www.aec.at  
Ars Electronica 1987
Festival-Programm 1987
Back to:
Festival 1979-2007
 

 

The space … is transformed into pure sound
Zur Dimension der Räumlichkeit von Musik

'Reinhard Oehlschlägel Reinhard Oehlschlägel

"Ich lebe in einem Zwischenraum der frei von jeder vollen Bedeutung ist."

Roland Barthes (in: "Das Reich der Zeichen")
Was Musik von anderen Künsten unterscheidet, so wird jedenfalls vielfach in Alltagszusammenhängen argumentiert, sei ihre Zeitgebundenheit, während die visuellen Künste an den Raum gebunden seien, und jeder Betrachter um ein sichtbares Kunstwerk herumgehen, weggehen, wegsehen und wieder hingehen und hinsehen könne.

Diese grobe Vereinfachung, die jedem auf Anhieb einzuleuchten scheint und die auch grosso modo auf Unterschiede zwischen einer Sinfonie und einem Tafelbild zutrifft, ist doch genau besehen unrichtig. Sie abstrahiert von alltäglichen Selbstverständlichkeiten, die nicht weniger Voraussetzungscharakter für Kunst und Kunsterlebnis haben, als die, die sie zur Unterscheidung heranziehen. Es gibt keine Musik ohne einen Raum, in dem sie erklingt. Und es gibt keine Grafik, kein Gemälde, das nicht in sich und aus der Perspektive des Betrachters zeitlichen Veränderungen unterworfen wäre.

Musik, auch eine Sinfonie zum Beispiel, entfaltet sich in einem Raum, sagen wir in einer "Philharmonie", und kann da von verschiedenen Seiten aus angehört werden. Auch ein Bild verändert sich für den Betrachter, wenn auch sehr langsam, in seinen Farben, in der Farbe von Leinwand, Holz oder Papier, sehr viel schneller in der Ausleuchtung von Tages- und Kunstlicht und noch mehr durch die Zeitlichkeit, der der Betrachter selbst unterworfen ist. Der Mensch ist ein in Raum und Zeit lebendes Wesen, also ist alles, was er schafft und wieder anschaulich oder praktisch nutzt, nicht absolut von diesen Grundeigenschaften und Grundbedingungen zu lösen. So gesehen nutzen unterschiedliche Kunsttraditionen nur unterschiedliche Aspekte menschlicher Existenz und abstrahieren allenfalls teilweise von jeweils anderen ungenutzten.

Nun ist es ein bestimmendes Merkmal der alltäglichen nichtkünstlerischen Verhaltenspragmatik, die Hauptaspekte unter Hintanstellung von unauffälligeren und selbstverständlicheren Rand- und Rahmenbedingungen zu betonen, z.B. die Nahrungsbeschaffung, das Geldverdienen, die emotionale und sexuelle Partnerschaft, das Klatsch- und auch das Kitschbedürfnis. Künstlerische Arbeit, gesellschaftlich wohl schon immer etwas Absonderliches, richtet sich dagegen auf sehr verschiedene Weise über das Pragmatische hinaus, rückt andere durchaus vorhandene Perspektiven mit Hilfe von künstlerischen Hilfsmitteln und Tätigkeiten in den Focus der Wahrnehmung.

Die Räumlichkeit von Musik, ohne die Musik – wie gesagt – nicht denkbar ist, spielt gleichwohl in ihr eine immer wieder andere Rolle, hat eine immer wieder andere Qualität. Derartige Unterschiede lassen sich systematisch als nebeneinander existierende Phänomene beschreiben, als ob sie rein zufällig entstanden seien, oder auseinander entwickeln, als ob eine geschichtliche Kausalität sie nacheinander hervorgebracht hätte. Beide Methoden sind wiederum grobe Vereinfachungen der wirklichen Verhältnisse, die eindimensionale geschichtliche hat zudem den Nachteil, daß nur sehr wenig Verläßliches über Anfang und archaische Frühstadien von Musik bekannt ist. Die Verknüpfung beider Methoden ist darum notwendig, auch wenn das bei Methodenpuristen Argwohn auslöst.

