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Ars Electronica 1987
Festival-Programm 1987
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Festival 1979-2007
 

 

The Sound of Music


'Douglas Kahn Douglas Kahn

"Eigentlich sollte Kunst insgesamt ordentlich verprügelt werden."

Richard Huelsenbeck
In letzter Zeit ist eine intensivierte künstlerische Auseinandersetzung mit Klang festzustellen. Man kann dies auf eine Reihe von Faktoren zurückführen, unter anderem darauf, daß jene Künstler, die Neues entdecken wollen, erkannten, daß bei den hergebrachten Kunstformen die Zeiten wesentlicher Neuentdeckungen erschöpft sind, während auf dem Gebiet der Kunst des Klanges eine solche Periode vor uns liegt. Während die anderen wieder einmal von einem Finale sprechen, geht hier die Saison erst los.

Dieses Phänomen, daß man innerhalb der Tradition der Avantgarde ein Gebiet künstlerischer Möglichkeiten wahrgenommen hat, scheint dem so oft durchgespielten historischen Szenario zu widersprechen, welches behauptet, daß die Avantgarde des ersten Drittels unseres Jahrhunderts die künstlerischen Schlüsselideen und Strategien für alles später Folgende prägte; alle Aktivitäten nach dem Zweiten Weltkrieg werden als Varianten historischer Wiederholung eingestuft. In sehr vielen Fällen wirkt dieses Szenario überzeugend und das gilt nicht nur für die Kunst. Der Postmodernismus selbst ist unter anderem als ein Eindringen der Avantgarde in die Massenkultur beschrieben worden; ja, die frühe Avantgarde kann sogar Derridas Definition von Collage für sich beanspruchen. (1) Im Fall von Klang jedoch kann dieses Szenario nicht überzeugen, einfach deshalb, weil die Klangkunst in der frühen Avantgarde im Grundsätzlichen keine Entwicklung aufweist: eine verkümmerte Vergangenheit verursacht durch eine Reihe von Behinderungen, sowohl institutioneller wie diskursiver Natur, die teils von außen, teils selbst auferlegt waren. Wenn wir uns nun für Versuche, einen neuen Weg einzuschlagen oder zumindest überzeugende Einwände vorzubringen, interessieren, so müssen wir uns dem Problem stellen, daß die Ursachen der Behinderung noch immer wirksam sind, und daß sich ihnen sogar noch weitere hinzugesellt haben. Annahmen, die tief in das Allgemeinbewußtsein eingraviert sind, müssen hinterfragt werden, und Schritte für ein fruchtbares Projekt auf neuem Boden müssen gesetzt werden.

Im Folgenden möchte ich vorlegen, was ich und andere Künstler, mit denen ich gesprochen habe, für die Primärursache der Behinderung halten, nämlich: die Gleichsetzung künstlerischen Klangmachens mit Musik. Wir möchten das die MUSIKALISCHE ANMASSUNG nennen. Das ist ein mächtiges, hartnäckiges diskursives Hindernis, das lange Zeit künstlerische Möglichkeiten gezügelt hat, ein Hemmnis, dessen einziges positives Charakteristikum aus unserer Sicht völlig eigennützig ist: das Potential zur Entdeckung für unsere Zeit aufgespart zu haben. Theoretisch kann es auf die reduzierenden Eigenschaften jeder Hörapperzeption zurückgeführt werden und darauf, daß Musik die Disposition für das gesamte Spektrum möglichen Klanges aufweist. Daniel Charles machte davon Erwähnung und stellte gleichzeitig verschiedene "Verschlüsselungen" in den musikalischen Praktiken theoretischer Komponisten der Nachkriegszeit fest. Er zitiert den zeitgenössischen Philosophen Don Ihde, der davon spricht, daß wir mangels Ohrenlidern in einem gegebenen Augenblick nur eine psychische und keine physiologische Kontrolle über das gesamte hörbare Geschehen haben. Diese psychische Kontrolle "ist meine Aufmerksamkeit und deren Selektivität, Eben diese Selektivität jedoch ERSCHLIESST mir einiges über Klänge und VERSCHLIESST gleichzeitig andere Klangaspekte.“ (2) Nach Charles wiederholen die gängigen musikalischen Methoden, insbesondere die konventionellen Praktiken der Notation und die herrschenden Systeme, musikalisches Material zu organisieren, notwendigerweise diesen Prozeß des Erschließens und Verschließens. Die ständige Bevorzugung des Letzteren widerspricht jedoch einem Projekt autoritärer, "kalkulierbarer" Kontrolle. Diese Ausführungen von Charles beschränken sich jedoch auf Musik und sind somit Ausdruck der Abgrenzungsbestrebungen der Musik von dem weiten Bereich hörbaren Geschehens.

Es gibt ein Verschließen oder Verschlüsseln, das sich nicht auf die musikalische Praxis beschränkt und das dort auftritt, wo die musikalische Praxis an andere künstlerische Klangpraktiken grenzt. Ganz im Sinne der musikalischen Anmaßung ausgedrückt: die Abgrenzung zwischen den mimetischen und nicht-mimetischen Aspekten von Klang. Diese Trennung entspricht vielleicht allen Regeln des Common sense, sie ist aber willkürlich, und je mehr die gegenwärtigen Pressionen steigen, desto willkürlicher wird sie. Es gibt neben der Musik noch viele Möglichkeiten, sich Klang vorzustellen und zu schaffen, und es sollte noch weitere geben, die diese Grenze zwischen mimetischem und nicht-mimetischem Klang ungestraft überschreiten. Einschränkungen dieser Mobilität stellen nicht nur eine Verzerrung des Bereiches möglicher künstlerischer Praktiken zwischen der Musik und einer Klangkunst dar, sondern auch innerhalb der Kunst oder der Künste des Klangs, da musikalische Imperative Klängen auferlegt werden, die nicht eigentlich musikalisch sind. Auch in der Kunst kommt es zu Anmaßungen. Es ist durchaus üblich, den Begriff Musik so zu erweitern, daß er als Trope für die Gesamtheit von Klang verwendet wird.
RUSSOLO UND DIE GERÄUSCHMUSIK
Die Tradition der mimetisch/nicht-mimetischen Grenzziehung ist tief verwurzelt. Selbstverständlich spielten dabei die echten und auch selbst erstellten Grenzen der Kapazität musikalischer Technik (der Instrumente) für hörbare Imitation eine Rolle, auch wenn es schon immer annehmbare Techniken für eine Kunst des mimetischen Klanges gegeben hat. Nachdem aber Ende des 19. Jahrhunderts mit der Entwicklung der Phonographie die eigentliche Technik für aurale Imitation für den mimetischen Klang kam, läßt sich mit derartigen Schwierigkeiten eine Untätigkeit nicht mehr rechtfertigen, Etwa zur gleichen Zeit wurden eben jene mimetischen und sozialen Aspekte des Klanges durch den zunehmenden Krach der Mechanisierung (schließlich war der erste Phonograph eigentlich eine hochempfindliche Drehscheibe aus Metall) und durch den "Zusammenbruch der Bezugspunkte" (3), wie es Henri Lefebvre formulierte, hervorgehoben. Die Verlaufskurve der auralen "Mimetisierung" erreichte in den zwanziger Jahren ihren Höhepunkt, als zur Phonographie auch noch Radio und Tonfilm kamen, die nun quer durch das ganze Spektrum "natürlicher Klänge", Geräusche, Sprache und Musik Klangmomente für immer chiffrierten.

