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Ars Electronica 1986
Festival-Programm 1986
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Festival 1979-2007
 

 

Christian Ludwig Attersee: Attersee und seine Freunde




Sonntag, 22. Juni 1986, 21 Uhr
Brucknerhaus, Brucknersaal

Multimedia-Abend und Künstlerfest
(Auftragswerk von Ars Electronica)

Rücksichtslose Musik und Dazus, eine Unterhaltung.
Motto: Der Künstler weitet die Woge.
Sinn: Anders zu freuen, ist der Gewinn.

Mitwirkende:
Christian Ludwig Attersee
Gunter Brus
Ludwig Gosewitz
Markus Lüpertz
Hermann Nitsch
A. R. Penck
Arnulf Rainer
Dieter Roth
Gerhard Rühm
Brigitte Schwaiger
Dominik Steiger
Ingrid Wiener
Oswald Wiener
Emmett Williams

Elisabeth Seiler
Wolfram Berger
Goiserer Viergesang
Leopold Köppl
Geduldig und Thiemann
Wiener Männergesang-Verein

Regie:
Edek Bartz

Licht-Design:
Chris Lasker

Ton:
Erwin Reithmeier

ATTERSEE UND SEINE FREUNDE
PROGRAMM

Christian Ludwig Attersee (singt, spielt Klavier, vielleicht mit Geige und Ziehharmonika)
"Frucht und Form" (Linzer Fassung), ein heiter von wetter und liebe

Günter Brus (spricht)
"Günter Brus liest aus eigenen Schriften"

Ludwig Gosewitz (Tonband, Klavier)
"Variated Variations On Variations On Op. 57 (1975/1986–6)"

Markus Lüpertz (Klavier)

A.R. Penck (Schlagzeug)

F. Wollny (Gitarre)

H. Wollny (Baß)
"Triple Trip Touch"

Hermann Nitsch (spielt auf der Brucknerhaus-Orgel)
"Nachtstück für Orgel"

Dieter Roth (spricht er?, spielt er Klavier?, singt er?, bringt er Instrumente mit?, kommt jemand von seiner Familie und musiziert mit?, kommt er?)
"Musik mit Geweile, Gewelle …"

Gerhard Rühm (spielt Klavier, singt er auch?)
"Tondichtung"

Dominik Steiger (spielt Klavier, singt ein bißchen)
"Komm, spiel mir was vor"

Ingrid Wiener (singt, etwas Chor)
"Moritat von der Eisenbahn" (Gerhard Rühm/Konrad Bayer)
"Vermutlich" (Konrad Bayer/Oswald Wiener)

Oswald Wiener (singt, spielt Klavier)
"Ein Schubertlied"
"Ein Wienerlied"
"Ein Lied"

Emmett Williams (zeigt, spricht und spielt)
"Musica"

Arnulf Rainer/Brigitte Schwaiger (werden gespielt und sehen sich selbst zu in "malstunde")
PROGRAMM ZWISCHEN DEN KÜNSTLERAUFTRITTEN:

Goiserer Viergesang
"Oberösterreichische Volksweiserl"

Leopold Köppl
Drei Schubertlieder

Geduldig und Thiemann
"Jüdische Volksmusik"

Wiener Männergesang-Verein
"Wiener Chormusik"

Elisabeth Seiler/Wolfram Berger
– sind rainer und schwaiger für kurze Zeit in "malstunde"
ATTERSEE UND SEINE FREUNDE
malende dichter musizieren
malende musiker dichten
dichtende maler musizieren
dichtende musiker malen
musizierende maler dichten

musizierende dichter malen von da capo sin al fine im kreislauf uneingeschränkter musenküsse. attersee und seine freunde als gipfelpunkthorizont.

