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Ars Electronica 1988
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Das Gedächtnis


'Vilém Flusser Vilém Flusser

(Zusammenfassung meines Referates für "Ars Electronica", Linz, 13–18/9/88)

Die elektronischen Gedächtnisse werden zweifellos bisher nicht völlig durchsichtige Folgen haben. Zwei davon können bereits ziemlich deutlich vorausgesehen werden: Sie werden die Struktur der künftigen Geschichte formen (falls man unter "Geschichte" ein fortschreitendes Lagern von erworbenen Informationen versteht), denn sie werden ein diszipliniertes Lagern, ein Rekombinieren des Gelagerten und ein bequemes Abberufen des Gelagerten gestatten. Und sie werden eine wahre Explosion der Kreativität hervorrufen, denn sie befreien uns von der Notwendigkeit, in unserem Gehirn Informationen zu lagern, und sie erlauben uns daher, uns auf das Prozessieren von Informationen zu konzentrieren. So revolutionär diese beiden voraussichtlichen Folgen der elektronischen Gedächtnisse sein mögen, so bergen diese Gedächtnisse noch andere, womöglich noch umstürzlerischere Virtualitäten. Eine dieser weniger voraussichtlichen Folgen der elektronischen Gedächtnisse soll hier bedacht sein:

Der Begriff "Gedächtnis" ist ein Grundbegriff der westlichen Kultur (und wahrscheinlich überhaupt aller Kulturen), weil damit die Spezifizität (die "Würde") des Menschen gemeint ist. Im Unterschied zu den übrigen Lebewesen vererben wir nicht nur ererbte, sondern auch erworbene Informationen, haben wir nicht nur ein genetisches, sondern auch ein kulturelles Gedächtnis. Diese unsere Fähigkeit, erworbene Informationen zu lagern und dadurch für andere verfügbar (abberufbar) zu machen, ist geradezu unheimlich, denn sie widerspricht unserer natürlichen Bedingung. Laut dem zweiten Grundsatz der Thermodynamik müssen in einem geschlossenen System (zum Beispiel in der Gesellschaft der Menschen) alle Informationen mit der Zeit zerfallen, und trotzdem nehmen die Summen der uns verfügbaren kulturellen Informationen ständig zu; und laut den Gesetzen der Biologie können erworbene Informationen nicht vererbt werden, und trotzdem erbt jede menschliche Generation eine größere Summe von kulturellen Informationen als die ihrer Väter. Anders gesagt: dank des kulturellen Gedächtnisses sind wir anti-natürliche Wesen. Diese unsere geradezu unheimliche (geheimnisvolle, "sakrale") Fähigkeit, Informationen zu speichern, ist in allen Kulturen unter verschiedenen Formen reifiziert worden, so als sei diese Fähigkeit eine "Sache". In unserer eigenen Kultur führt diese Reifikation der Gedächtnisfähigkeit zu Begriffen wie "Seele", "Geist" oder "Selbst", und damit hängt eng der Begriff "Unsterblichkeit" zusammen.

Die elektronischen Gedächtnisse sind, im Grunde genommen, Simulationen der Gedächtnisfunktion des Gehirns. Diese Funktion wird gewissermaßen aus dem Schädel nach außen übertragen. Dadurch gewinnen wir einen kritischen Abstand zur Gedächtnisfunktion: wir können sie von außen beobachten, in sie eingreifen, sie lenken. Dank diesem Abstand können wir besser als vorher zwischen der Funktion des Gedächtnisses selbst (zwischen software) und seiner Stütze (hardware) unterscheiden. Die vorangegangenen Reifikationen der Gedächtnisfunktion werden dadurch vermieden. Wir erkennen, dank unserer Praxis mit Computern, daß die Gedächtnisfunktion ein "Wie" ist, und nicht ein "Etwas". Unsere traditionellen Begriffe wie "Seele", "Geist" oder "Unsterblichkeit" werden somit einer neuen Kritik (einer Kritik der Praxis) unterworfen. Dank einer derartigen Kritik werden voraussichtlich einige der Säulen, auf denen unsere Wertsysteme beruhen, ins Wanken geraten, und wir werden neue Werte auszuarbeiten haben. Die uns dank der elektronischen Gedächtnisse gebotene kritische Distanz unserer Gedächtnisfunktion gegenüber wird wahrscheinlich das Unheimliche an dieser Funktion nicht abräumen: im Gegenteil, sie wird dadurch noch geheimnisvoller werden. Wir werden das Widernatürliche daran aus dem Abstand noch besser ersehen. Was dies im künftigen philosophischen Denken und religiösen Erleben für Folgen haben wird, ist nicht abzusehen.