Looking upon the Wide Waste of Liquid Ebony
'Heiner Goebbels
Heiner Goebbels
(Beim Blick auf die weite Wüste aus flüssigem Ebenholz)
Ein szenisches Konzert nach einem Text von E. A. Poe
Szene/Bild/Licht: Thomas Dreißigacker (Köln) Dramaturgische Beratung: Reinhold Grether (Universität Frankfurt) Filmische Realisierung: Sabine Dechent
Stimme, Akkordeon: Sven Åke Johansson (Berlin) Gitarre: Rene Lussier (Montreal) Stimme: Phil Minton (London)
Musiker der Steirischen Kulturinitiative: Schlagzeug, Midi-Drums: Josef Klammer Gitarre, Midi-Gitarre, Computerprogramming: Seppo Gründler Saxophone, Klarinette: Heinrich von Kalnein Cello: Michael Moser Saxophone, Baßklarinette: Otmar Kramis Percussion: Franz Schmuck Stimme, Posaune: Bertl Mütter Violine: Tscho Theissing
Auftragswerk von Ars Electronica (LIVA, Brucknerhaus Linz), in Koproduktion mit STEIRISCHE KULTURINITIATIVE.
Wir hatten jetzt den Gipfel der höchsten Felsenklippe erreicht, Einige Minuten lang war der alte Mann zu erschöpft, um sprechen zu können."Es ist noch nicht lange her", begann er endlich, "daß ich Sie so gut wie der jüngste meiner Söhne diesen Weg hätte führen können, aber vor ungefähr drei Jahren hatte ich ein Erlebnis, wie es keinem Sterblichen vorher begegnete – wenigstens überlebte es keiner, um davon erzählen zu können –, und die sechs Stunden Todesangst, die ich damals erdulden mußte, haben mich an Leib und Seele gebrochen. Sie halten mich für einen sehr alten Mann – ich bin es nicht …" So beginnt "Der Sturz in den Maelström" von E. A. Poe, eine der packendsten Erzählungen der Weltliteratur, deren schriftstellerische Virtuosität eigentlich eine Dramatisierung und Musikalisierung überflüssig macht. Aus diesem Grund geht es mir darum, aus der Struktur der Geschichte, aus der Erzählstrategie und aus dem Erlebnismodell Material zu gewinnen für ein Konzert, das eher nach theatralischen und filmischen Gesichtspunkten gebaut ist, denn nach vorrangig musikalischen. Der Schrecken des Maelströms, von dem Poes Hauptfigur berichtet, erweist sich als Allegorie auf alles Unbekannte, NEUE, im Sog der Idee des "modernen Denkens". Nur befinden wir uns gesellschaftlich und historisch nicht mehr, wie der Zuhörer Poes, vor dieser unerhörten Erfahrung, sondern bereits mitten drin im rasenden Tempo täglicher Umdrehungen, indem – auch da erweist sich der Maelström als tragfähige Metapher immer wieder alte Erfahrungen und Bilder auf- und abtauchen. Wenn sich für die Hauptfigur der Erzählung erster Schrecken und Verzweiflung plötzlich in Neugierde und Mut verwandeln, werden aus seinen Beobachtungen schließlich Strategien des Überlebens. In einer möglichen aktuellen Lesart kann man daraus exakt die Position beschreiben, an der wir uns am Ende der "Moderne" gesellschaftlich und ästhetisch befinden: Den Kreislauf falsch eingeschätzt, stürzen wir in Windeseile in die Tiefe. Bei einem reflektierten Gebrauch unserer Beobachtungen (zum Beispiel an dem Reichtum, mit dem alle denkbaren musikalischen Mittel und ehemals "neuen" Erfindungen nun zur Verfügung vor uns liegen bzw. sich mit uns "drehen") gehen wir irgendwann (nicht mehr wiederzuerkennen) an Land. Ich darf aber "kaum hoffen, daß Sie mir mehr Glauben schenken, als die fröhlichen Fischer von Lofoten".LOOKING UPON THE WIDE WASTE OF LIQUID EBONY "Wenn Sie sich auf einem sinkenden Schiff befinden, von dem alle Rettungsboote schon weg sind, dann ist ein vorbeitreibender Klavierdeckel, mit dem Sie sich über Wasser halten können, ein willkommener Lebensretter. Das heißt aber nicht, daß die Formgebung von Klavierdeckeln das beste Design für Rettungsringe wäre." Buckminster Fuller Das szenische Konzert, in dessen Zentrum die Analyse der Erzählung "DER STURZ IN DEN MAeLSTRÖM" von Edgar Allen Poe steht, folgt ihrem Konstruktionsprinzip mehr als allen Facetten ihrer Schilderung.
Die beiden Vokalisten repräsentieren dabei zunächst den Originaltext: der Engländer Phil Minton die amerikanische Originalfassung (in der Rolle des Fischers), der in Deutschland lebende Schwede Sven Åke Johansson (der Erzähler) verschiedene deutsche Übersetzungen. In dem eigens für die Ars Electronica konzipierten Konzert wird das Brucknerhaus in seiner topologischen (am Ufer der Donau gelegen), inhaltlichen (als Kongreß- und Konzertzentrum) und architektonischen Eigenschaft (als Kreisausschnitt) strukturbildend für die drei Teile der Aufführung sein. In der Strömung des Textes von Edgar Allen Poe tauchen Materialien von Adorno, Baudelaire, Lem, Melville, Virilio und anderen auf, die sich auf das Zentrum der Untersuchung richten:
Discovery & Destruction. Der Erzähler wird von einem norwegischen Fischer auf eine Klippe geführt, die den Blick auf den Maelström freigibt, ein in allen Berichten als furchterregender und in seiner Zerstörungskraft einmalig geschilderter Wasserstrudel zwischen den Lofoten und der Insel Moskoe. Doch die übertriebensten Quellenhinweise dienen nur dazu, die Erlebnisse des Fischers um so schrecklicher erscheinen zu lassen: Für bessere Erträge riskieren er und seine beiden Brüder gefahrvolle Wasserwege und als sie eines Abends nach dem Fischen die stille Zeit des Wassers verpassen, werden sie – und das geschieht bei Poe immer plötzlich – durch einen Orkan in rasender Geschwindigkeit auf den Maelström zugetrieben.
Schon auf der Schreckensfahrt dahin verliert er einen Bruder in den atemberaubenden Drehungen auf der Innenwand des Trichters, schließlich den zweiten, der mit dem Boot in die Tiefe gerissen wird. Er selber überwindet Angst und Schrecken, und eine unerklärliche Neugier verhilft ihm zuletzt in dem rasanten Umlauf (dabei scheint die gegenüberliegende Trichterwand wie still zu stehen) zu Beobachtungen über die Sinkgeschwindigkeit der mit ihm kreisenden Gegenstände: das macht ihm Hoffnung und – an ein Faß geklammert – wird er wenig später von seinen alten Kameraden gerettet.
Literatur in musikalischer oder theatralischer Form auf die Bühne zu bringen, muß heute mehr heißen, als die Semantik ihrer Geschichte zu illustrieren. Sie sehen selbst, die kann in wenigen Abschnitten erzählt werden; nicht die Sprache Poes, die kann gelesen werden. Deswegen hier das Konzert in Form einer Untersuchung der einzelnen Elemente: Sprachstrategien, Satzbau, Blickrichtungen, Textbewegung, strukturelle Eigenschaften u.v.a. – in den drei Räumen: SICHTRAUM, REFLEXIONSRAUM, ROTATIONSRAUM.
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