- und vielleicht würde GÜNTHER BRUS "am liebsten im Handstand eine weiße Weste stricken, um zu beweisen, daß man in allen Lebenslagen das Glatte oder Verkehrte tun kann. Nun aber steigt mir in aufrechter Lage das Blut in den Kopf, da ich heute schon das Strickmuster zum Projekt 'Attersee und seine Freunde' abliefern soll. Gewiß ist nur: ich mache keine Marmorskulptur."

– und all dies und noch das von GERHARD RÜHM von wegen "musiksprache–sprachmusik": "unter diesem titel fasse ich akustische kreationen zusammen, die in einem grenz- beziehungsweise mischbereich von dichtung und musik angesiedelt sind. die bezeichnung "sprachmusik" steht dabei für künstlerische produkte, die von der sprache ausgehend in musikalische bereiche vordringen, musikalische parameter mitkomponieren – dichtung also, die eines genauen vortrages bedarf und gehört werden muß. die bezeichnung "musiksprache" hingegen steht für instrumentalmusik, die bewußt sprachliche charakteristika oder gar funktionen aufweist: entweder im nonverbal sprechgestischen sinn oder als träger eines festgelegten zeichensystems, das die musik selbst (und nicht als textvertonung) regelrecht zu semantischen aussagen befähigt – etwa wenn bestimmten tönen bestimmte buchstaben zugeordnet sind, was die unmittelbare übersetzung des einen mediums in das andere erlaubt. dieses verfahren ist – so konsequent durchgeführt – neu, ansatzweise aber bekannt als musikalische namenschiffrierung. vom musikalisch-grafischen phänomenbereich abgesehen, verstehe ich unter "musiksprache" aber auch akustische versinnbildlichungen von ideen und sinnlichen erscheinungen in möglichst schlüssiger modellhafter form."

– und dort trifft sich dann der gesamtmusenkuß im grenzland, im niemandsland, wo der panzer abgestreift wird und der künstler eben künstler ist. nicht im puristischen sinn maler, musiker, dichter, sondern in der ganzen ganzheit seiner vielseitigkeit.

– und im saal verschlingt man CHRISTIAN LUDWIG ATTERSEE's "musikalische bissen": "die speisestube zur dramatischen diät" erwartet mit zirpsender grillwurst den hungernden gast.

in cremefarbenen porzellanplatten duftet speisenglück auf den tischen. mannequinschulbesitzerinnen stochern mit kirschgriffpinseln in ihren suppenhäuten. schrilles begleitet benützer der flötengabeln, bissen um bissen.
von der küche dringt kochkrach, heiß- oder kaltspielvergnügen. in grauen künstlerhaartürmchen, beidseits der toiletten, schlagen dackelrüden bongos und xylophon.

meine herzvagabundin lehnt im studentenfutterbestickten, vanillefarbenen slip. ihr gesicht gleicht fischfangen und meloneneis. musiknoten werden bei uns daheim in den gesäßöffnungen mundgeblasener glas-chow-chows gelagert.

als gereifter musikant bezeichnet mein großvater sein tägliches radio 'geröstel' 'grambampel' oder 'gebrekel'.

wie chopin wird auch mein bruder im familienkreis 'etüderl' gerufen.

saxophonschall dämpft onkel hagen mit möwenfleisch.

für vater ist autofahren die große oper. 'das ist musik', spricht er und bremst katzen glatt.

wir kinder am rücksitz 'holla die blunzen, holla die leberwurst', 'das ist romy schneider auch schon passiert, und die lutscht oliven dazu', mutter vorne.

singt irgendwo mario lanza, wird meine schwester schweißnaß wie kletzenbrot, sie rollt marzipan von den schenkeln und riecht nach gamsblut.

ich liebe den frühstücksglanz, widme mich mit putz und stengel der teetassenarchitektur, oder ordne bildtitelallerleien im kopf. die hohen zarten töne beim anschnitt der morgenwurst, das wohlige glucksen der butterbrote, die tonleitergrellen des weichselgelees, der badelärm aus dem toaster, das eidotterständchen – mein sonnenaufgangsrevier.