So sehr verbreitet dieser höchst mimetische Klang auch wurde, es kam zu keiner künstlerischen Anwendung der Schallaufzeichnung und Nachahmung. Jeder zaghafte Versuch wurde "musikalisch zum Schweigen gebracht". Das geschieht im selben Moment als der Schall in der Avantgarde verwendet wird, ich denke an Luigo Russolos "Lärmkunst". Schon bei seiner Behandlung des künstlerischen Ausgangsmaterials bis zur Rezeption seines Werkes durch andere wird eine wirklich radikale Kunst des Schalls oder Klangs durch Begriffe der Musik unterdrückt. Sein einführendes Manifest von 1913 zeigte wohl Anzeichen eines Kampfes gegen die mikrotonalen musikalischen Verschlüsselungen des herrschenden italienischen futuristischen Komponisten Francesco Balilla Pratella, läßt aber auch einen tiefsitzenden Zwiespalt bezüglich der Frage erkennen, ob nun die Lärmkunst eine unabhängige Kunst oder von der Musik abhängig sein soll. Da er die Frage für sich einfach innerhalb des Projektes einer "großen Erneuerung der Musik" löste, blieb sie eine Quelle ständiger Schwierigkeiten.

Eine zeigte sich sofort. Russolo stellte die Lärmkunst an die Spitze der Entwicklungslinie der Musik. Musik, so sagte er, entstand vorzeiten als eine Trennung von der Welt des Schalls und blieb während der Jahrtausende von der Triebhaftigkeit des Lebens getrennt und stagnierte, während sich Kultur weiterentwickelte. Die Musik versuche, diese Trennung und die daraus entstandene Bedeutungslosigkeit wieder gutzumachen, indem sie eine unsinnige transzendente Macht für sich beanspruche, mit deren Hilfe sie eine "der Wirklichkeit überlagerte Phantasie" leite und kontrolliere. Aber der Lärm einer "wachsenden Vielzahl von Maschinen", die Klänge der Moderne, der Stadt und des Krieges ließen eine derartige Überlagerung nicht mehr zu, sondern forderten nach Russolos Überzeugung eben jene Art von Verbindung mit dem Leben, die es seit den Anfängen der Musik nicht gegeben hatte. Nachdem er sich aber diesen Klängen hingegeben hatte, verweigerte er sich eben jenen mimetischen Aspekten, die sie in so vielem mit Situationen des täglichen Lebens verbanden. Obwohl er für eine Einstellung zum Klang eintrat, die seiner Meinung nach noch nie bestanden hatte, kam es zu keinem Umschwung oder Neubeginn, man versuchte nicht Platz zu schaffen für eine autonome künstlerische Betätigung, der Höhepunkt der Entwicklung der Musik sollte musikalisch bleiben. Die Signatur des Lärmes sollte im wesentlichen ausschließlich in der Klangfarbe bestehen …", sollte physisch, unverbindlich sein; die Art, wie er im Lärm eine Vertikalität der indeterminanten harmonischen Komplexität sah, wurde sofort als eine Darstellung der gegenseitigen Verwobenheit und Durchdringung des "Lebens" und als dessen Surrogat verstanden. Ferner wurden seine Ansichten über eine "Lärmkunst" noch durch seine Ansichten über Kunst im allgemeinen unterstützt. Kunst hat mit Emotionen zu tun, und Mimese hat in den Tiefen der Seele, wo diese Emotionen kreuzen, nichts zu tun, überdies sollte einzig der Künstler Herr über das künstlerische Material sein. Hingegen erinnert Imitation die Menschen an ihre persönlichen Erfahrungen mit der Welt und diese mnemonischen Darstellungen, diese mannigfaltigen und vergänglichen Materialfetzen entziehen sich der Kontrolle des Komponisten.

Die INTONARUMORI, die Instrumente, die Russolo baute, um seine Lärmkunst zu spielen, waren auch widersprüchlicher Natur. Wenn sie auch angeblich als künstlerische Antwort auf den Übergriff der Motoren und Metalle der Moderne erzeugt worden waren, so war ihr Entwurf im wesentlichen nicht von der Technologie der Gegenwart beeinflußt, sondern von der Technologie der traditionellen Musikinstrumente: der Trommel, der Drehleier, dem Löwengebrüll etc. Da keines der INTONARUMORI mehr existiert, kann man über ihren Klang nur spekulieren. Doch auch die Berichte von Ohrenzeugen der Konzerte und Demonstrationen spiegeln den gleichen Zwiespalt bezüglich der Frage nach Imitation und Musik. Russolo gab zu, daß die INTONARUMORI durchaus "irreführend" sein konnten, das heißt, daß sie Klänge produzieren konnten, die identifizierbar waren. Er suchte daher nach Methoden, um dies zu vermeiden und auch nach Gründen, um etwaige Befürchtungen zu beschwichtigen. Andere Kommentatoren zu den INTONARUMORI und zur Lärmkunst behaupteten mehrheitlich, daß sie sich der Imitation widersetzten. Sie verstanden also die Lärmkunst als nicht mit Musik vergleichbar oder, da ja Musik als einzige Kunst des Klanges angesehen wurde, als den Voraussetzungen für Kunst überhaupt nicht entsprechend. Sie wurde abgetan als ein vulgäres Ereignis von Klangeffekten oder in der minderwertigen Aufgabe, Klangeffekte zu liefern, eingesetzt. Russolo hielt lange Zeit hindurch derartige Angriffe aus. Darin aber machte er sich die Auffassung zu eigen, daß seine Kunst dem Wesen nach tatsächlich imitativ sei. In den zwanziger Jahren entwarf er Instrumente, die erklärterweise "irreführend" waren, das gipfelte dann im Russolophon, einem Tasteninstrument, das so zur Imitation geeignet war, daß es zur Begleitung von Stummfilmen eingesetzt wurde. Damit hatte er ein Instrument geschaffen, das dieselbe Funktion hatte wie die Klangeffektorgeln. Und wie diese wurde es dann durch den Tonfilm überflüssig. Hätte Russolos Lärmkunst in ihrer Planung und Durchführung alle Aspekte des irdischen Klanges berücksichtigt, anstatt die Klänge in die einengende Form der Musik zu zwängen, dann hätte die Rückkehr der unterdrückten Mimese nicht in der trivialisierten Form der Klangeffekte geendet, und diese Kunst wäre nicht so leicht das Opfer der neuen Technologie des Tonfilms geworden. Hätte er die Mimese in das Ausgangsmaterial seiner Kunst integriert, dann wäre die Lärmkunst eine Kunst gewesen.
DIE DAZWISCHENLIEGENDEN JAHRE
Einen weiteren bedeutsamen Abschnitt stellt der Kubismus dar, vor allem im Unterschied vom analytischen zum synthetischen Kubismus. Die Auflösung der Darstellung des analytischen Kubismus geschah unter dem Vorzeichen der Musik. Die Musik war ein Modell des Strebens nach Bezugslosigkeit und eines Systems der Relationalität PER SE – Gleichzeitigkeit war zum Beispiel in der Musik ein Kinderspiel. Anders ausgedrückt: Hätte es eine Klangpraxis gegeben, die auf dem analytischen Kubismus basierte, dann wäre sie von Musik nicht zu unterscheiden gewesen. Ganz anders war das beim synthetischen Kubismus. Seine Einbeziehung tatsächlicher Objekte hätte eine Klangpraxis zur Folge gehabt, die wesentlich anders als Musik gewesen wäre, wie sie eigentlich mit dem Ballett PARADE schon eingeleitet wurde, wäre nicht die vorgeschlagene Verwendung von mimetischem Klang ausgeschlossen und herabgesetzt worden. Eigentlich müssen wir uns bei jeder Begegnung mit Collage in der Malerei, der Bildhauerei, der Fotografie und der Literatur in der frühen Avantgarde die Frage stellen, wo die entsprechende Klangpraxis war. Dabei muß uns bewußt sein, daß das, was damals und auch noch jetzt als musikalische Collage geschätzt wird, im Grunde eher ein Quodlibet ist, d.h. nur verschiedenes musikalisches Material in eine bestimmte Anordnung bringt, während doch Collage bedeutet, daß artfremde Artefakte auf ein Substratum aufgebracht werden.

