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Ars Electronica 1987
Festival-Programm 1987
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Festival 1979-2007
 

 

Die Donnergötter


'Rhys Chatham Rhys Chatham

Vor zehn Jahren begann ich, mich mit verschiedenster nicht-notierter Musik zu beschäftigen und konzentrierte mich schließlich auf die kraftvollen Rhythmen und Grundinstrumente der Rockmusik.

Meine Absicht war es, von dem Vokabular der klassischen Avantgardemusik ausgehend eine Musik zu schaffen, die aufs erste dem Rock gleichen, aber gleichzeitig die formalen Anliegen westlicher Kunstmusik vermitteln sollte. Auch wenn diese meine Musik zweifellos von der klassischen Avantgardemusik herkam (Cage, Webern, Boulez, Stockhausen), schien es mir wichtig, sie in einem Rockkontext zu spielen. Ich wollte Musik machen, die das Publikum auf mehreren Ebenen anspricht, eine Musik, die eine volkstümliche Ausdrucksweise mit einer tiefen wesentlichen Aussage verbindet.

Die klassische Avantgarde hat sich seit langem darum bemüht, die Definitionen von Musik zu erweitern und das musikalische Vokabular zu sprengen. Man hat entdeckt, daß der Komponist von Kunstmusik nicht nur das Recht hat, die serielle Technik, Multiphone, Indeterminanz und das Geräusch in die Klangpalette aufzunehmen, sondern auch mit Weltmusik, Volksmusik und populärer Musik arbeiten kann. Anstatt zu versuchen, das musikalische Vokabular zu erweitern, ist es, meine ich, an der Zeit, die Unzahl der uns zur Verfügung stehenden vertrauten oder nicht vertrauten Klänge zu nehmen und mit ihnen etwas Neues zu machen.

Aus dieser Überzeugung heraus sind die Kompositionen dieses Programms entstanden. Von der Instrumentation und den Klängen des ernsten Hard Rock als Rohmaterial ausgehend, versucht die Musik als Neudarstellung und nicht als Aneignung, eine vertraute Musik neu zu formulieren und mit einem neuen und anderen Sinn zu versehen.

GUITAR RING verwendet eine normale Gitarrenstimmung und baut auf einem E-9-Akkord auf. Die Komposition geht von einem "Moment" aus der populären Musik aus, erweitert ihn und formt ihn um.

THE OUT OF TUNE GUITAR NO. 2. Viele befreundete Komponisten klagen darüber, daß elektrische Gitarren die Stimmung nicht halten. Dieses Stück entstand aus einem Gefühl persönlicher Frustration und stellt den Versuch des Komponisten dar, dieses Problem zu lösen.

GUITAR TRIO verwendet die natürlichen Obertöne der elektrischen Gitarre als melodisches Ausgangsmaterial. Durch Flatpicking direkt über verschiedenen vorher bestimmten Punkten auf dem Griffbrett der Gitarre werden die Obertöne hervorgerufen. Es entsteht eine rhythmische Spannung durch das gleichmäßige 4/4–Metrum der Pickingtechnik der rechten Hand und die eher vergeistigten Rhythmen der Obertöne. Guitar Trio entstand 1977 und verwendete als erste Komposition mehrere elektrische Gitarren zur Verschmelzung der verlängerten Töne der extended-time-Musik der sechziger und siebziger Jahre mit seriösem Hard Rock.

Für MERCI, CHOPIN schöpfte ich aus dem reichen Erbe europäischer Kunstmusik und verband die harmonische Sprache des 19. Jahrhunderts mit den Techniken der Musik des 20. Jahrhunderts. Ich nahm Musikmaterial aus Chopins erstem Klavierpräludium, modulierte und gestaltete es um und formte so aus altem Material eine neue Komposition.

Für UNTITLED, NO. 2 werden sechs elektrische Gitarren in besonderen Stimmweisen, mit deren Entwicklung ich Ende der siebziger Jahre begonnen hatte, bespannt. Während im GUITAR TRIO der melodische Gehalt gänzlich aus den Obertönen, die durch die Saiten der elektrischen Gitarren erzeugt werden, besteht, werden in UNTITLED, NO. 2 Melodien, die direkt auf dem Griffbrett gegriffen werden, als Grundtöne den Obertönen zugesellt.

DIE DONNERGÖTTER entstanden im Verlauf von zwei Jahren in New York City und sind für sechs Elektrogitarren in Spezialstimmung, Elektrobaß und Schlagzeug geschrieben. 1982 wandte ich mich den Blechblasinstrumenten zu und interessierte mich wieder für notierte Musik. Ich hatte erkannt, daß eine gewisse Musik nur entsteht, wenn sie nicht notiert ist, daß andere Musik aber der Notierung bedarf. Daher beschloß ich, eine Reihe vollnotierter Stücke für ein Blechblasensemble, das ich unter dem Namen Alphabet City Brass and Battery Ensemble gründete, zu schreiben. Nach mehreren Aufführungen erkannte ich, daß für mich der nächste Schritt darin bestünde, die Techniken der notierten Musik, die ich in meiner Arbeit mit den Bläsern erworben hatte, zum Komponieren eines größeren Werkes für das Gitarrenensemble zu verwenden. So entstanden DIE DONNERGÖTTER. Dabei wurde die gesamte Klangfülle der vielfältigen Wellendarstellung der Gitarren berücksichtigt, ein wesentliches Anliegen war mir jedoch bei der Arbeit an DIE DONNERGÖTTER, dem melodischen Gehalt besondere Betonung und Wert zu geben.