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Ars Electronica 1988
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Film und Architektur: Schnittpunkte des Illusionismus


'Brian Henderson Brian Henderson

In "Designing Dreams: Modern Architecture in the Movies" von Donald Albrecht (Harper & Row: New York, 1986) finden wir einen recht brauchbaren Ansatz zum Thema "Architektur und Film". Albrecht vertritt hier die These, daß die Moderne in der Architektur (Sullivan, Wright, Le Corbusier, Mies van der Rohe, die Bauhaus-Designer und andere) sich entscheidend auf die Hollywoodfilme der zwanziger und dreißiger Jahre, besonders jene, die zwischen 1925 und 1939 entstanden sind, ausgewirkt hat. (Er hat auch den Einfluß der Architektur auf den europäischen Film zwischen 1916 und 1933 ein eigenes Kapitel gewidmet.) Albrecht liefert einen hervorragenden Überblick darüber und zeigt, wie sich die Architektur in einigen bekannten Filmdekors Hollywoods niedergeschlagen hat. Die vom Autor gewählten Fotobeispiele von Bauwerken und Filmdekors sind gut analysiert und dienen nicht bloß der Veranschaulichung seiner These, sondern machen die eigentliche These aus.

Das Buch wurde vom Museum of Modern Art New York mitfinanziert, obwohl es dazu keine Ausstellung gab. Im Vorwort wird die Teilnahme des Museums begründet und zugleich auf die Grenzen des Ansatzes von Albrecht hingewiesen. Ludwig Glaeser, ein Kurator der Abteilung für Architektur und Design am selben Museum, selbst Architekt und Filmliebhaber, schreibt: Eine Studie, die mit einer Gegenüberstellung von Architekturfotografien aus den reichhaltigen Archiven des Museums mit seinem riesigen Besitz von Standaufnahmen beginnt …(1) Die Aufnahmen von Filmdekors, die man in Albrechts Buch findet, sind daher von bestechender Schärfe und Anschaulichkeit. Die Standaufnahmen in den Sammlungen des Museums sind keine Vergrößerungen von einzelnen Kadern. Sie sind Aufnahmen, die während der Dreharbeiten selbst von Berufsfotografen gemacht wurden, die entweder in Ateliers arbeiteten oder für einen Film dazu verpflichtet wurden. Routinemäßig wurden die Hauptdarsteller für Werbezwecke in mehreren Schlüsselszenen fotografiert. Bekanntere Filmdekors wurden manchmal einfach um ihrer selbst willen fotografiert oder in Aufnahmen von einzelnen Schauspielern hervorgehoben. (2) Albrechts Verfahren besteht darin, zwei Gruppen von Fotografien zu vergleichen. Für eine frühere Generation von Filmkritikern hätte das, was er ausgespart hat, den Film ausgemacht. Die jetzige Generation, die man postsemiotisch nennen könnte, würde meinen, daß seine analytische Methode die Frage des filmischen Diskurses umgeht.

Der Geist des naiven Realismus ist vielleicht anderswo verdrängt worden, doch im Bereich Architektur und Filmdekor wirkt er noch nach. Die Signifikanten lösen sich hier auf, wenn es darum geht, daß das in jener Fotoaufnahme abgebildete Dekor Gegenstand unserer Analyse ist, von uns direkt angesprochen wird. Die jeweiligen Konnotationen ließen sich davon ableiten und überzeugend rnit Erzählung, Genre, Ideologie und Geschichte in Verbindung bringen. Doch Architektur und Filmdekors treten nicht vordergründig und direkt im Film auf, sie sind also nicht in oder an sich präsent. Filme schaffen zwar Repräsentationen von Architektur, doch es ist der filmische Diskurs, der die Produktion von solchen Repräsentationen steuert. Als eine bedeutungstragende Komponente in dieser Produktion funktioniert das Filmdekor nie autonom. Man könnte sogar sagen, daß das Dekor im Film gar nicht repräsentiert wird, dieses immer zusammen mit anderen Elementen auftritt, um eine neue Repräsentation zu produzieren. Das Dekor in einem Film ist also bestenfalls die Repräsentation einer Repräsentation, und dies nur in abgewandelter Form.