Die Verbreitung des Radios, der elektrotechnische Fortschritt in der Phonographie und das Aufkommen des optischen Tonfilms in den zwanziger Jahren hatte einen Ausbruch hektischer Bemühungen in Richtung einer von musikalischer Theorie unbelasteten Klangkunst zur Folge. Schließlich wurde damals das volle Spektrum von Klang – Sprache, Musik, Klang/Lärm und der alltägliche Klang der alles erfassenden Medien – für alle hörbar. Während der Weimarer Republik traten Weill, Brecht und Arnheim für die künstlerischen Möglichkeiten des Radios ein, und 1933 verfaßten Pino Masnata und F. T. Marinetti ihr "La Radia"-Manifest. Bei Versuchen avantgardistischen Filmsound zu machen, wurde die musikalische Anmaßung beibehalten, die ein Erbe der "Visuellen Musik" der frühen Filme und der Synästhesie der Lichtorgeln war. Doch wie Carlos Chavez 1937 feststellte, war nichts geschehen, um die neuen Möglichkeiten voll zu nutzen, eine Feststellung von beachtlicher Gültigkeit. (4)

Das unaufhaltsame Eindringen des Sozialen, des Klanges um uns herum, vor allem der Klang des Fernsehens und des munter sprießenden kapitalistischen Spektakels, machten es nötig, daß Musiktheoretiker und theoretische Musiker eindeutig definierten, was nun Ausgangsmaterial für Musik sei und was nicht. In den aus dieser Zeit stammenden Schriften von Leuten wie Milton Babbit und Pierre Boulez findet man, wie zu erwarten, höchst disziplinarische Proklamationen, eine Wissenschaftlichkeit, die sich gegen steigende soziale und künstlerische Pressionen stemmt. Sie behaupten allerdings nie, daß sie sich um irgend etwas anderes als um akzeptierte Begriffe von Musik kümmern, sie beanspruchten nie, sich mit Klang in weiterem Sinn befaßt zu haben (die Klänge, mit denen sie sich befaßten, waren die der "Zivilisation").

Anders verhielt sich das bei der MUSIQUE CONCRÈTE. Pierre Schaeffer hatte mit seiner "acousmatics", das heißt mit der Einführung phonographischen Klanges und der gleichzeitigen Beseitigung seiner asozialen Eigenschaften, gepaart mit seiner allgemeinen Übereinstimmung mit akzeptierten musikalischen Ordnungsweisen, einen hindernden Einfluß. Wie die anderen wollte auch er nichts anderes als Musik machen, aber die Einschränkungen in seinen ursprünglichen Formulierungen führten dazu, daß bis zum heutigen Tag von manchen Leuten künstlerischer Einsatz von phonographischem Material ohne viel Federlesen unter MUSIQUE CONCRÈTE eingeordnet wird. Diese Täuschung entstammt dem gleichen konservativen Antrieb, der ihn zum Beispiel dazu anregte, seine solfeggioartigen Strukturen und andere von der Musik abgeleiteten Technizismen zu konzipieren. Hier handelt es sich um musikalische Verschlüsselung und Verheimlichung, noch lange bevor sich die Fragen des Klanges und damit der musikalischen Anmaßung stellen.
KLANG ALS MUSIK À LA CAGE
Von größtem Einfluß war in der Periode seit dem Zweiten Weltkrieg John Cages Festhalten an der musikalischen Anmaßung in seinem ästhetischen Programm. Obwohl sein Werk die ernsthafteste und nachhaltigste Herausforderung für das musikalische Denken in neuerer Zeit darstellt, ganz abgesehen von Bereichen außerhalb der Grenzen musikalischen Schaffens, hat das Gedankengut von Cage auf eine Klangkunst eine limitierende Wirkung ausgeübt. Das wäre nicht so bedenklich, wenn er nicht, wie er es immer wieder getan hat, beteuert hätte, daß er sich mit Klang PER SE beschäftige. Sein Bekenntnis zur musikalischen Anmaßung wirkt sich nicht nur über sein eigenes Werk hinausgehend aus, es widerspricht auch einigen seiner ganz zentralen sozio-ästhetischen Lehren.

Bei Cage, dessen Name in einem Atemzug mit Postmodernismus genannt wird, erscheint es wie eine Ironie, daß das unitarische Prinzip, das zur Erhaltung der Abgrenzung von mimetischem und nicht-mimetischem Klang eingehalten wird, eher für den Modernismus zutreffend ist. In dieser Hinsicht überbrückt Cage Modernismus und Postmodernismus, so wie seine Karriere die Kriegsjahre überbrückt von den Anfängen in der Mitte der dreißiger Jahre bis zu seinem erkennbaren Einfluß zu Anfang der fünfziger Jahre. In einer Vorwegnahme von Schaeffer versuchte er 1942 in einer Erklärung den durch Phonographie und Tonfilm möglich gemachten Charakter der Klänge zu bestreiten, indem er "an ihre eher expressiven als darstellenden Eigenschaften …" erinnerte. (5) Dies verwirklichte er 1952 mit IMAGINARY LANDSCAPE NO. 5 und WILLIAMS MIX. Ersteres besteht aus dem Klang von irgendwelchen 42 Grammophonplatten und war, nach Cage, "das erste Musikstück, das in diesem Land für Magnetband gemacht wurde." (6) WILLIAMS MIX wurde im Rahmen von Louis und Bebe Barrons Projekt "Music for Magnetic Tape" in New York komponiert, ein Projekt, für das auch Earle Brown, Morton Feldman, David Tudor und Christian Wolff Beiträge lieferten. WILLIAMS MIX war eine dichte Anhäufung von kleinsten Klangfragmenten aus ganz verschiedenartigen Quellen.