Hilfsweise nehme ich einmal an, daß eine alte größere geschichtliche Entwicklung von frühen künstlerischen Stadien ausgegangen ist, in denen rituale Darstellungen mit Hilfe von gesunder Sprache ohne und später mit Begleitinstrument in vielen verschiedenen Kulturen einen engen Zusammenhang bildeten, für den spätere Begriffe wie Einheit oder Ganzheit leicht mißverständliche Annäherungen sind. Ein entwicklungsgeschichtlicher Grundzug ist eine lange Folge von allmählichen Emanzipationen aus kultischen und sprachlichen Zusammenhängen, die erst den Begriff Musik konstituieren. Diese Entwicklungen sind zugleich mit einer Verlagerung der Räumlichkeit einhergegangen, eine Verlagerung aus Kulträumen in Räume säkularer Machtrituale. Hier haben sich wiederum in mehreren Folgen neue Traditionen herausgebildet, die im öffentlichen Konzertleben heute noch mehr oder weniger retrospektiv in Gebrauch sind: die nichtöffentlichen Hof- und die öffentlichen Bürgerkonzerte. Daneben ist Musik Bestandteil der kultischen Dienste geblieben und hat in ganz anderen Traditionen der Volks- und Ständemusik zugleich eine Existenz im offenen Außenraum und im Privatraum der Hütten, Häuser und Bauernhöfe gehabt. In all diesen sehr ausdifferenzierten Traditionen spielt der Raum, in dem die Musik aufgeführt wird, eine Rolle der Voraussetzung und der Ermöglichung, die für den sozusagen äußeren Raum von Musikaufführungen bis heute im wesentlichen gleich geblieben ist.

Daneben enthält Musik aber wie jede andere Kunstform auch einen inneren, einen sozusagen imaginären Raum. In ihm bilden sich Inhalte sehr verschiedener Art ab, unter anderem auch regelrecht räumliche, aber auch gesellschaftliche, individuelle, nationale u.a.m., die mit räumlichen Vorstellungen verbunden sind. Vom Zuhörer aus können indessen beide Dimensionen, der reale äußere und der imaginäre innere Raum einer Komposition durch eigene räumliche Vorstellungen umgehört, übersetzt, interpretiert werden. Die Mehrdeutigkeit von Kunst eröffnet hierfür vor allem für die imaginäre Seite einer Musik einen großen Spielraum. Übersetz- und übertragbar ist jedoch auch die reale Räumlichkeit von Musik. Ohne das wäre vieles heute gar nicht mehr aufführbar. Für reich geschmückte Kirchenräume der Gotik konzipierte Musik wird in kahlen, überakustischen protestantischen Kirchen und in bürgerlichen Konzertsälen aufgeführt, sinfonische Konzertsaalmusik in barocken Kirchen und modernen Rundfunk- und Schallplattenstudios. Und in besonders geeigneten oder auch ungeeigneten Räumen aufgeführte und aufgezeichnete Musik wird in zunehmend technisch perfekten Aufzeichnungen, die ihrerseits den realen Raum interpretieren, massenhaft in bürgerlichen und alternativen Wohnräumen gehört und zurechtgehört.