Kritiker wie Albrecht, die sich auf die kunsthistorischen Aspekte von Kulissen konzentrieren, sagen meistens nicht viel über die filmische Funktion aus. Letztere hat mit der Schaffung der Illusion einer Realität für das Auge des Zuschauers zu tun, d.h. auch eine Tiefenillusion. (Der Zuschauer hat beide Augen offen, während die Kamera nur eines hat.) In der Filmarchitektur wird üblicherweise Gebrauch gemacht von Fenstern, Türeingängen, Innenhöfen und anderen Konstruktionen, die sich für eine Bild-in-Bild-Komposition eignen, um den Eindruck der Entfernung zwischen aufeinanderfolgenden Ebenen der Darstellung zu verstärken. Verwendet werden auch falsche Perspektiven (Gegenstände und Figuren im Hintergrund werden etwa in kleinerem Maßstab hergestellt als jene im Vordergrund), um zusammen mit anderen Mitteln die Tiefenillusion zu schaffen.

Dieselben optischen Bedingungen, die die räumliche Illusion in Kulissen bedingen, erlauben auch den teilweise oder gänzlichen Ersatz solcher Dekors durch Modelle, die minutiös und maßstabgetreu nachgebaut sind. Es gibt auch eine Vielzahl von Techniken, die einzeln oder mit anderen eingesetzt werden, um mit mehreren Aufnahmen ein Bild zu erzeugen: Hintergrundprojektionen, Aufnahmen durch Glas hindurch, Aufnahmen mit statischen oder bewegenden Masken, das Schüfftan-Verfahren, die Verwendung der optischen Druckbank usw.

Solche Techniken kommen im klassischen Film viel häufiger zur Anwendung, als die meisten Kritiker und Theoretiker je erkannt oder zumindest zugegeben hätten. Andre Bazins theoretische Arbeiten sind vielfach kritisiert worden, aber seine kritische Verteidigung von Jean Renoir, Orson Welles, und den Neorealisten, insbesonders Roberto Rossellini haben nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Bazin lobte die überlegte Themenauswahl dieser Regisseure, die "romanhafte" Komplexität ihrer Erzählungen, ihre realistischen Aufnahmetechniken, insbesonders ihren Vorzug für Aufnahmen mit perspektivischer Tiefe, womit sie die Tiefe eines Bildes betonen, und ihren Verzicht auf den Schnitt.

Linwood G. Dunn, der die Bearbeitung des Films von "Citizen Kane" mit einer optischen Druckbank vorgenommen hat, erinnert sich in seinem Aufsatz von 1983:

Man hat mich nach der Produktion gebeten, bestimmte Szenen des Films radikal zu verändern, Es gibt vermutlich nicht mehr als drei oder vier Menschen, die wissen, in welchem Ausmaß der ganze Film nach der Produktion verändert … wie viele andere Techniken für Kameraeffekte eingesetzt wurden.(3)
Daß heute mehr Leute die Hintergründe der Entstehung des Films kennen, ist vor allem Robert L. Carringers Buch "The Making of Citizen Kane" (1985) zu verdanken, das die Erinnerungen der vielen Mitarbeiter des Films vereint. (4) Daraus geht zum Beispiel folgendes hervor. Die tiefenscharfe Aufnahme des Selbstmordversuchs von Susan (das Glas und Gift vorne im Bild, während Kane und der Arzt im Hintergrund ins Zimmer stürzen, Abb. 1), ist in Wirklichkeit eine Aufnahme in der Kamera. Diese entstand so: Während die Kamera zuerst auf den hellen Vordergrund eingestellt wurde, war der Hintergrund dunkel; dann wurde der Vordergrund verdunkelt, der Hintergrund beleuchtet. Die Linse wurde neu eingestellt, der Film zurückgespult und die Szene noch einmal aufgenommen. Die Aufnahme des kleinen Kane am Ende eines langen Korridors im Xanadu besteht aus drei getrennt voneinander aufgenommenen Elementen. Die erste Aufnahme von Xanadu "beginnt mit einer Kamerafahrt über einen Kulissenzaun und setzt sich fort mit einer Reihe von Aufnahmen von Miniaturobjekten, Modellen und gemaltem Hintergrund, die mit Abblendungen verbunden sind" (Abb. 2). (5) Carringer schätzt, daß mehr als 50 Prozent des gesamten Films Spezialeffekte der einen oder anderen Art enthält. Dunn zufolge wurden bis zu 80 Prozent des Filmmaterials mit einer optischen Druckbank bearbeitet. (6)