Die Partitur ist für ein Band geschrieben, das mit einer Geschwindigkeit von 38 cm pro Sekunde läuft. Jede Seite dauert eineindrittel Sekunden, und die ganze Partitur (192 Seiten) dauert einen Bruchteil länger als viereinviertel Minuten. Das verwendete Material fällt in sechs Kategorien: A (Stadtklänge), B (Landklänge), C (elektronische Klänge), D (manuell erzeugte Klänge, einschließlich der Musikliteratur), E (durch Atmung erzeugte Klänge, einschließlich Gesang) und F (kleine Klänge, die, um neben den anderen gehört zu werden, verstärkt werden müssen). Ungefähr 500 bis 600 Klänge wurden von Louis und Bebe Barron aufgenommen und in mehr als neun Monaten von Earle Brown, David Tudor und mir die acht Tonbänder zusammengestellt. (7)

Für den eingeweihten Zuhörer wird sich der Zusammenbruch eines solchen Klanggewebes, wie oft auch andere Musik, als austauschbar mit einer Selbstdarstellung erweisen. Es wird vielleicht sogar "Musik" darstellen, so wie die hochgeschätzte Erhabenheit der Musik immer zumindest Erhabenheit darstellt. In dieser Hinsicht ist WILLIAMS MIX fur die Darstellung von gleicher Bedeutung wie 4'33" für die unmittelbare akustische Erfahrung. Jedoch wurden alle Assoziationen der Klänge vielleicht mit ihrer Quelle abgeschoben, um allein die Rolle eines Geräusches zu spielen. Wie bei Russolo war auch für Cage das Geräusch, der Lärm gleichzeitig der Schlüssel zur Welt und seine Waffe gegen musikalische Konvention. Für beide stellte der Lärm die elastische Trennung dar, die nötig war, um eine Erneuerung der Musik zu verwirklichen. ("Lärm" hat abgesehen von physischem Schmerz und Schaden ja keinen tieferen Sinn, nicht wahr. Aber ist da noch etwas verwunderlich?) Einmal behauptete Cage, daß jeder Klang, jedes Geräusch "as is" – "wie es ist" zum Vergnügen oder als Anstoß aufgenommen werden sollte, vor allem so wie es IN SITU sich ereignet, außerhalb einer Musikstätte, so wurde seine frühere überschreitende Funktion geschwächt: der Lärm war dienstbar geworden. Seine frühere Funktion wurde einfach durch ein anderes Verbot ersetzt, eines, das schon vorher bestanden hatte, das aber noch weniger vorstellbar war als Lärm, die mimetische Abgrenzung. Für Cage stellt Bezug den neuen Lärm dar.

Für Cage ist Stille unlösbar mit der Welt des Klanges verbunden. 4'33" stellt, wenn es auch als das "stille Stück" bekannt ist, eine ausdrückliche Kehrtwendung in dieser Hinsicht dar, allerdings nicht in der verallgemeinernden, alltäglichen Bedeutung von aller Stille und allem Klang. Er jedoch ließ die Musik verstummen, um den Klang zu Musik zu machen. (8) Bei einem Stück wie WILLIAMS MIX werden alle Klänge für den musikalischen Ausdruck verfügbar gemacht, während 4'33" die musikalische Apperzeption auf jeden Klang erstreckt, ob er nun musikalisch ausgedrückt wurde oder nicht. Solch eine Aufführung kann außerhalb eines herkömmlichen Aufführungsortes jederzeit und überall stattfinden. Es ist nur Sache der Einstellung. "Wenn ihr die Wahrheit wissen wollt, so ist die Musik, die ich am liebsten habe, lieber als meine eigene oder die eines anderen, das was wir hören, wenn wir einfach still sind.“ (9) Da diese Einstellung sich aber im Rahmen der Bedingungen der musikalischen Rezeption vollzieht, wird es nötig, daß den Klängen zumindest ihr semantischer Inhalt genommen wird. Obschon man sie wenigstens noch ungehindert als gelegentliche Bekräftigung der Indeterminanz beläßt, bedeutet das noch kein Anzeichen eines neuen Weges. Die implizite Anweisung, eine Einstellung gegen den Einbruch des mimetischen Klanges, der Bezughaftigkeit, des Sinnes, der Sozialität etc. zu beziehen, engt die Beziehung des einzelnen zum sonisch/semiotischen Objekt ein. Bei dem Versuch, das Objekt zu neutralisieren, indem er es musikalisch macht, wird der einzelne vereinnahmt, was dazu führt, daß man an der Vorstellung menschlicher Subjektivität verzweifelt, ganz abgesehen von dem Potential für radikale Subjektivität.

Cage ist bereit, Musik als Trope für allen Klang zu erweitern. In dem Moment, in dem man die Urheberschaft einer vorher nicht bestimmten Komposition von Cage in Frage stellen kann, kann man bloß hoffen, daß jeder übriggebliebene, mit Cage assoziierte Urheberschaftsanspruch über Bord geworfen wird, wenn jemand unter dem Einfluß von Cage "omniattentively" – mit vollster Aufmerksamkeit – mit "happy new ears“ (10) der hörbaren Wirklichkeit und nicht einer einzelnen Komposition zuhört. Die Frage seiner Urheberschaft ist aber eigentlich unwichtig. Jede Beeinflussung unter dem Vorzeichen der Musik wird notwendigerweise gewisse Aspekte ästhetisieren, kulturell assimilieren und letztlich verschachern und so zur Bildung der Subjektivität, der auch Urheberschaft zuzuordnen ist, beitragen. Dieser Grad von Anthropomorphismus widerspricht sehr den ausdrücklichen Absichten von Cage. Zu behaupten, daß damit nicht eine sozio-kulturelle Größe etabliert werde, zu behaupten, daß eine Darstellung der Natur nicht historisch sei, sich darauf zu berufen, daß Musik sich allen Klanges bemächtigen könne, heißt das, was in Abrede gestellt wird, noch zu verschlimmern, indem es kaschiert wird. Wie auf diese Weise normative und imperialistische Haltungen legitimiert werden, ist gegen die Ökologie und Sozioökologie, obwohl oder vielleicht weil Cage Musik und Ökologie gleichgesetzt hat: "Nach meiner Vorstellung ist Musik ökologisch. Man könnte weitergehen und sagen, SIE IST ÖKOLOGIE.“ (11) (Originalbetonung) Er ist, wie auch VIELE andere, bereit, das Netz der Musik sehr weit zu spannen. R. Murray Schafer hat zum Beispiel folgende kühne Behauptung aufgestellt: "Heute gehören alle Klänge zu einem zusammenhängenden Feld von Möglichkeiten, die INNERHALB DES UMFASSENDEN HERRSCHAFTSBEREICHES DER MUSIK liegen.“ (12) (Originalbetonung) Es zeigt sich aber keine Bereitschaft, die symbolische Gewaltanwendung zu erkennen. Wann hat man denn schließlich das letzte Mal den Ausdruck Herrschaftsbereich, "dominion", gehört.

