Holland
Vom Paradoxen Video-Klima in den Niederlanden Tom van Vliet
Die Videokünstlerin Nan Hoover hat kürzlich festgestellt, daß ihrer Meinung nach die Niederlande die erste Adresse in der Welt hinsichtlich der Promotion und Entwicklung der Videokunst sind – eine bemerkenswerte Feststellung für eine Künstlerin, die als Malerin aus den USA kam und in Amsterdam zum Video gelangte. Wieviel Wahrheit liegt nun in Hoovers Aussage und inwieweit kann man den Niederlanden eine führende Position in Präsentation, Verteilung und Promotion von Videokunst nachsagen, in einer Zeit, da die Subventionen an Zentren und Institutionen wie dem Kijkhuis, Montevideo und Mediamatik von der Regierung gestrichen wurden?
Das Klima für Videokunst in den Niederlanden wird von einem bemerkenswerten Paradoxon bestimmt. Einerseits gibt es ein wachsendes Publikumsinteresse und eine sich langsam, aber stetig entwickelnde Video-Kritik, andererseits müssen wir uns mit immer restriktiverer Regierungspolitik abfinden. Mit anderen Worten, das Video in den Niederlanden blüht und gedeiht besonders hinsichtlich Präsentation und Verteilung, aber der Finanzstrom ist versiegt und die verschiedenen Videozentren stehen unverantwortlicherweise vor dem finanziellen Hungertod. Diese Situation ist für die fünf bedeutendsten Produktions-, Verteilungs- und Darstellungseinrichtungen der Videokunst besorgniserregend: Montevideo und Time Based Arts in Amsterdam, Meatball und das Kijkhuis in Den Haag, und Mediamatic in Groningen haben alle klar unterschiedliche Formen des Images und der Perspektiven entwickelt.
All diese Einrichtungen sind im wesentlichen von staatlichen Förderungen abhängig, wenn auch die Subventionen in den Niederlanden nicht direkt von der Regierung, sondern vom "Raad voor de Kunst" vergeben werden. Nach etlichen Jahren des Hin und Her wurde die Videokunst mittlerweile dem Bereich der bildenden Kunst und Architektur dieser Behörde zugeordnet. Anders als Tanz, Film und Theater wird Video nicht als eigenständige Kunstgattung anerkannt, und diese Politik läßt der Regierung freie Hand in der Bedrohung der Existenz dieses "ungeliebten armen Verwandten" der visuellen Künste. Mit einer einzigen Ausnahme hat der Rat im vergangenen Jahr den Minister angewiesen, keine weiteren Subventionen für Einrichtungen zu gewähren, die sich mit Videokunst beschäftigen. Was Produktionsmöglichkeiten betrifft, so sollten Unterstützungsgelder nur an Einzelkünstler vergeben werden. In Einklang mit dieser vom Minister ohne Rücksprache mit den betroffenen Einrichtungen akzeptierten Regelung würde die Ausstellung, Verteilung und Dokumentation von Werken nur noch von einer einzigen Organisation betrieben werden. Betrachtet man die Institutionen und ihre Aktivitäten, ergibt sich folgendes Bild: Montevideo, ohne Subventionen, arbeitet als Video- und Elektronikmedien-Workshop mit Wiedergabe- und Verteilungseinrichtungen. Time Based Arts, als Subventionsempfänger, engagiert sich in der Präsentation, Verteilung und Promotion von Video-, Film- und Tonarbeiten kreativer Künstler.
Meatball ist vor allem Produzent von Spiel- und Dokumentarfilmen. Das Kijkhuis spielt eine bedeutende Rolle in der Ausstellung und Verteilung von Videobändern und Installationen. Es hat eine umfangreiche internationale Sammlung (über 400 Bänder) und organisiert das jährliche World Wide Video Festival. Darüber hinaus präsentiert das Kijkhuis Programma im Den Haager Kabelfernsehen. Finanzielle Unterstützung erhält das Kijkhuis von der Stadt Den Haag. Schließlich pflegte Mediamatic in der Vergangenheit Medienkunstperformances zu organisieren, muß aber mittlerweile seine Aktivitäten auf die Publikation einer qualitativ hochstehenden Zeitschrift gleichen Namens beschränken.
Im Bereich der Video-Kritik scheint ein leichtes Wachstum stattzufinden. Wenn auch die holländischen Tageszeitungen unsicher scheinen darin, was denn nun mit dem Medium Video anzufangen sei (wenn auch kürzlich umfangreiche Artikel über Marie Jo Lafontaine und Skip Blumberg erschienen sind), gibt es doch eine Zeitschrift, die sich auf Video konzentriert: eben Mediamatic. Filmkrant, das landesweit erscheint, bringt monatlich Videoartikel, und Metropolis M (ein Kunstmagazin herausgegeben vom Stichting Openbaar Kunstbezit) widmet der Videokunst regelmäßig Aufmerksamkeit.
