuft, dreht sich links eine Achse mit peripherischen Stücken im Kreis, während sich rechts eine Scheibe mit aufgesetzten Glashalbkugeln, die in Intervallen beleuchtet werden, bewegt; sodann gerät ein Waagebalken in gewissen Abständen aus dem Gleichgewicht; klanglich untermalt wird dieses Bewegungsspiel von einer Glocke und einem Geräuschkasten.

Die Bewegung ist das oberste Prinzip des "Mechano"; dementsprechend detailliert sind die Anweisungen, die Willi Baumeister gab, um die Möglichkeiten des Mechanismus seiner Theater-Wünsche vorzuführen: "Anschwellungen, Fortissimi der Bewegungen usw. Pausen, Geräusche, Tonfolgen, signalartige und totale Beleuchtung (Lichtkörper) sind in eine spannungserzeugende Zeitfolge komponiert. Unterschieden werden z.B. Taktbewegungen, Parallelbewegungen, gegensätzliche. exzentrische und kombinierte Bewegungen." (18) Das "Mechano"-Projekt von W. Baumeister hätte, wäre es realisiert worden, trotz aller formaler Erneuerungen durchaus auf einer traditionellen Bild- und Guckkastenbühne aufgeführt werden können. Die Sprengung jedoch gerade dieses Bühnentypus, der seit der Renaissance für das Theater verbindlich war, wurde zu einem Hauptziel des Theaters der zwanziger Jahre erklärt. Für das von den Theatererneuerern propagierte "Theater der mechanischen Bewegung" – in dem eine ganz neue Dramengattung zur Aufführung gelangen sollte, nämlich das "Bewegungsdrama" – konnte die alte Bühnenform nicht mehr genügen. Ganz radikal hatte daher der russische Konstruktivist El Lissitzky (1898–1941), der wegen seiner langjährigen Aufenthalte in Westeuropa gute Kontakte auch zur konstruktivistischen Bewegung westeuropäischer Prägung hatte, die traditionelle Bühnenform verändert. Daß dies auch sein deklariertes Ziel war, kann den einführenden Worten zu seinem Entwurf einer "elektro-mechanischen Schau", der zwischen 1920 und 1921 entstanden ist, entnommen werden: "Vorliegendes ist das Fragment einer Arbeit, die aus der Notwendigkeit, den geschlossenen Kasten des Schautheaters zu überwinden, entstanden ist," (19) El Lissitzky, der übrigens den neuen Künstlertypus seiner Zeit – den Künstleringenieur – ideal repräsentierte, schuf den Typus der "Schaumaschinerie", die eine Bühnenkonstruktion war, die unzertrennbar mit den dynamischen, optophonetischen Ereignissen der auf ihr zur Aufführung gelangenden "elektro-mechanischen Schau" verbunden war. Gegenüber der traditionellen Bühnenform, die immer nur den passiven baulichen Rahmen für das szenische Spiel abgab, hatte die "Schaumaschinerie" an Autonomie gewonnen, weil sie auf Grund der mechanisch bewegbaren Bauteile ihrer Bühnenkonstruktion in das Spiel selbst aktiv eingriff. Ein guter Teil des Bewegungsszenariums von El Lissitzky galt daher der neugeschaffenen Bühnenkonstruktion, für die er sich folgende Bewegungsvorrichtungen ausgedacht hatte:

Wir bauen auf einem Platz, der von allen Seiten zugänglich und offen ist, ein Gerüst auf, das ist die SCHAUMASCHINERIE. Dieses Gerüst bietet den Spielkörpern alle Möglichkeiten der Bewegung. Darum müssen seine einzelnen Teile verschiebbar, drehbar, dehnbar usw. sein. Die verschiedenen Höhen müssen schnell ineinander übergehen. Alles ist Rippenkonstruktion, um die im Spiel laufenden Körper nicht zu verdecken." (20) Die zum theatralischen Selbstzweck deklarierte Bewegung mußte allerdings unter Kontrolle gehalten werden; diese – sehr wohl als kreativ zu verstehende – Aufgabe übertrug Lissitzky dem sogenannten "Schaugestalter". Ihm hatte er eine omnipotente Funktion innerhalb der "elektro-mechanischen Schau" zugedacht, dessen Kompetenzen er genau umriß: "Sein Platz ist im Mittelpunkt des Gerüstes, an den Schalttafeln aller Energien. Er dirigiert die Bewegungen, den Schall und das Licht. Er schaltet das Radiomegaphon ein, und über den Platz tönt das Getöse der Bahnhöfe, das Rauschen des Niagarafalles, das Gehämmer eines Walzwerkes. An Stelle der einzelnen Spielkörper spricht der SCHAUGESTALTER in ein Telefon, das mit einer Bogenlampe verbunden ist, oder in andere Apparate, die seine Stimme je nach dem Charakter der einzelnen Figuren verwandeln. … So bringt der SCHAUGESTALTER den elementarsten Vorgang zur höchsten Steigerung." (21) Die Grundlage für die "elektro-mechanische Schau", die im übrigen nie aufgeführt wurde, war jedoch immer noch ein Theaterstück, wenn auch ein zeitgemäßes, wie in diesem Fall die futuristische Oper "Sieg über die Sonne" von A. Krutschonich und M. Matjuschin, die bereits 1913 von Kasimir Malewitsch zum Anlaß genommen wurde, sein berühmtes "schwarzes Quadrat auf weißem Grund" als Bühnendekoration in die Oper einzuschleusen. Mit literarischen Szenarien als Anlaß für eine Bühnenraumgestaltung – auch wenn sie so total mechanisiert geplant war wie von Lissitzky – räumte dann der ungarische Konstruktivist Laszlo Moholy-Nagy gründlich auf. Der Begriff "Theater" oder "Schau" kam in seinem Projekt überhaupt nicht mehr vor, so radikal faßte er die Theatererneuerung auf. Im Jahre 1922– kurz bevor Moholy-Nagy (1895–1946) als Nachfolger des Malers Johannes Itten an das Bauhaus in Weimar berufen wurde – entstand in Form einer Collage eine Theaterutopie, die er "kinetische konstruktion, system, bau mit bewegungsbahnen für spiel und beförderung"(22) nannte. Für die neue technisch so hoch entwickelte Ära, die er anbrechen sah, und deren bewegungssüchtige Bewohner hatte er eine Turmkonstruktion geschaffen, die mit überreichem Bewegungsangebot (Rutschstange, Spiralrampe, rollendes Band und Fahrstuhl) für die Spieler, die zugleich auch die Zuschauer waren, geschaffen. Als Surplus war ein Drehmechanismus vorgesehen, der den Turm in Rotation setzen konnte – eine Bewegungsmultiplikation sondergleichen. Dafür gab es Vorbilder, auf die sich Moholy-Nagy beziehen konnte – nämlich auf die mechanischen Spielgerüste in den Lunaparks der Großstädte: "Tobogan" und "Achterbahn" hießen die damals neuesten und beliebtesten Vergnügungsmaschinen.