Ein Beispiel von Klangkunst, das beeinflußt von der musikalischen Anmaßung von Cage entstanden ist, ist die Arbeit von Bill Fontana, der in der Öffentlichkeit viel Aufmerksamkeit zuteil wurde. Im besonderen denke ich da an sein radiophonisches Projekt aus jüngster Zeit, die SATELLITE SOUNDBRIDGE BETWEEN SAN FRANCISCO AND KÖLN, eine Satelliten-Ohrbrücke, mit der er die Klangskulpturen THROUGH THE GOLDEN GATE und METROPOLIS KÖLN verband. (13) Ich möchte gleich feststellen, daß die Bewunderung, die diesen Werken zuteil wurde, einer falsch angebrachten Bewunderung für einen beachtlichen technischen Apparat zugeschrieben scheint, der zur Verwirklichung künstlerischer Absichten eingesetzt wurde, und weniger den künstlerischen Absichten an sich. Sie wären weniger leicht ins Profane abgeglitten und hätten sich besser gegenüber der Technik behaupten können, wenn Fontana nicht versucht hätte, den klanglichen Umfeldern musikalische Ideen aufzuzwingen.

Fontana vertritt die typische musikalische Trope: "Wir sind von Musik umgeben." So sagte er zu seinen Aktivitäten in Köln: "Es war meine Absicht, vorübergehend die Stadtlandschaft von Köln in eine musikalische Skulptur zu verwandeln." (14) In seinem Werk werden die assoziativen Eigenschaften der Klänge beschworen und dann unter dem Vorzeichen einer "Musik" (à la Cage) eingesetzt. Die Anwendung von Musik für ein "Portrait" einer Stadt hat schon früher einmal stattgefunden und auch damals, wie bei Fontanas Köln, handelte es sich um eine deutsche Stadt: Walter Ruttmanns filmischer Querschnitt, BERLIN, THE SYMPHONY OF A GREAT CITY aus dem Jahr 1927. Ruttmanns Film überging alles, was nicht von dem oberflächlichen Blick der Kamera aufgenommen worden war. Er entschied sich hingegen für "optische Musik" und übertönte das soziale Geschehen der Stadt, insbesondere durch Anwendung der "rhythmischen Montage". Siegfried Kracauer schrieb dazu 1928: "Dieser Symphonie gelingt es nicht, auf irgend etwas aufmerksam zu machen, denn sie deckt keinen einzigen wesentlichen Kontext auf." (15) Das Köln von Fontana war im Vergleich dazu noch menschenleerer als Ruttmanns Berlin. Alltagsklänge wurden ästhetisiert, und die bestehenden diskursiven Klänge wurden abgeschwächt, z.B. wurden die Schritte der Fußgänger in Köln von einem unterhalb eines Kanaldeckels angebrachten Mikrofon aufgenommen, so wie auch die über die Golden Gate Bridge fahrenden Autos von unterhalb der Brücke aufgenommen wurden. Hinzu kam noch, daß auch bei den Aufnahmen in der Umgebung von San Francisco die sozialen Faktoren, die in Darstellungen von "Natur" enthalten sind, durchwegs außer acht gelassen wurden.

Weit entfernt von jeder Beeinflussung durch Cage oder irgendeinen theoretischen Komponisten, ist die musikalische Anmaßung am stärksten im Bereich der neuesten Entwicklungen der digitalen Samplerinstrumente. Es ist ja nicht verwunderlich, daß der Diskurs in die Technologie eingebaut wird, doch hier ist das noch schlimmer, was wahrscheinlich darauf zurückzuführen ist, daß er mit den ökonomischen Imperativen der Musik der Massenkultur Schritt halten muß. Im Verlauf der vergangenen Jahre konnte man auf einen Blick die technischen Früchte der Industrie in Wirtschaftsmagazinen und Illustrierten sehen. In den Bildunterschriften und in begleitenden Texten und Beiträgen wurde immer behauptet, daß sich damit auch gleichzeitig neue künstlerische Möglichkeiten eröffnen. Was aber geschah, kann man besser als implosiven Erguß, als eine Konzentration von schon Bestehendem bezeichnen.

Besonders augenfällig wird dies, wenn es um das INSTRUMENT als solches geht. Sampling Keyboards und andere interaktive Konfigurationen können eine Reihe von Instrumenten auf einen Platz konzentrieren, können die Hervorbringung gewisser Klänge beschleunigen, können ganze Klangfamilien aufmarschieren lassen, die vorher nicht verfügbar waren, usw. Doch dies alles wurde bisher nur genutzt, um schon bestehende Musikinstrumente im Rahmen akzeptierten musikalischen Vokabulars zu reproduzieren. und dabei legt doch die Grundlage des Sampling in den Eigenschaften der Phonographie, vor allem die Möglichkeit der Verlagerung, ein neues, nicht-musikalisches Verständnis des Instrumentes nahe. (16) Kurz gesagt: der Entstehungsort von Klängen ist bei einem konventionellen Musikinstrument, z.B. bei einer Violine, kongruent mit dem physikalischen Ort des Instrumentes (ganz ähnlich wie bei der Sprache, im Sinne der Metaphysik der Präsenz). Wird eine Geige gespielt, so entsteht der Ton am physikalischen Ort, dort wo Holz, Metall, Saiten sind. Der phonographische Klang entsteht woanders und ihm fehlt eine wesentliche Kongruenz mit dem digitalen Sampler. Man kann das "Instrument" statt dessen als eine Art Konfiguration auffassen, als einen Ort, der mittels einer theoretisch unbegrenzten Mobilität gewählt wurde, der aus dem vollen Spektrum von Klang herausgelöst wurde. Der Ort, der Locus eines Instruments eigentlich das Instrument selbst – wäre nicht mehr physikalisch, gegenwärtig, sondern semiotisch. (17) Das würde noch durch die Tatsache verstärkt, daß ja der eigentliche Status eines Locus selbst Produkt einer verhandelten, immer veränderbaren Mobilität wäre.