Auch wenn er in einigen seiner Äußerungen die Verwendung von Spezialeffekten zurückweist, hat Roberto Rossellini selber das Schüfftan-Verfahren modifiziert, indem er Zoomaufnahmen hinzugefügt hat. Dazu wird "eine besondere Mischung von Silbersalzen und Glukose verwendet, um durch die teilweise Versilberung des Glases einen Spiegel zu bilden, der das Filmgeschehen mit maßstabgetreuen Modellen kombinieren läßt".(7) Rossellini verwendete diese Technik besonders in seinen historischen Filmen (z.B. die Versailles-Szenen in seinem 1966 entstandenen Film über Ludwig XIV.).

Der dritte Realist, zu dem sich Bazin bekennt, ist Jean Renoir. In einer Aufnahme in seinem Film "Nana", die durch eine Glasplatte gemacht wurde, ist das Filmdekor unvollständig. Der Filmarchitekt Claude Autant-Lara hat nur den Boden und das Haupttreppenhaus des Herrenhauses entworfen. Das schmuckbeladene Obergeschoß und der Plafond wurden am oberen Teil einer Glasplatte aufgemalt. Als die Kamera das unvollständige Dekor durch das Glas aufnahm, verschmolz das gemalte Bild mit dem Dekor und die Illusion war perfekt (Abb. 3). (8) Die Filme von Alfred Hitchcock werfen ganz andere Fragen zum Verhältnis Film und Architektur auf. Hitchcock hat sich selbst nie als Realist dargestellt, noch wurde er jemals als solcher dargestellt. Es ist aber eine bekannte Tatsache, daß er vertraute (man könnte meinen, fast zu vertraute, klischeehafte) Plätze als Hintergründe für seine Filme bevorzugte. So z.B. das British Museum in "Blackmail", die holländischen Windmühlen in "Foreign Correspondent", die Freiheitsstatue in "Saboteur", das Rio eines Touristen ("Notorious"), Nizza ("To Catch a Thief"), San Francisco ("Vertigo") und natürlich Mount Rushmore, das United Nations Gebäude, ein Haus von Frank Lloyd Wright, et al. in "North by Northwest".

Diese Ansichtskartenmotive erfüllen narrative und filmische Funktionen, die nicht so leicht erkennbar sind wie die Schauplätze selbst. Einige moderne Filmemacher verwenden den Raum, um den Zuseher zu verwirren, um ihn zu verunsichern und aus der Ruhe zu bringen. Der Zuseher ist dann gezwungen, aktiv die Räume im Film zu ergründen, etwas, was ihm vielleicht nicht immer gelingt, aber für die Bedeutung des Films von entscheidender Bedeutung ist.

Hitchcock macht fast genau das Gegenteil. Seine Filme bringen wiederholt sehr vertraute Orte, womit er den Zuseher in Sicherheit wiegen will. Wir wissen, wo wir sind, und können uns entspannt zurücklehnen. Hier aber zieht er uns immer den Teppich unter den Füßen weg, und es ist immer effektvoll.

Zum narrativen Aufbau läßt sich feststellen, daß Hitchcocks Filme sich rasch von einem Ereignis zum nächsten bewegen. Es bleibt einfach keine Zeit, Räume vorzustellen, bevor sich dort etwas abspielt. Er verwendet bekannte Schauplätze als eine Art Kurzschrift, die es ihm ermöglicht, einzelne Handlungssequenzen aufeinander folgen zu lassen – ohne Intervalle oder Einleitungen. Schließlich könnte man auch banal meinen, daß Hitchcock auffallend viele Schauplätze verwendet, um das Auge des Zusehers nicht ermüden zu lassen. Zumindest in den Dialogszenen springen die meisten Regisseure zwischen denselben Aufbauten hin und her. Hitchcock macht das nie; stattdessen verändert er den Kamerawinkel oder die Stellung der Darsteller, wodurch derselbe Hintergrund immer anders, der Bildaufbau immer neu erscheint.