Was nun alles an Thematisierungen des Klangraums im engeren Bereich der experimentellen Musik und benachbarter Künste im 20. Jahrhundert aus den verschiedensten Ansätzen heraus entwickelt wurde, hebt sich von diesen allgemeinen, in sich schon reich gegliederten Raumphänomenen von Musik ab, hat sich sozusagen aus ihrem Hintergrund heraus gebildet, einem Hintergrund, der einerseits eine lange, nicht einfach nachzuvollziehende historische Dimension und andererseits aber die weithin herrschende Realität von Musik der Öffentlichkeit abgibt. Zunächst gibt es dabei eine Reihe von Grenzphänomenen, bei denen – etwa im Rahmen von Konzertprogrammen – ein Stück eine Raumwahrnehmung zugänglich macht, die einerseits ein Stück, andererseits aber – und sei es auch nur für wenige Minuten – eine Raumklangkomposition darstellt. Eines der frühesten derartigen Stücke hat einen konkretistischen Raumansatz, in dem es einen Wohnraumtyp thematisiert, das Wohnzimmer. Seine "Living Room Music" schrieb John Cage 1940 für ein Quartett von Schlagzeugern, die auch – im mittleren von drei Sätzen – sprechen. Das sechs Minuten lange Stück gehört in den Zusammenhang von Cages frühen Arbeiten für Schlagzeugensembles, die er mit einer kleinen Gruppe von befreundeten Musikern selbst aufführen konnte. Die rhythmische Struktur des Stücks ist mit einem einfachen Zahlenquadrat hergestellt, das Großform und Taktanordnung regelt. Das Verfahren diente Cage dazu, den Ablauf im großen und kleinen durch etwas zu regeln, das von ihm selbst subjektiv nicht mehr beeinflußt werden kann. Dieses Grundelement der Entsubjektivierung, das das gesamte Werk von John Cage bestimmt, die Stücke für präpariertes Klavier ebenso wie die mit verschiedenartigen Zufallsverfahren hergestellten Stücke ab 1950 bis heute, kommt hier den objektiven Gegebenheiten des Raumklangs zugute. Das eigentliche Wohnzimmerelement in diesem Stück besteht nun darin, daß die Instrumente der Schlagzeuger "are those to be found in a living room: furniture, books, papers, windows, walls, doors". Damit bedarf das Stück einer Instrumentierung u.a. durch den Aufführungsraum, durch dessen Wände, Türen und Fenster. Die übrigen Elemente wie Möbel und Gegenstände geben dem Stück anderseits leicht den Charakter einer Inszenierung, einer Musiktheaterkomposition. Allein bei der zeitlichen Kürze der "Living Room Music" im Rahmen eines Konzertprogramms empfiehlt sich doch das Naheliegendste, den im Aufführungsraum vorhandenen Tisch, Schrank, Stuhl zu benutzen. – Ähnliche konkretistische Nutzungen der Gegebenheiten eines Raums sind vom Free Jazz und der Free Music her bekannt, z.B. wenn improvisierende Schlagzeuger wie Han Bennink oder Jean-Pierre Drouet – etwa als Quasi-Kadenz einer größeren Improvisation mit mehreren Musikern mit ihren Schlagstöcken den ganzen Raum abklopfen, den Fußboden, die Wände, die Fenster, die Stühle und was alles sonst noch drin ist.

Mit seinem für ein Konzert in der Maverick Concert Hall in Woodstock 1952 für seinen Freund David Tudor konzipierten und seinem Freund Irwin Kremen gewidmeten Stück "4'33" for any instrument or combinations of instruments" hat John Cage ein zweites, weit radikaleres Übergangsstück auf der Grenze zur Raumklangkomposition beigesteuert. "This is a piece in three of which no sounds are intentionally produced." Es ist wie die "Living Room Music" ein kurzes Stück, das in einem Konzertablauf als eines unter mehreren für die Dauer, die es in seinem Titel nennt, für vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden – für die Uraufführung hat Cage mit Zufallsoperationen nach dem "I Ching" einen dreisätzigen Ablauf aus 30 Sekunden, zwei Minuten 23 Sekunden und einer Minute 40 Sekunden bestimmt –, keinerlei Klänge beabsichtigt. Unabsichtlich aber spielt in diesem Stück alles Gegebene mit: das Publikum, der Raum als stiller Raum und der (oder die) Interpret(en). Die Erkenntnis Cages, daß nur der Zeitdauer eine höhere hierarchische Funktion zukommt, indem sie Klänge und Stille umfaßt, wird hier ins Extrem einer Zeitdauer nur aus Stille getrieben. Und das Unabsichtliche, das Unbestimmte, das Nichtvorhersehbare, das Unerhörte ist das, was Cage mit seiner experimentellen Zufallsmethode im Gegensatz zum Vorhersehbaren organisiert. Es ist ein Stück, in dem sich mehr als nur der Raum klanglich abbildet. Gegenüber der Vorgeschichte im Œuvre Cages wie in den Entwicklungen von Klangraumkompositionen ist es aber ein sehr grundsätzliches Stück – eines der meistdiskutierten und von den verschiedensten Seiten her interpretierten Stücke –, das erst auf die Bedingungen des Konzerts aufmerksam macht, auf sein Ritual, auf seine Räumlichkeit, auf die unbeholfen einseitige Erwartungsebene des Publikums, um nur einiges herauszugreifen.