Es wird Thema einer weiteren Abhandlung sein, Grundlagen für ein Samplerdesign vorzulegen, die sich besser für Komposition mit diesem neudefinierten Instrument eignen, aber man kann schon jetzt sagen, daß ein wichtiges Element die Entwicklung von Kapazitäten für auditives Schreiben sein wird. Es gibt noch viele andere Gebiete, wo eine Entwicklung der Technik und der Komposition stattfinden muß, das ganze Projekt ist sehr aufwendig und langwierig. Doch muß klar gesagt werden, daß es bereits eine adäquate Technologie gibt, und daß das Schwergewicht nun auf den kompositionellen, künstlerischen und begrifflichen Aspekt zu legen ist. (18) Es ist zu hoffen, daß wir bald Zentren zur Verfügung haben werden, die sich mit den einzigartigen kompositorischen Möglichkeiten, die diese Instrumente bieten, befassen, so wie vor zirka drei Jahrzehnten die Studios für elektronische und Computermusik entstanden, so daß die Arbeit vorangetrieben werden kann.
DIE AUSNAHME: VERTOV
Es stimmt, daß in der Avantgarde vor dem Zweiten Weltkrieg weder eine Kunst des mimetischen Klanges noch eine auf der Phonographie aufbauende Klangkunst entwickelt wurde, und daß diejenigen, die am ehesten dazu in der Lage gewesen wären (wie auch das diskursive Milieu im allgemeinen), an der musikalischen Anmaßung krankten. Das heißt nicht, daß nicht eine relativ klare Intention verfolgt wurde, oder daß keiner der Musik entging: Soweit ich weiß, finden wir dies AUSSCHLIESSLICH in den Aktivitäten des Russen Dziga Vertov, der vor allem als einer der revolutionären Filmemacher, wie Eisenstein, Shub, Pudovkin, Kuleshov etc., bekannt ist. Eigentlich wollte er nicht ein Filmemacher werden, sondern hatte sich zuerst im Schreiben und in der Musik versucht, und dann um 1916 erste Versuche mit etwas gemacht, was man jetzt wohl als Audiokunst bezeichnen würde. In jungen Jahren schon betätigte sich Vertov als Schriftsteller verschiedenster Genres und mit 16 trat er ins Konservatorium ein, um Violine, Klavier und Musiktheorie zu lernen. Während eines weiteren Studiums am Institut für Psychoneurologie in Petrograd lernte er 1916 einige der bedeutendsten Musiker der russischen Avantgarde, wie Brik, Rodchenko und Maykovsky, kennen. Aus der Kombination von Schriftstellerei und Musik, gefordert von den abenteuerlichen Imperativen der Avantgarde … wurde eine Begeisterung für die Herausgabe von Stenogrammen und Grammophonaufnahmen; ein spezielles Interesse für die Möglichkeit dokumentarischer Klangaufnahmen; Experimente mit dem Aufnehmen der Geräusche eines Wasserfalls, der Geräusche einer Sägemühle usw., ein "Labor des Hörens". (19)

Gegen Ende des Jahres 1916 versuchte Vertov mit einem Pathéphone Wachspiattenaufnahmegerät aus dem Jahr 1900 oder 1910 sein Labor zu verwirklichen.
Ich kam auf die Idee, daß es nötig wäre, unsere Fähigkeit Klang zu organisieren, zu erweitern, nicht nur Gesang oder Geigen zuzuhören, dem üblichen Repertoire von Grammophonplatten, sondern die Grenzen gewöhnlicher Musik zu überschreiten. Ich kam zur Überzeugung, daß der Begriff Klang die ganze hörbare Welt umfaßt. Im Rahmen meiner Experimente machte ich mich daran, eine Sägemühle aufzunehmen. (20)
Man nimmt an, daß ihn die schlechte Klangqualität frustrierte. Er spricht auch über inadäquate phonographische Technik, wenn er davon erzählt, wie er sich dem Filmen zuwandte. In seinen Erinnerungen heißt es:
… bei meiner Rückkehr von einem Bahnhof, hörte ich noch in meinen Ohren die Signale und das Rattern des ausfahrenden Zuges … jemanden fluchen … einen Kuß … einen Aufschrei … Lachen, ein Pfeifen, Stimmen, das Läuten der Bahnhofsglocke, das Keuchen der Lokomotive … Geflüster, Rufe, Abschiedsgrüße … Und im Heimgehen die Gedanken: ich muß mir ein Gerät beschaffen, das diese Klänge nicht beschreibt, sondern aufnimmt, das DIESE KLÄNGE PHOTOGRAPHIERT. Sonst ist es nicht möglich, sie zu organisieren, sie zu edieren. Sie vergehen wie die Zeit. Vielleicht mit der Filmkamera? Das Sichtbare festhalten … Nicht die hörbare, sondern die sichtbare Welt organisieren. Vielleicht ist das der Ausweg? (21)
So scheint das berühmte Kino-Auge, dieser Fetisch des Avantgardefilms der Nachkriegszeit, auf ein frustriertes Ohr zurückzuführen zu sein. Die Unfähigkeit "Klänge zu phonographieren", wie es Edison ausdrückte, und wie es auch später unter Klangphotographie und Klangkamera beim optischen Klangfilm verstanden wurde, ließ den Wunsch entstehen, "diese Klänge zu photographieren". Die Mängel der Technologie können nicht mit schlechter Klangqualität gleichgesetzt werden; seit es die Phonographie gibt, waren die Kriterien der Klangqualität eine Sache des Augenblicks. Die Mangelhaftigkeit entsteht im Zusammenhang mit der Art, wie Vertov das aufgezeichnete Material zur Montage zusammenstellte. Ohne die um 1920 entstandenen Möglichkeiten der elektrischen Aufzeichnung und Verstärkung wäre es ihm nicht möglich gewesen, ohne ernsthafte Verluste zu überspielen.

Er wartete mit der Verwirklichung seiner Vorstellungen von Klang nicht auf die eigentliche Tonfilmtechnik. Von seinen ersten filmischen Anfängen bis zu seinem ersten Klangfilm, ENTHUSIASMUS (1931), versuchte er den Klang entwicklungsfähig zu halten und das unvermeidliche Kommen des Klanges im russischen Film vorzubereiten, noch bevor es im amerikanischen Film soweit war. Er führte den "indirekten Klang" in seine Filme ein, engagierte sich in theoretischen Auseinandersetzungen über Klang, trat für eine Ausweitung des Begriffes Radio ein und argumentierte gegen das von Eisenstein ("A Statement") und anderen vertretene Dogma, das Beziehungen zwischen Klang und Bild verbot. Er sprach sich auch gegen die "Theorie der Katzenmusik" aus. 1929, als Vertov gerade mit ENTHUSIASMUS begann, schrieb der Filmkritiker Ippolit Sokolov in einem Artikel "über die Möglichkeiten des Klangkinos", daß sich die natürliche Klangwelt nicht für Aufnahmen eigne. (22)