Die Art und Weise, wie Hitchcock einen Schauplatz im Verlauf einer Szene oder Sequenz einsetzt, beleuchtet das Verhältnis Architektur, Filmdekor und filmischer Diskurs. Hitchcock beginnt meistens mit einer Ortsaufnahme vom Motiv, im Fall von "North by Northwest" (Der unsichtbare Dritte) Mount Rushmore. Nachdem der CIA-Agent Roger Thornhill (Cary Grant) auf dem Flughafen von Chicago die Handlung des Films erklärt, springt Hitchcock vom Gesicht Grants, dem gerade die prekäre Lage von Eve bewußt wird, zu einer Aufnahme von Mount Rushmore in South Dakota. Es folgt eine Nahaufnahme von den Köpfen der vier Präsidenten; die Wirkung derselben wird durch eine plötzlich in die Kamera eingeschobene kreisförmige Maske verstärkt. Danach kommt eine Aufnahme von Thornhill mit einer Totalen des Berges, den er durch das Münzteleskop betrachtet. Da er sich dabei mit dem CIA-Agenten unterhält, weiß man von dieser Aufnahme, daß Thornhill sich entschlossen hat, mit der CIA zusammenzuarbeiten, um Eve zu beschützen.

Man weiß auch, daß der Berg in der Handlung eine Rolle spielen wird. (Es gibt neun Aufnahmen vom Berg in dieser Szene und nochmals zwei in der nächsten.) Tschechow zufolge, muß eine Pistole bis zum dritten Akt abgefeuert werden, wenn man sie im ersten Akt einführt. Hitchcock übernimmt dieses Prinzip: Wenn man Mount Rushmore zu Beginn der Sequenz sieht, weiß man, daß seine Darsteller am Ende derselben den Berg wieder hinunterklettern müssen.

Wie in den meisten seiner Filme verwendet Hitchcock auch in "North by Northwest" Spezialeffekte. (9) Aber es gab noch nie so viele wie am Höhepunkt der Erzählung, auf dem Mount Rushmore. Das Interessanteste an der Sequenz ist, daß Hitchcock hier die Winkel genau so oft wechselt wie in den anderen Szenen. Damit bietet der Regisseur dem Zuseher zwar immer neue Perspektiven, aber zugleich verlangt er Außergewöhnliches von seinen für die Bauten und Spezialeffekte zuständigen Mitarbeitern. Das Monument, so wie es das fliehende Paar sieht – die Rückseite der Köpfe der Präsidenten –, scheint gestellt zu sein. Sechs Minuten und 108 Aufnahmen liegen zwischen dieser Aufnahme und dem Ende des Films. Die Aufnahmen von dem Abstieg des Paares vom Berg und der Verfolgung durch die Verbrecher, die Bewegungen um und zwischen den Köpfen und den verschiedenen Gesteinsformationen wurden aus verschiedenen Winkeln direkt vor riesigen Hintergrundprojektionen von den Gesichtern der Präsidenten aus verschiedenen Winkeln oder einer Totalen von den umgebenden Felsen aufgenommen (Abb. 4). Manchmal wurden auch die Darsteller direkt vor den Hintergrundprojektionen aufgenommen. In allen Fällen wurde die Illusion durch Windeffekte, die das Flattern der Kleidung bewirkte, noch verstärkt. Die Aufnahmen, aus denen sich der Zuseher erschließen kann, wo sich einige bzw. alle Darsteller im Verhältnis zum Monument befinden, wurden so gemacht, daß einige oder alle von ihnen mit Hilfe von Masken mehrfach belichtet wurden. Die Totale von der Polizei und dem CIA-Agenten, als sie am Ende der Sequenz zum ersten Mal am Berggipfel erscheinen, ist vermutlich eine Aufnahme vom Berg, in welche die Figuren, Darsteller oder Doubles mit Hilfe von Masken hineingeblendet wurden. Darauf folgt eine Nahaufnahme von den Darstellern vor dem Filmdekor, das so gebaut wurde, daß es mit dem Berg übereinstimmt. Die letzte Aufnahme auf dem Berg zeigt Thornhill, wie er beginnt, die an einem Felsen unter ihm hängende Eve hochzuziehen. Dies wird durch einen "Schnitt in der Bewegung" vervollständigt; wir sehen, wie Thornhill auf der Rückfahrt nach New York im Schlafabteil eines Zuges Eve in das obere Stockbett hochzieht.