Die Videoaktivitäten des letzten Jahres und die Ereignisse, die derzeit vorbereitet werden, etwa die vorsichtige Einspeisung von Videoprogrammen in das Amsterdamer Kabelnetzwerk (als Teil des Programms zu Amsterdam–Kulturhauptstadt), die Werkaufträge und ein knappes Dutzend Künstler vergeben vom Stedelijk Museum in Amsterdam und der VPRO TV Gesellschaft (darunter Nan Hoover und das Duo Madelon Hooykaas/Else Stansfield), die kurze Werke über das Medium Television schaffen sollen, regelmäßige Multi-Media-Präsentationen im Shaffy Theater und die Kabelprogramme des Kijkhuis – all dies zeigt die Verschiedenheit und Intensität der Aktivitäten. Darüber hinaus wird auch im Unterrichtsbereich dem Video Aufmerksamkeit in verschiedensten Darbietungen der Freien Akademie in Den Haag, der Rietveld Akademie in Amsterdam, der Akademie der Visuellen Künste in Rotterdam, der Jan Van Eyck Akademie in Maastricht und der Akademie für Film und Fernsehen in Amsterdam gezollt. An letzterer arbeitete auch Gert de Graaf, als er seine mit dem Sony Video Award ausgezeichnete Arbeit "Twee" schuf.
Die paradoxe Situation der Gegenwart ist besonders schlimm, wenn man bedenkt, daß all diese verschiedenen Aktivitäten Ergebnis einer gezielten Aufbauarbeit der letzten Jahre sind. Nach einer Explosion im Präsentationsbereich werden uns nun die Mittel zur Forschung und zu einem gesunden Wettbewerb durch die Bestrebungen der Zentralisierung der Subventionen genommen. Ob dies richtig und ob die Ergebnisse einer solchen Politik sinnvoll sind, ist eine entscheidende Frage. Nach nur einem Jahr sehen wir die ersten Zeichen der Stagnation in der Verteilung; der Dutch video circuit, der Umlauf der Bänder zwischen verschiedenen Wiedergabeeinrichtungen, ist zusammengebrochen; und die halbwegs preiswerten Produktionseinrichtungen für Künstler existieren auch nicht mehr.
Hauptauswahlkriterium für die in Linz zu zeigenden Produktionen war ihre hohe Qualität. Aufgrund der Zeitbeschränkung können wir nur drei Arbeiten zeigen, aber diese scheinen mir die verschiedenen Trends und Produktionsweisen in den Niederlanden anschaulich darzustellen. Die Arbeiten sind: Gert de Graaf: "Twee", Frits Maats: "Karnak" und Albert Wulffers "Door Tranen Uitgewist".
Gert de Graaff TWEE Ein Vater sagt zu seinem schielenden Sohn: "Mein Sohn, ich glaube, du schielst, sag, siehst du mich zweimal?" "O nein, Vater", antwortet der Sohn, "würde ich schielen, so müßte ich vier Monde sehen statt zwei." Dieses Zitat aus Gert de Graaffs Produktion "TWEE" zeigt klar die Probleme der Wahrnehmung auf. "Twee" zeigt, daß Perzeption auf erworbenem Wissen beruht, und daß die Welt und die Realität, die wir als solche empfinden, nicht alles sind. Um wirklich das Ganze zu erfassen, sind unsere Sinne viel zu grob.
Aus der Quantenmechanik übernehmen wir die Ansicht, daß alles, was wir sehen, nur deswegen existiert, weil wir es sehen. Die unweigerlich daraus resultierende Frage ist, ob denn etwas existieren kann, wenn wir es nicht sehen.
In "The Doors of Perception" schrieb Aldous Huxley unter dem visionären Einfluß des Dichters und Malers William Blake sehr umfassend über Formen der Wahrnehmungen und wie man sie überwinden kann. Aber Huxley "öffnet seine Schleusen" mit Hilfe von bewußtseinserweiternden Chemikalien. De Graaff öffnet so manche Türen mit Hilfe einfacher Videotechniken – indem er mit simplen optischen Illusionen seine Argumente illustriert plus einer klaren, logischen Exegese.