Die freie Natur und die Ferne, die Klänge von Arbeit, Industrie, von Festen, öffentlichen Ansammlungen etc., das heißt also, ein Großteil dessen, was unter Dokumentaraufnahmen fällt, war nicht "audiogen".
Propagandistische und wissenschaftliche Filme werden nicht im Schoß der Natur, nicht im Lärm der Straßen, sondern innerhalb der schallsicheren Wände des Filmstudios, in die kein Geräusch von außen dringen kann, produziert. Die Tonfilmkamera fängt keinesfalls "nichtsahnendes Leben" ein. Die unorganisierten Zufallsgeräusche unserer Straßen und Gebäude würden eine wahre Kakophonie, ein echtes Katzenkonzert. (23)
Für Vertov war Sokolovs "Theorie der Katzenmusik" gegen die Berichterstattung, war "Anti-Wochenschau", d.h. ganz im Sinne der formalistischen Kritiker, die nur Schauspieler auf der Leinwand sehen wollten – also im Fachidiom: Spielfilme. Für Vertov war es auch symptomatisch für eine von der Musik stammende Anmaßung der Exklusivität.
… alles was nicht "Kreuz" oder "B" vorgezeichnet hat, also alles was nicht "solemisiert", wurde sofort als Kakophonie abgestempelt.(24)
Vertov hielt ENTHUSIASMUS für die eindeutige Widerlegung von Sokolovs "Theorie der Katzenmusik". Dort gab es absolut ein do-re-mi in dieser "Atmosphäre des Lärms und Krachs, zwischen Feuer und Eisen, in Fabrikshallen, die von Schall vibrieren." (25)Vertov "drang in Bergwerke im Inneren der Erde ein", ähnlich wie Nadar in die Katakomben, er fuhr "auf den Dächern dahinbrausender Züge" und schleppt über eine Tonne Aufnahmegerät, das speziell für den Film entwickelt worden war, mit sich …
… ZUM ERSTEN MAL IN DER GESCHICHTE wurden auf dokumentarische Weise die beherrschenden Geräusche eines Industriegebietes (das Geräusch von Bergwerken, Fabriken, Zügen etc.) aufgenommen.(26)
Vertov lehnte wohl Sokolovs, der musikalischen Anmaßung ähnliche Exklusivität ab, er lehnte aber nicht Musik ab, schließlich hatte er ja eine Konservatoriumausbildung. Er bezeichnete seine Rolle beim Filmen oft nicht als die eines Regisseurs, sondern eines KOMPONISTEN. (27) Er nannte ENTHUSIASMUS eine "Symphonie von Geräuschen", und der zweite Titel des Films, unter dem er in Rußland bekannt wurde, ist "Symphonie des Donbas". "Symphonie" wird als Terminus in einem der vielen dem reflektierenden Hören gewidmeten Momente des Films so verstanden, daß es die "harmonische" Organisation der Aktivitäten des Fünfjahresplanes in der Region des Donbeckens und die entsprechende Parallele im Aufbau und Ablauf des Filmes signalisiert. In einem Brief aus London (Nov. 1931) schrieb Charlie Chaplin an Vertov:
Ich hatte nicht gewußt, daß diese mechanischen Geräusche so angeordnet werden können, daß sie so schön klingen. Für mich ist dies eine der anregendsten Symphonien, die ich je gehört habe. Herr Dziga Vertov ist ein Musiker …(28)
Vertov bediente sich der musikalischen Metapher, ohne sie zu reduzieren, reglementieren oder zu ästhetisieren, wie sich dies im allgemeinen kulturellen Diskurs durchgesetzt hatte, da die Metapher in einen dokumentarischen Kontext, den Vertov einen "Enthusiasmus der Fakten" nannte, und in einen literarischen Prozeß gestellt wurde, in dem die Klänge selbst schon vorher feststanden (noch vor den visuellen Aufnahmen, so wie es sich bei ENTHUSIASMUS verhielt). (29)

Man kann bloß zaghafte Spekulationen darüber anstellen, wie eine Audiokunst nach Vertov, eine autonome Gestaltung aufgezeichneter Klänge, geklungen hätte, da seine Klangkunst in Zusammenhänge mit visuellen Bildern gebunden war. Seth Feldman meint, es sei möglich, durch klangliche Animation der Titel und indirekten Klänge von KINOPRAVDA NO. 23 abzuleiten, wie eine Radiopravda-Produktion geklungen hätte. Wie wäre es jedoch bei einer vorrevolutionären Arbeit des Zwanzigjährigen in Petersburg, der noch in der kubistisch-futuristischen Begeisterung steckte. Und wie hätte sich das nach der Oktoberrevolution weiterentwickelt, im Verlauf der zwanziger Jahre oder über den Stalinistischen Antiformalismus der dreißiger Jahre hinaus? Das Erbe, das er uns hinterlassen hat, ist die Art und Weise, wie er die neuen künstlerischen Möglichkeiten des Klanges undogmatisch, gesamtheitlich aufgriff, sich dem schweren Druck der musikalischen Anmaßung entzog, die "Linie des größtmöglichen Widerstands", wie er es nannte, verfolgte. Er verlangte von seinem Publikum, daß es Schwierigkeiten im richtigen Kontext sehen möge, nicht als "einen Mangel, sondern als ein ERNSTHAFTES, WEITGESTECKTES EXPERIMENT". (30) Wenn wir dieses Experiment so auffassen, wie er es in seiner Jugend abgesteckt hat, oder im Sinne des "Blind-hörens", wie es Arnheim ausdrückte, darin erkennen wir, daß dieses weitgesteckte Experiment noch vor uns liegt.

(1)
"… angenommen, daß Collage im allgemeinen DIE typischeste Kompositionstechnik im Modernismus ist, und daß Derrida als erster eine Theorie (Epithymik) ausgearbeitet hat, die diese Technik konzeptualisiert, kann man berechtigterweise sagen, daß Derridas Grammatologie für die Collage von gleicher Bedeutung ist, wie die Poetik von Aristoteles für die griechische Tragödie." Gregory L. Ulmer, APPLIED GRAMMATOLOGY, Baltimore The Johns Hopkins University Press, 1985. Seite 59. zurück

(2)
Don Hide, EXISTENTIAL TECHNICS. Albany, N.Y.: SUNY Press, 1983. Zitat in Daniel Charles' Music and Technology Today bei Rene Berger and Lloyd Eby, eds., ART AND TECHNOLOGY, New York: Paragon House Publishers, 1986. zurück

(3)
Henri Lefebvre datiert den "Zusammenbruch der Bezugspunkte" um 1905–1910 herum, als unter dem Einfluß von Wissenschaft, Technologie und sozialem Wandel "das Hörvermögen die Fähigkeit entwickelte, visuelle Wahrnehmungen auszuwerten und das Sehvermögen die Fähigkeit, auditive Wahrnehmungen auszuwerten, so daß sie einander gegenseitig darstellen", und als "Objekte Zeichen wurden und Zeichen Objekte" Aus EVERYDAY LIFE IN THE MODERN WORLD. New Brunswick, NJ. Transaction Books, 1984. Seiten 110–127. zurück

(4)
Carlos Chavez, TOWARDS A NEW MUSIC. New York: W. W. Norton, 1937. zurück

(5)
John Cage, "For More New Sounds" (Mail 1942) bei Richard Kostelanetz, ed., JOHN CAGE. New York: Praeger, 1970. S. 66. zurück

(6)
John Cage, "(On Earlier Pi Peces)" in Kostelanetz, S. 130. zurück

(7)
John Cage, "(Williams Mix)" in Kostelanetz, S. 109–111. zurück

(8)
Er ist auch bereit, Sprache zu musikalisieren. Das ist im besonderen eine praktische Folge des Festhaltens an der musikalischen Anmaßung. Die Abgrenzung von mimetischen und nicht-mimetischen Klängen hat ein bemerkenswertes SCHISMA zur Folge, was nun als geeigneter Ort für eine künstlerische und diskursive Aktivität gilt (ein Schisma, das an Ad Reinhardt erinnert und seinen Zwiespalt bei seinen schwarzen Endspielbildern und den Cartoonkritiken – der Hauptunterschied besteht allerdings darin, daß Reinhardt sich selbst als Geschöpf von Kunstinstitutionen bezeichnet, während Cage ins Alltagsleben einbricht). Die Musikalisierung der Sprache überwindet dieses Schisma nur in einer Richtung, es gibt keine Wechselwirkung. Ich verweise auch auf den ähnlichen Widerspruch zwischen dem naiven Inhalt von Cage's "electrical utopia" und der intellektualisierten Methode seiner Systemauffassung" – siehe Kathleen Woodward in "Art and Technics" bei Kathleen Woodward, ed., THE MYTHS OF INFORMATION TECHNOLOGY AND POSTINDUSTRIAL CULTURE. Milwaukee University of Wisconsin, 1980. Im Gegensatz zu Woodward stelle ich auch bei seiner Systemauffassung eher einen gewissen Mangel an Intellektualismus fest. zurück