Die Frage nach der Subversion oder Transgression in der filmischen Darstellung von Architektur soll noch kurz angeschnitten werden. Es gibt viele Filmemacher, die dem Zuseher die räumliche Orientierung vorenthalten haben, um unzusammenhängende, traumähnliche oder unvorstellbare Räume zu schaffen. Dies wird ohne Zweifel am radikalsten verfolgt in "experimentellen Erzählungen", jenem Bereich der Avantgarde, wo die Räume entsprechend der Sequenz der Ereignisse, gleichgültig wie traumhaft oder unzusammenhängend sie sind, geteilt werden. Zu den Werken, die in diese größere Kategorie fallen, zählen neben Bunuel, Cocteau, Delluc, Dulac, Epstein etc. in den zwanziger Jahren, auch Maya Derens "Meshes of the Afternoon" (1943), Kenneth Angers "Fireworks" (1947), einige von Andy Warhols Filmen und, aus den letzten Jahren, Filme von Yvonne Rainer, Erika Beckman und vielen anderen.

In einer Hinsicht "unterminieren" diese Filme die überlieferten Raum- und Architekturvorstellungen Hollywoods und des traditionellen europäischen Kinos. In anderer Hinsicht wird man diesen Werken auch nicht gerecht, wenn man ihre Hauptfunktion in der Kritik des kommerziellen Films sucht. Viel wichtiger sind die neuen Verwendungen von Raum, die sie einführen, um neue ästhetische Größen zu schaffen.

Wenn wir von einer Transgression sprechen, sollten wir vielleicht von einer Praxis innerhalb eines bestimmten Bedeutungsfeldes sprechen, und nicht von einer, die außerhalb desselben liegt. Dies ist zumindest die Betonung, die ihr Roland Barthes verleiht, wenn er eine semiotische Transgression als "ein Paradigma, das in ein Syntagma hineinreicht", definiert.

Es gibt eine Abwehr gegen diese übliche Zuteilung Syntagma/System, und es ist wahrscheinlich in diesem Umfeld, wo eine große Anzahl von schöpferischen Transgressionen zu finden sind, so als gäbe es hier vielleicht eine Überschneidung des ästhetischen Bereiches mit den Abweichungen des semantischen Systems. Die wichtigste Transgression ist natürlich die Ausweitung eines Paradigmas auf die syntagmatische Ebene, da normalerweise nur ein Term der Operation realisiert wird und der andere bzw. die anderen nur Möglichkeit bleiben. Dies wäre, allgemein gesprochen, die Folge, würde man versuchen, einen Diskurs zu entwickeln, indem man alle Terme derselben Deklination in einer Reihe aufstellen würde. (10)

Bekanntlich wurden die Techniken zur Schaffung und Verschönerung von Darstellungen von Architektur im Film vor der Öffentlichkeit streng geheimgehalten. So, zum Beispiel, die Werbeaufnahme des Dekors für den 1933 entstandenen Film "Deluge" (Abb. 5), wo die Größe des Modells von New York City erst ersichtlich wird, wenn man die Techniker daran arbeiten sieht. "Unterlage nur für Veranstalter" steht als mahnender Hinweis oben auf dem Foto. Im traditionellen Film war es verboten, im selben Bild Objekte unterschiedlichen Maßstabs zu zeigen, und es wurde sogar in Werbefotos sorgfältigst vermieden.