Einen ganz anderen Ansatz von Raumklangkomposition entwickeln einige europäische Komponisten etwas später, einen seriellen und parametrischen. "In der Komposition 'Gesang der Jünglinge' habe ich versucht, die Schallrichtung und die Bewegung der Klänge im Raum zu gestalten und als eine neue Dimension für das musikalische Erlebnis zu erschließen. Das Werk ist für fünf Lautsprechergruppen komponiert, die rings um die Hörer im Raum verteilt sein sollen", notiert Karlheinz Stockhausen im Oktober 1958 in dem Beitrag "Musik im Raum" zu seinem am 30. Mai 1956 in Köln uraufgeführten Tonbandstück. Ähnlich verhält es sich mit Stockhausens Kompositionen "Gruppen" für drei Orchester von 1955–57 und "Carré" für vier Orchester und Chöre von 1959–60. Stockhausen fügt dem seriellen Konzept von im Prinzip gleichberechtigten und zumindest ähnlich disponierten Tonhöhen-, Tondauern-, Tonfarben- und Tonlautheits-Reihen eine Dimension von Tonarten hinzu, für die er eine selbständige Parameterqualität aus der Richtungswahrnehmung ableitet, während die Entfernungswahrnehmung analytisch definierbar ist aus einer Lautstärke- und einer Klangfarben- und Klanggeräusch-Wahrnehmung.

"Über die Einbeziehung des dreidimensionalen Raums mit den Orientierungen 'oben' und 'unten' lassen sich zur Zeit noch keine Angaben machen, da wir keinerlei Erfahrungen auf musikalischem Gebiet innerhalb dieser Dimension machen konnten." Der systematisch-empirische Ansatz dieser Position ist unverkennbar. Der ideale, wenn auch noch nicht erforschte Hörraum ist für dieses Denken das sogenannte Kugelauditorium, ganz so als ob der Mensch ein Kugelwesen aus einem in alle Richtungen gleichmäßig sensiblen Kugelohr wäre. Die drei angeführten Kompositionen beziehen räumliche Dispositionen des Klangs als einen weiteren Aspekt neben vier anderen ein, die zudem in der Strukturierung ihrer Eigenschaften der Dimension des Raums zumeist überlegen sind.

Genaugenommen nehmen diese Stücke auf die einzigartigen Eigenschaften eines bestimmten Raums keine Rücksicht. Sie verdanken sich einem ganz allgemeinen und systematischen Ansatz ohne jede Rücksicht auf die spezifischen Eigenschaften des Raums und des Zuhörers. An "Carré" beispielsweise ist durch die Aufstellung von vier Orchester- und Chorgruppen "rund um die Zuhörer" in einer ungefähr gleichen Besetzung ablesbar, daß in dieser frühen Phase der Entdeckung und Erschließung der Raumdimension etwas naiv davon ausgegangen wurde, daß man in der Mitte des Raums die Klänge von allen Seiten her in gleicher Weise wahrnehmen kann, obschon doch das menschliche Ohr eine sehr spezifische Richtcharakteristik nach vorn zu aufweist.

