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Ars Electronica 1988
Festival-Programm 1988
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Wahrnehmen


'Heinz von Foerster Heinz von Foerster

Psychologen, Psychiater, Neurologen, Psychophysiker, Anatomen, Physiologen etc. sind die Fachkundigen, die man gewöhnlich über das erstaunliche Phänomen der Wahrnehmung befragt. Die Auskunft, die man erhält, ist meistens über die von ihnen beobachteten Wahrnehmungen ihrer Versuchspersonen, Schüler, Patienten und Versuchstiere, aber nur selten darüber, wie sie selbst die Wahrnehmungen ihrer Versuchspersonen, Schüler, Patienten und Versuchstiere wahrnehmen. Das Problem der Wahrnehmung von Wahrnehmung ist offenbar nicht das der Psychologen, Psychiater, Neurologen, Psychophysiker, Anatomen, Physiologen etc., sondern es fällt, wie es sich in den letzten Jahren herausgestellt hat, den Erkenntnistheoretikern zu. Sie waren es, die zuerst darauf aufmerksam machten, welchen Spaß man mit den logischen Purzelbäumen haben kann, die die großen Weisen wie Bertrand Russell und Alfred North Whitehead vor etwa 80 Jahren für ungezogen und unanständig erklärten. Es sind die Purzelbäume der "Begriffe zweiter Ordnung", der Begriffe, die sich auf sich selbst anwenden lassen: lernen von lernen, Bewußtsein von Bewußtsein, verstehen von verstehen etc.

Es gab gute Gründe, solche Rückbezüglichkeiten, oder Selbstreferentialitäten, zu vermeiden, denn sie führen zu den lästigen Paradoxen. Man erinnert sich an den unangenehmen Menschen, der von sich sagt: "Ich bin ein Lügner." Glaubt man ihm, dann hat er gelogen; glaubt man, daß er gelogen hat, dann hat er die Wahrheit gesprochen … und so weiter, und so weiter. Niemand will mit so etwas zu tun haben. Und kaum jemand will über Sprache sprechen (da haben wir's wieder, Sprache kann über sich selbst sprechen), am ehesten noch kann man über ihre Grammatik sprechen, das heißt, darüber, wie man sprechen soll, aber nicht über was man sprechen (oder nicht sprechen) kann.

Wie steht es hier mit Wahrnehmung? Da Wahrnehmung eine Funktion des Gehirns ist, braucht man eine Theorie der Hirnfunktion. Aber um diese Theorie zu schreiben, braucht man ein Gehirn; das heißt, eine solche Theorie muß sich selbst (be-)schreiben, der Schreiber dieser Theorie muß für sich selbst einstehen: das moralisierende "Du sollst …" wird daher zum ethischen "Ich soll …".