Die Filme von Terry Gilliam ("Time Bandits", "Brazil", jener Teil von Monty Pythons "The Meaning of Life" mit den Schiff- und Gebäudesequenzen), befassen sich, zumindest teilweise, mit zwei illusionistischen Eigenschaften des filmischen Bildes – der Relativität des Maßstabs im Bild und der Tiefenillusion. Diese Praktiken sind transgressiv im semiotischen Sinne von Barthes. Sie zeigen dem Zuseher, was ihm fast immer verborgen geblieben ist. (Ob sie tatsächlich vom Publikum als Aufdeckung von Illusion oder, umgekehrt, als eine neue Form von Spektakel wahrgenommen wird, ist eine interessante Frage.)

Das Bild von einem mittelalterlichen Ritter, das am Kleiderschrank des kleinen Jungen im Film "The Bandits" hängt, löst sich plötzlich in drei Dimensionen auf. Der Ritter auf sprengendem Roß mit gezücktem Schwert bedroht den Kleinen. Als der Angriff vorbei ist, betrachtet der kleine Junge das Bild, faßt es mit seinen Händen an und stellt fest, daß es flach ist.

In der nächsten Nacht platzen aus demselben Schrank fünf Zwerge in sein Zimmer. Die scheinbare Flachheit zeigt bei näherer Betrachtung eine überraschende Tiefe, einen Gang, der in und aus anderen Welten führt. Als die Zwerge und der Junge versuchen, das Zimmer zu verlassen, dem obersten Wesen zu entfliehen, treten der Schrank und die Wand mit erschreckender Geschwindigkeit zurück, und verleihen dem Zimmer des Jungen eine fast unendliche Tiefe, die nur durch ein Loch im Raum begrenzt wird, durch das sie alle hindurchstürzen.

Im napoleonischen Teil des Films wird Edouard Manets "Die Hinrichtung Maximilians" (1869) rekonstruiert, wo Soldaten Bürger nach der Schlacht von Castiglione (1796) hinrichten. Die Wahl dieses Bildes und die filmische Wiedergabe betonen die Flachheit oder Zweidimensionalität des gemalten Bildes. Doch diese tour de force funktioniert nicht ganz, denn wir sind uns der drei Dimensionen bewußt. (Dies wird verstärkt durch die Dimension Zeit – wir hören das Abfeuern von Gewehren, wir sehen Körper fallen.) Ein an sich zweidimensionales Medium, das vorgibt, dreidimensional zu sein (der Film), gibt ein Bild von einem anderen illusionistischen Medium wieder. Das Ergebnis ist ein verstärkter Illusionismus.

Viele Situationen und Gags im Film sind entstanden aus der Auseinandersetzung mit dem Maßstab. Napoleon zum Beispiel ist so besessen von seiner kleinen Statur, daß er von nichts anderem spricht als von Größe. Als er einem Marionettenspiel beiwohnt, verliert er die Fassung, als lebensgroße Darsteller auf die Bühne treten. "Ich mag es, wenn kleine Leute einander schlagen", sagt er. Durch die Größe seines Generalstabs in Verlegenheit gebracht, befiehlt er ihnen, ihre Uniformen den Zwergen zu geben. Er lädt sie zum Abendessen ein und überschüttet sie mit Erzählungen von anderen kleinen Männern, die Geschichte gemacht haben. Das vielleicht kühnste Spiel mit dem Maß im Film ist die Szene, wo die Zwerge ein Segelschiff steuern. Ein Sturm, der das Schiff ins Schwanken bringt, erweist sich als ein Riese, der aus dem Wasser steigt. Er schreitet an Land und trägt das Schiff auf seinem Kopf wie einen Hut (Abb. 6).