"Man ist versucht, viel herumzuschauen", bemerkt der Komponist im Programmheft der Uraufführung am 28. Oktober 1960 in Hamburg – und man möchte hinzufügen: um viel herumzuhören. Doch Stockhausen empfiehlt: An besten schließt man zeitweise die Augen, um besser hören zu können.

Diesem seriellen oder ohne Verwendung von Reibungen doch parametrischen Ansatz entsprechen in der Folgezeit vereinzelte Kompositionen von Pierre Boulez, Luciano Berio und Iannis Xenakis. "Poésie pour pouvoir" für Tonband und drei Orchester (1958, später zurückgezogen) von Pierre Bonlez, "Tempi concertati" (1958–59) von Luciano Berio für im Zentrum postierte Soloflöte und Violine und in den vier Ecken eines Raums angeordnete Instrumentalgruppen, "Diamorphoses" (1957), "Concret PH" (1958), "Orient–Occident" (1960) und "Bohor" (1962) für vier- oder achtkanalige Tonbänder und "Duel" (1959) sowie "Stratégie" (1962) für zwei Orchester von Iannis Xenakis sind im Zusammenhang dieser frühen parametrischen Raumkompositionen zu interpretieren. Auch einige sehr viel später entstandene Kompositionen, wie etwa "Répons" (1981–…) von Pierre Boulez, die aus dem Plan einer Neukonzeption von "Poésie pour pouvoir" mit den neuen technischen Möglichkeiten des Institut de Recherche et de Coordination Acoustique/Musique (IRCAM) letztlich als neues Stück hervorgegangen ist, basieren auf der parametrischen Raumkomposition der fünfziger Jahre. In "Répons" benutzt Boulez neben einem Instrumentalensemble in zentraler Position sechs an den Wänden ringsum angeordnete Soloinstrumente, deren Klänge über Mikrofon und computergesteuerte Klangtransformation über eine ebenfalls an den Wänden ringsum angeordnete Lautsprecherserie aus immer wieder anderen Richtungen abgestrahlt werden. Den privilegierten idealen Wahrnehmungsort nimmt einzig der Dirigent mit seinem Ensemble ein.

Weiterentwicklungen und gewissermaßen Grenzfälle der konstruktiven parametrischen Wiederaufbauästhetik der fünfziger Jahre bieten u.a. Iannis Xenakis in "Terretektorh" (1965–66) und in "Nomos Gamma" (1967–68), bei dem 88 bzw. 98 Instrumente planvoll im Publikum verteilt spielen, Luigi Nono in seiner Tragedia dell'ascolto "Prometeo" (1984), in der von Aufführung zu Aufführung in gänzlich unterschiedlichen Räumen wie in der Kirche San Lorenzo in Venedig (1984), in der Fabrikhalle Ansaldo in Mailand (1985) und im großen Konzertsaal der Alten Oper Frankfurt (1987) die Solisten, Chor- und Orchestergruppen so weit wie möglich räumlich um das Publikum herum aufgestellt werden, zugleich aber über Lautsprecher aus immer wieder anderen Richtungen erklingen, und John Cage, der in einigen Instrumentalstücken seit 1981 Musiker einzeln oder in Gruppen so weit wie möglich voneinander getrennt spielen läßt, wie in "Thirty Pieces for Five Orchestras" (1981) in der säkularisierten Kirche von Pont-a-Mousson oder in "Thirty Pieces for String Quartet" (1983). Zwar arbeitet Cage nicht mit Zahlen-, Tonhöhen- oder Raumrichtungsreihen, sondern mit Zufallsoperationen. Gleichwohl erscheint Raumverteilung dabei als ein systematisch entwickeltes Element neben anderen, das mit der gleichen Methode bestimmt wird wie die anderen auch.