Eine Mittlerrolle zwischen extrem mechanistisch-abstrakter Spielform im Sinne einer "Theatermaschine" und einem Theater, auf dem der Mensch noch Mittelpunkt ist, nahm Oskar Schlemmer (1888–1943) ein. Im Jahr 1923 hatte der Maler und Bildhauer Oskar Schlemmer die Leitung der Bühnen-Abteilung des Bauhauses in Weimar übernommen; zuvor hatte dort der Expressionist Lothar Schreyer gewirkt. Oskar Schlemmer (23) wollte und konnte auf den Menschen, diesen "Organismus aus Fleisch und Blut", der "andrerseits auch der Träger von Zahl und 'Maß aller Dinge' (Goldener Schnitt)" war, nicht verzichten. Denn immer noch, so vermeinte Oskar Schlemmer, suche der Mensch auf der Bühne nach seinem "Ebenbild, dem Übermenschen oder nach der Phantasiegestalt". Seine einzige, aber großartige Korrektur, die Schlemmer vornahm (sehr eindrucksvoll im "Triadischen Ballett", an dem er seit 1912 arbeitete, verwirklicht), war, daß er den natürlichen Menschen "in Rücksicht auf den abstrakten Raum der Bühne diesem gemäß" umbildete. Er stellte in den kubischen Raum der Bühne den "Tänzermenschen", der ein Bewegungsprogramm auszuführen hatte, das an die Geometrie der Leibesübungen und an die exakten körperlichen Effekte der Equilibristen erinnerte. Der Zweck der Choreographie war die Erforschung der Raumbeziehungen, die anhand der wandlungsfähigen Figur des Tänzers auf mannigfaltigste Weise erforscht wurden. Mit Hilfe von abstrakten Kostümen verwandelte Schlemmer den Tänzer in eine "Gliederpuppe", in eine "Wandelnde Architektur" oder aber in einen "Technischen Organismus". Der Boden für die "mechanische Kunstfigur" war dadurch zwar vorbereitet, doch konsequent ausgeführt wurde das mechanisch-abstrakte Spiel erst von O. Schlemmers Schülern: wie z.B. "Das mechanische Ballett" von Kurt Schmidt, das "Bühnenspiel III" von F. W. Bogler und Kurt Schmidt oder die "Abstrakte Revue" von Anton Weininger. Die Bauhaus-Bühne, die es 1926 seit dem von Walter Gropius entworfenen Neubau des Bauhauses in Dessau als konkrete Schul- und Versuchsbühne für die Studierenden des Bauhauses gab, war als neutrale Podiumsbühne immer noch dem traditionellen Guckkastenprinzip verhaftet. Eine zukunftsweisendere Bühnenform wäre technologisch als auch finanziell nicht zu realisieren gewesen; außerdem verlangten die mechanischen Ballette oder Revuen, die von den Bauhausschülern entwickelt worden waren, noch nach keiner "Raumbühne" – so der Name der Zukunftsbühne. Unter dem Begriff "Raumbühne" oder "Raumtheater" können alle die baulichen Theatervisionen und die Reformideen zur Umgestaltung der Bühne zusammengefaßt werden. Sie sind in den frühen zwanziger Jahren antithetisch sowohl zum Raumprinzip des Guckkastentheaters als auch zur bildhaften Erlebnisform der Bildbühne konzipiert worden, 1926 wurde von dem Bauhausschüler Anton Weininger das Projekt eines "Kugel-Theaters" zur Überwindung des Guckkastentheaters vorgestellt. Die Zuschauer seines "Kugel-Theaters", die auf dem inneren Kugelrand untergebracht sein sollten, sahen sich einer völlig neuen Raumsituation gegenüberstellt. In der Vorstellungsphantasie Anton Weiningers löste die Kugelform eine wahre Kettenreaktion von verschiedensten Sinneseindrücken aus: "(Die zuschauer) befinden sich infolge übersicht des ganzen, infolge der zentripetalkraft, in einem neuen optischen, akustischen, psychologischen verhältnis; sie befinden sich gegenüber neuen möglichkeiten konzentrischer, exzentrischer, richtungsbeliebiger, mechanischer raumbühnenvorgänge." (24) Eine späte Umsetzung des "Kugel-Theater"-Projektes von A. Weininger, allerdings mit vielen Abstrichen, weil es einem anderen Kunstmittel, nämlich dem Film, gewidmet ist, stellt der "Géode" von Adrien Fainsilber dar – ein Kugelbau für die totale Filmprojektion –, der sich seit 1985 in La Vilette, auf einem mit Monumenten der "High-tech"-Kunst bestückten Areal in Paris befindet. Im Sinne einer modern abgewandelten Totalitätsvorstellung des barocken "theatrum mundi" hatten Weininger, aber auch andere, dem Theater eine planetarische Form gegeben: das Theater als Weltenkugel war eine typische Konzeption der zwanziger Jahre.