Es gibt ein Moment der Transgression in "Brazil", das umso interessanter ist, als es bestenfalls nebensächlich ist für die Handlung des Films. Wir sehen, wie Sam Lowry sein winziges Einmannfahrzeug mitten durch die Laster fährt, die so groß sind, daß man von der Umgebung gar nichts sieht. (Er ist gerade unterwegs zu der Witwe Mrs. Buttle, der er einen Scheck übergeben soll und in deren Haus er der Liebe seines Lebens begegnen wird. Sie bzw. seine Phantasie werden ihn bald das Leben kosten.) Lowry fährt vor und unser Regisseur geht zu einer Fahrtaufnahme der Straße über, vorbei an einer Reihe von Kernkraftwerken. Man nimmt an, daß Lowry diese auch sieht, als er in die offene Straße fährt. Die Straße hört aber plötzlich vor einem Reaktor auf, der mitten in der Straße steht. Als die Fahrt (und vermutlich auch Lowrys Bewegung) langsamer wird, erscheint auf einmal neben dem Hauptreaktor das Gesicht eines Betrunkenen, der eine Bierflasche hält. Die nächste Aufnahme zeigt, daß es sich in Wirklichkeit um ein Modell in Glas handelt, daneben der lebensgroße Betrunkene. Hinter dem Modell sehen wir in großer Entfernung Lowrys Wagen, der weiterfährt. Er ist den riesigen Lastern und den großen Gebäuden einen Augenblick lang entkommen, doch wir wissen genau, daß sie ihn in absehbarer Zeit wieder einholen werden. In beiden Filmen, "Brazil" und "The Bandits", ist es ein Hauptanliegen des Regisseurs, auf die Gegensätze im Maß hinzuweisen.

(1)
Donald Albrecht, Designing Dreams: Modern Architecture in the Movies (Harper & Row: New York, 1986), S. VII. zurück

(2)
Die dadurch in großen öffentlichen und privaten Sammlungen erhalten gebliebenen Aufnahmen sind für den Filmhistoriker mit Vorsicht zu genießen. Manchmal sind die Dokumente von unschätzbarem Wert, die einzigen Zeugnisse verlorengegangener Filme. Von Zeit zu Zeit jedoch sucht der Filmhistoriker in Filmen vergeblich nach den Aufnahmen, die in Büchern, Zeitschriften, Zeitungen oder Fotoarchiven enthalten sind, weil diese nicht aus dem Film selbst stammen, sondern während der Produktion entstandene Standaufnahmen sind. Solche Täuschungen lassen sich nur durch die ausschließliche Verwendung von Reproduktionen aus dem Film selbst, das heißt, Vergrößerungen einzelner Kader, vermeiden. Allerdings ist dies keine Ideallösung, da vergrößerte Kader in ihrer Bildqualität nie an Standaufnahmen heranreichen. Auch wenn sie von einem 35-mm-Abzug stammen, mangelt es an Kontrast und Tiefenschärfe (verschwommene Aufnahmen) sowie an Farbqualität (verwischte Farben). Engagierte Filmwissenschafter bestehen jedoch auf der Verwendung von vergrößerten Kadern statt Standaufnahmen in ihren Publikationen; schließlich geht es ihnen um die Analyse von Filmen, nicht Fotos. zurück

(3)
Linwood G. Dunn, "Cinemagic of the Optical Printor", in Dunn and George E. Turner (Herausgeber), The ASC Treasury of Visual Effects (American Society of Cinematographers: Hollywood, 1983), S. 240. zurück

(4)
Robert L. Carringer, The Making of Citizen Kane (Kalifornien: Berkeley, 1985). zurück

(5)
Ibid., S. 94. zurück

(6)
ibid., S. 99. zurück

(7)
José Luis Guarner, Roberto Rossellini, Übersetzung Elisabeth Cameron (Praeger: New York, 1970), S. 6. zurück

(8)
Leon Barsacq, A History of Set Design, Übersetzung Michael Bullock, Bearbeitung und Herausgeber Elliot Stein (New York Graphic Socity: Boston, 1976), S. 74. zurück

(9)
François Truffaut bemerkte Hitchcock gegenüber: "Es scheint mir, daß dieser Film viele Trickaufnahmen enthält, viele davon unsichtbar, und viele Spezialeffekte, wie Modelle und nachgebaute Dekors." Hitchcock leugnet das nicht und führt in seiner Antwort sogar ein Beispiel an – die "genaue Kopie" der Halle des Gebäudes der Vereinten Nationen. François Truffaut, Hitchcock (Simon and Schuster: New York, 1983), S. 231. zurück

(10)
Roland Barthes, Writing Degree Zero und Elements of Semiology, Übersetzung Annette Lavers und Colin Smith (Beacon Press: Boston, 1970), S. 86. zurück