Einen Sonderfall der seriellen und systematischen Ansätze stellen schließlich die Projekte und Großprojekte dar, bei denen nach mehr oder weniger strengen Ablaufplänen Musik in mehreren Räumen – hier war der slowakische Komponist Ladislav Kupkovic initiativ –, in einem ganzen Haus (Karlheinz Stockhausen u.a. "Musik für ein Haus", Darmstadt 1968), im Ambiente eines Parks (Karlheinz Stockhausen "Sternklang. Parkmusik für fünf Gruppen", Berlin 1971) oder in einer Stadt (Pauline Oliveros "Link" und "Bonn Feier", San Marcos, California 1970 und Bonn 1977) aufgeführt worden ist.

Auch bei der Aufnahme von seriellen, parametrischen und zufallsgesteuerten Kompositionen auf Schallplatte, im Stereostudio von Rundfunkanstalten und selbst bei normalen Konzertaufführungen spielen Raumvorstellungen der systematisch entwickelten Art eine Rolle. So lassen sich die Stereopositionen bei Klangaufnahmen ebenso seriell behandeln wie mit Hilfe von Zufallsreihen, wie das John Cage etwa bei seiner Textkomposition "Muoyce" (1982), seinem "Writing for the Fifth Time through Finnegans Wake", bei Gelegenheit der Studioproduktion im Westdeutschen Rundfunk am 16. Mai 1983 gezeigt hat. Karlheinz Stockhausen wendet das Verfahren der Mikrofonierung aller Instrumente zur anschließenden Klang- und Raumbalancierung seit mehr als zehn Jahren nicht nur bei sorgfältigen Studioaufnahmen, sondern auch im Konzertsaal auf seine älteren seriellen Stücke an, in denen die Raumdimension noch nicht parametrisch behandelt ist.

Vorformen ausgesprochener Raumklangkompositionen in herkömmlichen Notierungen gibt es in verschiedenen Zusammenhängen. Ich möchte hier nur auf frühe Stücke von John Cage hinweisen, der in mehrerer Hinsicht räumliche Konzepte realisiert hat. Eines seiner frühen kleineren Klavierstücke trägt den Titel "A Room" (1943), ein anderes, etwas größeres den Titel "Four Walls" (1944), ein für eine Choreographie von Merce Cunningham entstandenes Stück. Beides sind sehr ruhige, heute würde man sagen meditative Musikstücke. Die erste dezidierte Raumkomposition aber hat nicht John Cage entworfen. Im konzeptionellen Sinn kann man Alvin Luciers Stück "I Am Sitting in a Room" (1969) für Sprechstimme und elektroakustische Geräte als ein Schlüsselwerk ansehen, dem in Luciers Œuvre noch einige weitere vorausgegangen waren.

Zur Aufführung von "I Am Sitting in a Room" werden zwei Tonbandgeräte, ein Mikrofon und einige Lautsprecher mit den dazugehörigen Verstärkern benötigt. Das Stück geht von einem Text aus vier Sätzen aus, die vorher aufgenommen über Lautsprecher wiedergegeben und wiederum aufgenommen werden und so fort. Der Text lautet: "I am sitting in a room different from the one you are in now. I am recording the sound of my speaking voice and I am going to play it back into the room again and again until the resonant frequencies of the room reinforce themselves so that any semblance of my speech, with perhaps the exception of rhythm, is destroyed. What you will hear, then, are the natural resonant frequencies of the room articulated by speech. I regard this activity not so much as a demonstration of a physical fact, but more as a way to smooth out any irregularities my speech might have." Lucier beschreibt sein Konzept: "As the repetitive process continues, those frequencies common to the original spoken statement and the resonant frequencies of the room are gradually eliminated. The space acts as a filter: the speech is transformed into pure sound." Und zum Schluß seiner Projektbeschreibung deutet Lucier einige Erweiterumgen der Ausgangsanordnung an: "Make versions in which one recorded statement is recycled through many rooms. Make versions using one or more speakers of different languages in different rooms. Make versions in which, for each generation, the microphone is moved to different parts of the room or rooms. Make versions that can be performed in real time."