Frits Maats KARNAK, Niederlande 1986, 10:59', Farbe Kamera, Licht, Produktion: Frans Maats Schnitt: Kees Zwart, Ton und Musik: Nico van der Sman, Frits Mats Mit: Mignon Schlichter
Der Titel dieses Videos ruft die Herkunft der Gegenwartskunst wach, einen der Eckpfeiler moderner westlicher Kultur. In der Verzerrung einer malerischen Vision durch den freien Gebrauch von Videotechniken werden wir in den farbenfrohen Tanz einer herausfordernden Göttin eingefangen. Als Gefangene der glühenden Linien, die aus ihren Bewegungen hervorströmen, schleudert sie uns in die dramatischen Kontraste der modernen Welt. Die (Kunst)geschichte des 20. Jahrhunderts wird auf den Betrachter losgelassen mit der Geschwindigkeit und dem Lärm eines Maschinengewehres und läßt ihn nur einige Augenblicke am künstlerischen Detail Atem schöpfen. Männer, Frauen, Krieg, Betrachter des ersten dreidimensionalen Films, prähistorische Zeichnungen, Computergraphiken und direkte künstlerische Ausdrucksweisen in runden, dreieckigen oder viereckigen Rahmen innerhalb der entgegenlaufenden Strukturen, all dies betont die chaotische Masse an Informationen, die uns in unserem täglichen Leben bedrängen.
Albert Wulffers DOOR TRANEN UITGEWIST/In Stille und Tränen Buch, Idee, Regie: Albert Wulffers Mit: Esgo Heil (Antoine), Marieke van der Pol (Rosemarie), Paul Vermolen (Sterling) u.a. Produktion: Meatball in Coproduktion mit NOS Television Niederlande 1986/67, Video, 1", 42', Farbe und S/W
Vor über hundert Jahren, am 13. Juni 1886, als der Regen in Strömen in den Starnbergersee floß, wurde eine Leiche im Wasser treibend gefunden: der leblose Körper Ludwig II. von Bayern, des "einsamen, jungfräulichen Königs aus Traum und Märchen".
Wasser und Tod – Woyzeck und Maria, Ophelia, die Lady of Shalott, und Ludwig selbst – schaffen die Grundstimmung in der Ouverture zu "In Stille und Tränen"; strömender Regen dominiert die Schlußsequenzen. Man könnte diesen Film als die fiktive Autobiographie des Filmemachers ansehen, vollgestopft mit Fakten.
Bilder, Musik und Text laufen parallel, durchkreuzen einander, und stehen ständig im Widerspruch oder in Ergänzung ihrer selbst. Die Handlungen der drei Personen (die zusammen das Subjekt der Autobiographie darstellen) legen das Leitmotiv der Erzählung dar: Die Jagd nach Liebe und Schönheit, sogar bis nach dem Tode. Die Handlung entsteht aus Assoziationen und basiert auf einer Anekdote über die Gestaltung eines neuen Denkmals für den "Platz des Jahres 1813" in Den Haag: Das führende Triumvirat im Kampf gegen die napoleonische Besetzung im Jahre 1813 (das auf dem echten Denkmal dargestellt ist), wird hier durch Georg Büchner, Giuseppe Verdi und Richard Wagner ersetzt, alle drei in diesem Jahr geboren. Das ebenfalls auf dem Monument dargestellte "Hollandmädel" unterzieht sich einer charmanten und nicht ganz unfreiwilligen Metamorphose.
Die Stimmen auf dem Video enthalten unter anderem Maria Callas ("Un bel di, vedremo"), Kathleen Ferrier ("What is life"), Conny ("Hallo, hallo, hallo") und die Everly Brothers ("Crying in the rain"). Die Bilder stellen eine Hommage an so große Maler wie Boucher, Caravaggio, Delvaux, Ingres, Millais, Picasso und Waterhouse dar. Zwei nah verwandte Filmausschnitte werden ebenfalls unterlegt, einer aus Luchino Viscontis "Tod in Venedig", der andere aus "Un chant d'amour" von Jean Genet. Das Foto von Romy Schneider ist verlorengegangen.
Das Video wurde hauptsächlich in und um Den Haag gedreht, der Geburts- und letzten Ruhestätte des großen holländischen fin-de-siècle-Romanciers Louis Couperus.
"In Stille und Tränen" ist Jean Cocteau gewidmet, und das Werk bezieht seinen Originaltitel (Door tranen uitgewist) aus einem Satz von Gerard Reve, Hollands größtem lebenden Autor, geboren im gleichen Jahr wie die göttliche Diva Callas. Der englische Titel "In silence and tears" entstammt Lord Byrons Gedicht "When we two parted".
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