(9)
Musik durch Anpassung oder Einstimmung bedeutet einen Rückschritt im Vergleich zu Russolos Forderung in seinem ersten Manifest: … Wir werden daran Vergnügen finden, in unserer Vorstellung das Geräusch der metallenen Rolläden von Schaufenstern, das Zuknallen von Türen zu orchestrieren …" etc. zurück

(10)
"Conversation with John Cage" bei Kostelanetz, S. 12. zurück

(11)
John Cage im Gespräch mit Daniel Charles, FOR THE BIRDS. Boston, Marion Boyars, 1981. S. 229. zurück

(12)
R. Murray Schafer, THE TUNING OF THE WORLD. Philadelphia: University of Pennsylvania, 1977. S. 5. Es muß festgestellt werden, daß sowohl Cage wie auch Schafer einen guten Teil ihres pauschalisierenden Impulses und normativen Schwungs von McLuhan beziehen. zurück

(13)
Bill Fontana, ACUSTICA INTERNATIONAL, KLANGSKULPTUREN/SOUND SCULPTURES METROPOLIS KÖLN, THROUGH THE GOLDEN GATE. SATELLITEN-OHRBRÜCKE/SATELLITE SOUNDBRIDGE KÖLN–SAN FRANCISCO. Katalog fur Köln. Westdeutscher Rundfunk und Museum Ludwig und San Francisco San Francisco Museum of Art and American Public Radio, Mail 1987. Die Geräusche wurden aus der Umgebung gesammelt, sie waren "natürliche" Klänge physikalischer (z.B. Wasser des Flusses) und animalischer Herkunft (z.B. Zoo, küstennahe Tierwelt), mechanische Klänge (z.B. die Dehnungsfugen der Brücke) und nichtdiskursive menschliche Geräusche (Fußgänger). Diese wurden, nach der von Duchamp abgeleiteten Masche der "gefundenen Objekte", ohne wesentliche Veränderung präsentiert und einfach in Gleichzeitigkeit angeordnet, Nach der Beschreibung des Werkes fungierten der Kölner Dom und die Golden Gate Bridge für ihr jeweiliges Gebiet als die architektonischen Zentren als symbolische Antennen, um die herum Geräusche, Klänge aufgenommen und ausgestrahlt wurden. Sie fungierten auch als fixierte Schauplätze, als Monumente und als monumentaler Maßstab, als skulpturelle Struktur an Stelle jener, die eine verdrängte akustische Gegebenheit nicht bieten konnte. Außer der musikalischen Anmaßung wirkt sich Folgendes beeinträchtigend aus: die Stase einer "Skulptur", die hier auf kommunikalive und soziale Prozesse angewandt wird; die Vereinnahmung städtischer Wirklichkeiten durch den Ausdruck "Landschaft", die in der Kunstwelt übliche Rhetorik von "gefundenen Objekten" zu sprechen, ohne die institutionellen und diskursiven Maßstäbe, die ursprünglich Duchamps Anwendung des Begriffes entsprechen; daß der dem Kubismus/Orphismus zugehörige Begriff der "Simultaneität" strapaziert wird, um ganz profanen, heute alltäglichen Erfahrungen von telephonischer oder radiophonischer "Ortsveränderung" eine höhere Bedeutung zu verleihen; die Vorstellung der modernistischen Medienkunst eines der Technik eigenen Wahrnehmungsobjektes; Psycho-Akustik als wissenschaftliches Surrogat für die sozio-kulturellen Aspekte von Klang, etc. zurück

(14)
Fontana, S. 31. zurück

(15)
Siegfried Kracauer, FROM CALIGARI TO HITLER, Princeton, New Jersey: Princeton University Press, 1947. S. 188. zurück

(16)
Siehe einführende Bemerkungen in meinem Artikel "An Instrument for X Sample" in EAR MAGAZINE (Juni 1987). Meine Ausführungen wurden zum Teil durch ungebetene Einmischung des Redakteurs der "technischen Seite" beeinträchtigt, was ich gar nicht lustig fand. zurück

(17)
Es ist wichtig, das nicht mit Pastiche zu verwechseln, bei dem man aus einem weiten Feld akustischer Umgebungen eine Auswahl trifft und der Meinung ist, daß durch einfaches Zitieren etwas Wesentliches geschaffen werden kann. Pastiche ist eine von Grund auf armselige Methode der Reaktion auf die mimetischen Aspekte des Klanges, eine Art von Musikalisierung, die zweifellos in der musikalischen Anmaßung noch Unterstützung fand. Man könnte Pastiche sogar als Surrogat für die hier vorgeschlagene Gattung von Instrument ansehen. zurück

(18)
Dazu ist das Dyaxis System der Integrated Media Systems in San Carlos, Kalifornien zu erwähnen. zurück

(19)
Dziga Vertov, KINO-EYE: THE WRITINGS OF DZIGA VERTOV. Annette Michelson, ad. Berkeley University of California, 1984 S. 40. zurück

(20)
Dziga Vertov, "Rede am 5. April 1935", zitiert von Seth Feldman, EVOLUTION OF STYLE IN THE EARLY WORK OF DZIGA VERTOV. New York Arno Press, 1977. S. 13. Ein scharfsinniger Vergleich mit Russolos Werk, das Vertov beeinflußt hatte, findet sich in Feldmans Bemerkungen S. 12–15. zurück

(21)
Feldman, S. 40. Betonung von mir gesetzt. zurück

(22)
Vertov, S. 112, Fußnote. zurück

(23)
Zitat aus Herbert Marshall MASTERS OF SOVIET CINEMA. Boston Routledge & Kegan Paul, 1983. S. 81. zurück

(24)
"Erste Schuhe." Vertov, S. 114. zurück

(25)
"Besprechung des ersten Tonfilms von Ukrainfilm: SYMPHONY OF THE DONBAS." Vertov, S. 109. zurück

(26)
Vertov, S. 109, Originalbetonung. zurück

(27)
Jay Leyda, KIND: A HISTORY OF THE RUSSIAN AND SOVIET FILM, New York Collier Books, 1960. S. 177. zurück

(28)
"Aus Notizbüchern, Tagebüchern." Vertov, S. 170. zurück

(29)
Siehe "Marsch der Klänge" Vertov S. 289–293, und Michelsons Anmerkungen auf S. 327. zurück

(30)
Vertov, S. 112. Eine gute Analyse gibt Lucy Fischer, "ENTHUSIASM: FROM KINO-EYE TO RADIO-EYE", in Elisabeth Weis und John Belton, ed., FILM SOUND THEORY AND PRACTICE. New York, Columbia University Press, 1984. S. 247–264. zurück