Die raumspezifischste Version von Luciers Stück ist die zum Schluß vorgeschlagene. Sie ist etwas komplizierter im technischen Aufbau. Vor allem deswegen führt Lucier sein Stück in der Regel mit Hilfe eines vorher in einem anderen Raum aufgenommenen Bandes auf, auf das er selbst seinen Text eingesprochen hat. In dieser Version bilden sich genaugenommen zwei Räume mit ihren Resonanzen ab. Allerdings setzt sich prozeßartig mit jeder Wiederholung der zweite Raum immer mehr durch. Luciers "I Am Sitting in a Room" ist so ein kaum überbietbar raumspezifisches Konzeptstück, das in jedem Raum anders klingt, und das jeweils Andersartige daran ist zugleich die dem Raum je eigene Klanglichkeit, die man ihm auf Anhieb gar nicht anhört. Das Tautologische des Stücks, das Beschreiben des Vorgangs, den man zugleich wahrnimmt, wird zugleich in einem Prozeßverlauf aufgelöst in Klang. Das Stück klingt auch von verschiedenen Personen gesprochen verschieden; es bildet nicht nur den Raum, sondem auch den Interpreten ab. Das meint der Hinweis im Text, es sei nicht so sehr eine Demonstration einer physikalischen Tatsache, sondern mehr ein Weg, die Unebenheiten der Sprechstimme auszubügeln. Man kann diesen Aspekt natürlich auch im Zusammenhang damit sehen, daß Lucier stottert und daß er diesen Umstand auf Anregung von Robert Ashley als einen Ansatzpunkt für kompositorische Erfindung in einigen seiner Stücke aufgreift. Diese Eigenart, die ja musikalisch gesehen vor allem ein rhythmisches Phänomen ist, weist zugleich auf den Doppelaspekt von "I Am Sitting in a Room" hin, in dem sich die Person des Interpreten und der Raum klanglich durchdringen. So gesehen ist es auch ein erotisches Kunstwerk. – "I Am Sitting in a Room" stellt ähnlich wie "4'33"" von John Cage einen Grenzfall einer Raumklangkomposition dar.

Vorausgegangen war im Œuvre von Alvin Lucier das Stück "Chambers" (1968), das gefundene Objekte wie Muschelschalen, Teekannen und Aktentaschen als tragbare Miniaturräume benutzt, die z.B. durch Hineinlegen von Transistorradios, Kassettenrecordern und Musikspielzeug zum Klingen gebracht werden. Die Interpreten tragen diese unterschiedlich resonierenden Objekte durch Innen- und Außenräume, so daß die Zuhörer die akustischen Eigenschaften von großen und kleinen Begrenzungen miteinander vergleichen können. – Und vorausgegangen war das Stück "Vespers" (1969), bei dem Interpreten mit Impulsgeneratoren sich in einem dunklen Raum bewegen und es – wie die Fledermäuse mit Hilfe der Echos vermeiden, an Wände oder Gegenstände und Personen im Raum anzustoßen. – In einem vierten Stùck, in "Quasimodo the Great Lover" (1972), untersucht Lucier schließlich die Veränderung von Klängen bis zur Unkenntlichkeit, wenn sie durch verschiedene Materialien wie Wasser, Metall und Eis geschickt werden.

In einer späteren Serie von Stücken und in einer Installation untersucht Alvin Lucier schließlich die unterschiedliche Verteilung von minimal gegeneinander verstimmten Sinuswellen im Raum, macht sie teilweise mit Hilfe von Lämpchen sichtbar oder lädt Zuhörer, wie in der Installation "Seasaw" (1983), ein, Überlagerungen und Auslöschungen zweier nahezu gleicher Tonhöhen, die über zwei extrem voneinander entfernte Lautsprecher abgestrahlt werden, im Raum selbst wahrzunehmen.