Zwei Jahre vor dem Kugel-Theater Weiningers hatte bereits der österreichische Theaterrevolutionär Friedrich Kiesler (1890–1965) seine Version der "Raumbühne", die gleichfalls aus der Negation der Bildbühne entstanden ist, realisieren können. (25)" Im Unterschied zu all den Papier gebliebenen Theaterprojekten seiner Zeitgenossen wurde die "Raumbühne" auch tatsächlich erbaut; für die Dauer von drei Wochen konnte sie in der Praxis des Spiels erprobt werden. Kieslers "Raumbühne" wurde als Präzedenzfall einer Zukunftsbühne auf der "Internationalen Ausstellung neuer Theatertechnik", die von September bis Oktober 1924 im Wiener Konzerthaus stattfand, in Holzbauweise mit einer Eisenskelettkonstruktion im Turminneren errichtet. Die "Raumbühne" entsprach ganz dem neuen Zeitgeist, der nach Klarheit, Funktionalität, Technizismus der Konstruktion und Einfachheit der Formen strebte, aber durch Beimischung irrationaler Werte wie Dynamik, Tempo, Vitalität zu Symbolfiguren der neuen technischen Ära gelangte. Durch das Formmotiv der 8er Schleife (in Anspielung auf die anonymen Ingenieurkonstruktionen der tollkühnen Achterbahnen) erhielt die "Raumbühne", ein elementarer, in offener Gerüstbauweise konstruierter Baukörper mit spiraliger Rampe, die heftige, dynamische Drehbewegung. Eine Dynamisierung des Bühnenraumes erfolgte aber auch durch die vertikale Staffelung der verschiedenen Spielebenen innerhalb des Bühnenturms, der bewirkte, daß markante Bewegungsvorgänge nötig waren, um vom obersten runden Spielplateau über Leitern zum darunterliegenden ringförmigen Spielband oder umgekehrt von der spiraligen Rampe zum Ring zu gelangen; ein in der Turmachse bis zum Ring laufender Aufzug ermöglichte zudem eine akzelerierte Vertikalbewegung. Auf diese Weise wurde der Bühnenkörper für den Schauspieler in seiner Breiten-, Tiefen- und Höhendimension erschlossen. Für den Schauspieler bedeutete es, auf eine bestimmte Funktion, die hauptsächlich seine motorisch-kinetischen Fähigkeiten betraf, festgelegt zu sein. Die abstrakte, mechanische Bewegung um ihrer selbst willen, das war das neue Spielideal des revolutionären Theaterkonstruktivismus, zu dessen Anhängern auch Friedrich Kiesler zu rechnen ist.
DAS TOTALTHEATER
Vor allem ein Theater-Projekt, das in den späten zwanziger Jahren zur Diskussion gestellt wurde – das "Totaltheater" von Walter Gropius, (26) sollte für die Zukunft des Theaterbaus bestimmend werden. Dem Architekten Walter Gropius (1883–1969), der bis 1928 das "Bauhaus" leitete und die Bestrebungen der Bauhaus-Bühne immer genau verfolgt hatte, war es gelungen, ein sehr modernes, aber dennoch nicht utopisch-unrealisierbares Theaterhaus zu entwerfen. Auf der Basis seines multi-variablen "Totaltheater", für das er 1928 das Deutsche Reichspatent Nr. 470451, Klasse 37 f erhielt, sollten die meisten deutschen Nachkriegstheater gebaut werden. Den Anlaß für die Entwicklung eines Baukonzeptes nach den funktionellen und rationalen Prinzipien des "Neuen Bauens", die besonders am "Bauhaus" für ganz Europa mitbestimmt wurden, gab ein Auftrag des in Berlin wirkenden Regisseurs Erwin Piscator. Dieser war einer der Begründer des politischen Theaters in Deutschland und verlangte ein Theater, das auf die neue Spielkonzeption des Agitationstheates zugeschnitten sein sollte. Die Bauvorgabe für Gropius lautete also: ein mit allen technischen Raffinessen wie Licht-, Ton- und Filmprojektion ausgestattetes Massentheater (flexibles Fassungsvermögen, ideale Sicht für alle Zuschauer und variable Bühnenformen). Daraus entwickelte Gropius das "Totaltheater"-Konzept, das sich als eine über den Entstehungsanlaß weit hinausreichende, zukunftsträchtige Theaterform erweisen sollte. Denn erst jene Idee der Variabilitat und der Bewegung von Bauelementen, die die Veränderbarkeit von Bühnenformen oder von Auditorien zum Ziel hatte, sollte sich als tragfähig erweisen, weil die Raumflexibilität nun kein ästhetischer Selbstzweck wie bei den mechanischen Schaugerüsten war. Sie war ein ganz und gar technisches Instrument, das es seinem Benutzer möglich machte, aus der reichen historischen und gegenwärtigen Vielfalt an Formen die gerade passende Bühnen- bzw. Auditoriumsform zu wählen. Auf dieser Basis der rationalen Begründung für Formvariabilität im Theater der zwanziger Jahre entstand das "Totaltheater" von Walter Gropius, der ein variables Bühnenhaus jenseits eines utopischen Ansatzes wie die meisten der Theatervisionen seiner Zeit geschaffen hatte.

(1)
Sämtliche Dichtungen des Jean Arthur Rimbaud, Nachdichtung: Paul Zech, München 1963, S. 55. zurück

(2)
Georg Anschütz (1886–1933). Deutscher Musikpsychologe, der seit 1920 an der Universität in Hamburg lehrte und dort in den Jahren von 1927–1931 Kongresse für Farbe-Ton-Forschungen veranstaltete. zurück

(3)
Alle folgenden Ausführungen über Synästhesie stützen sich auf die Studie von Georg Anschütz, "Das Farbe-Ton-Problem im psychischen Gesamtbereich", in: Deutsche Psychologie, Band V, Heft 5, Halle a. S. 1928. zurück

(4)
Zitiert nach L. Sabanejew, "Prometheus von Skrjabin", in: Der Blaue Reiter, Hrsg. Kandinsky und Franz Marc, 2. Aufl., München 1914, S. 57. zurück

(5)
Maurice Maeterlinck, Die Blinden, Drama in einem Akt, München 1896. zurück

(6)
Wassily Kandinsky, "Der Gelbe Klang", in: Der Blaue Reiter (zit. Anm. 4), S. 115–131 zurück

(7)
Wassily Kandinsky, "Über Bühnenkomposition", in: Der Blaue Reiter (zit. Anm. 4), S. 103–113 zurück

(8)
Ebd. zurück

(9)
Bruno Taut, Der Weltbaumeister, Architekturschauspiel für symphonische Musik, gezeichnet von Bruno Taut, Hagen i. W. 1920. zurück

(10)
Ebd. zurück

(11)
Paul Scheerbart, Regierungsfreundliche Schauspiele, Gesammelte Arbeiten für das Theater, Hrsg. Mechthild Rausch, Bd. 11, München 1977, S. 129–129. zurück

(12)
Ebd. zurück

(13)
Kurt Schwitters, "Die Merz-Bühne", in: MA, Musik und Theater, o. Jg., Reprint: Budapest 1970, o. S. zurück

(14)
Alle Ausführungen über das futuristische Theater stützen sich auf: Théâtre futuriste italien, Anthologie critique, 2 Bde., Hrsg. Giovanni Lista, Lausanne 1976. zurück

(15)
Augusto Boal, Theater der Unterdrückten, Frankfurt am Main 1979, S. 34–39, S. 74–82. zurück

(16)
Willi Baumeister, "Mechano (1921)", in: Pásmo (Brünn, o. Jg.) Nr. 4, S. 1. zurück

(17)
Ebd. zurück

(18)
Ebd. zurück

(19)
El Lissitzky, "Die elektro-mechanische Schau", in: MA (zit. Anm. 13), o. S. zurück

(20)
Ebd. zurück

(21)
Ebd. zurück

(22)
László Moholy-Nagy, von material zu architektur, Bauhaus Bücher 14, München 1929, S. 204 ff. zurück

(23)
Alle folgenden Zitate sind entnommen aus: Oskar Schlemmer, "Mensch und Kunstfigur", in: Die Bühne im Bauhaus, Neue Bauhausbücher, Hrsg. Hans M. Wingler, Faksimile Nachdruck nach der Ausgabe von 1925, Mainz und Berlin 1963, S. 7 ff. zurück

(24)
Anton Weininger, zit. nach: Raumkonzepte. Konstruktivistische Tendenzen in Bühnen- und Bildkunst 1910–1930, Katalog der Städtischen Galerie im Städelschen Kunstinstitut, Frankfurt am Main 1986, S. 189. zurück

(25)
Vgl. ausführliche Darstellung der "Raumbühne" von Friedrich Kiesler in: Barbara Lesák, Die Kulisse explodiert. Friedrich Kieslers Theaterexperimente und Architekturprojekte 1923–1925, Wien 1988. zurück

(26)
Walter Gropius, "Entstehung und Aufbau der Piscatorbühne", in: Erwin Piscator, Das Politische Theater, Reinbek bei Hamburg 1963, S. 123–128. zurück