Das Werk von John Cage, das in "Variations VIII" (1978) und in den "Musicircus"-Projekten (1967–) weitere raumrelevante Konzepte enthält, und das von Alvin Lucier stehen hier nur für zwei sehr grundsätzlich und zugleich folgenreiche Positionen. Einzelne Raumklangaspekte haben eine ganze Reihe weiterer Kompositionen in ihr Werk einbezogen. In La Monte Youngs "Composition 1960 No. 7" (1960) ist eine reine Quint H–fis notiert "to be held for a long time". Auch er installiert seine reine Quinte mit Sinusgeneratoren in einem mit Pattern-Projektionen von Marian Zazeela geschmückten Raum als Meditationsraum. In seinem Theatre of Eternal Music wirkten John Cale und Terry Riley mit. Und sein "Dream House" ist eine Art sakralkünstlerischer Überraum.

Das berührt sich auch mit anderen minimalistischen und meditativen Ansätzen. Mehr als andere Kompositionen sind derartige Stücke auf den Innen- oder Außenraum angewiesen, Pauline Oliveros "Sonic Meditations" ebenso wie die Installationen der mikrotonalen Musik von Phill Niblock, die Obertonarbeiten von Roberto Laneris "Prima Materia" ebenso wie von David Hykes' "Harmonic Chour" und die Soli von Michael Vetter. Auch eine ganze Reihe von Kompositionen und Klangenvironments von Hans Otte, wie "Showdown" (1977) und "On Earth" (1978), in denen gleichzeitiges Erscheinen von G-Dur und g-Moll über einen großen Zeitraum dargestellt wird, gehören in diesen Zusammenhang. Das Außerkraftsetzen von Alltagshektik in den Langzeitkompositionen wie in den für die Fluxus-Violocellistin Charlotte Moorman entworfenen Arbeiten von Jim Mc Williams, wie in John Cages "Empty Words" (1974–1975) und wie in den späten Kammermusiken von Morton Feldman, sensibilisiert außerordentlich für die Wahrnehmung des Raums und des Publikums um den einzelnen Hörer herum. Man könnte ohne Euphorie und ohne einen Wechsel der Prioritäten an einer großen Zahl ganz unterschiedlicher Musiker wie David Behrman, David Tudor, Julius, Liz Philips, Christina Kubisch, Richard Lerman, Paul Panhuysen, Ellen Fullman, um nur einige Namen zu nennen, feststellen, daß räumliche Konzeptionen von Musik über einen längeren Zeitraum hinweg wesentlich an Interesse gewonnen haben. Das hängt zusammen auch mit ähnlichen Tendenzen in ästhetisch benachbarten Zonen, mit Musikperformance, mit Textkomposition, mit Klangskulptur, mit Körperklang, auch mit den technologischen Bereichen einer klanglichen Dia-, Video- und Medienkunst, das hängt aber auch zusammen mit ästhetisch relevanten Ansätzen wie der Concept Art, der Pattern Art, der konkreten Kunst, dem meditativen und dem experimentellen Musikdenken.

LITERATUR

John Cage (Katalog), New York, New York 1962, S. 37, 25.

John Cage,"4'33", in: Source. Music of the Avantgarde Vol, 1, No, 2, Davis, California 1967, S. 46 ff.

Karlheinz Stockhausen, Musik im Raum, in: die Reihe. Informationen über serielle Musik, Heft 5, Wien 1959, S. 60, 73

Karlheinz Stockhausen, Texte zu eigenen Werken und zur Kunst Anderer, Band 2, Köln 1964, S. 102.

Alvin Lucier, Chartres, Middletown, Connecticut 1980, S. 30 f.

Alvin Lucier, The Tools of My Trade, in: Seems Vol 2, No 1, Cambridge, Massachusetts 1981, S. 146 (Deutsch in MusikTexte. Zeitschrift für neue Musik, Heft 16, Köln 1986, S. 27).

La Monte Young und Jackson Mac Low (Hrsg.), Anthology, New York, New York 1963, o. S.

La Monte Young Selected Writings Munchen 1969, o.S.

Hans Otte, Visuelle Musik. Klänge Texte Bilder Ereignisse Theater, Baden-Baden 1979, o. S.