kastagnetten klopfen an meine wange. herein tritt rotkäppchen und schneidet speck auf meinem zahngold.

welt, das herz einer bremse und das herz einer schokoladenschwalbe, im servierschatten verschmolzen.

dagmar die zithersaite häkelt trauerborten an eure brauen, saftblödeln. walzerklein platscht stück für stück in mein essen. violinschlüsseldampf schwebt auf geflochtenem suppenfett in mein visavis. beim kompott fehlt das plektrum.

frauen mit zu lauter regel bitte rechts gehen.

der musikant ist angewiesen, bei unfällen in der bar zu bratschen. das griffende des streichbogens wird frosch genannt, das mundstück der oboe kröte.

auf den karawanken werden echoproduzenten von mastengeln mit punsch verbrüht.

wieder mal bossa nova getanzt, mit volksdeutscher gaumenplatte. hallo-fanatiker essen geigenhälse in paprikasauce. die hole aida als laubsägearbeit tropft, das kostet musik." (attersee 74)

– und so blickt man auf und herum, und sperrt abends augen und ohren auf, im sinne der sinne, und HERMANN NITSCH spielt auf der großen orgel im brucknerhaus. hundert pfeifen im salto mortale der musik. seit jahren schon ATTERSEE veranstaltungen zum thema "musik von malern, musik von dichtern" – so anders als die der profimusiker, weil frei und unbedarft der scheuklappenpuritaner. ein abend, der gewöhnliches ad acta legt. und früher war OSSI WIENER jazzmusiker und ATTERSEE schlagersänger, eben immer musik im blut und sonstwo. seit jeher seitensprünge in mischformen sprache/musik. und die fäden spannen sich unentrinnbar weiter auf ein unweigerliches, unentrinnbares zusammentreffen der ersten multimedialisten im zeitgenössischen. mitte der sechziger jahre "wiener aktionisten", und immer musik, steter begleiter. HERMANN NITSCH erfindet eine eigene partiturensprache, ATTERSEEsprache wird auch veröffentlicht. immer wieder fanden sich die musengeküßten und lassen schallplatten steigen mit wortmalerei und instrumentenplastiken (z.B. "Selten gehörte Musik") ATTERSEE, BRUS, NITSCH, DIETER ROTH, RÜHM, STEIGER und WIENER musizieren). verbindung von leuten, die nun schon seit zwanzig jahren musik machen. ins schwarze vinyl gepresst als dokument künstlerischer tätigkeit, ein abend im brucknerhaus mit lebender musik von malern, dichtern und wienerlied und schubert und goiserer viergesang. musik gewachsen. abschlußlied gemeinsam sonst individuell und einzeln. musik als möglichkeit sich direkt zu äußern. auf die bühne zu gehen und etwas auszuprobieren. spontanes dem spontanen überlassen, wer weiß mehr?

musik so locker und frei, macht profis eifersüchtig, strukturen, naturgeräusche schlagen wellen. selbstdarstellung und komik und musik und alles. das pendel schlägt musik-sprache-malerei-musik-sprache-malerei-und-retour. unabhängig von kommerziellen mäntelchen kann der musenkuß kapriolen und purzelbäume schlagen. unabhängig vom verkauf, selbstproduziert in kleinen auflagen für liebhaber. oft mit ärmsten mitteln produziert, und doch existent jenseits von hitparadenblablabla. und so singen sie, oder singen nicht, instrumenteln, oder instrumenteln nicht, lassen musik passieren, lassen sich selbst passieren, wer weiß was passiert? auf wagnisse einlassen, mut zum ungewohnten erlebnis, fallenlassen in kontraste. ein schubertlied und nitsch und volksmusik und zeitgenossen. zitate dazwischen von vorhandener musik als erzieherischer aspekt einer gegenüberstellung. neue sichten in vielfalt als dimension dieser matinee. wenn brigitte schwaiger mit arnulf rainer spricht, dann spricht dichtung mit malerei, spricht kunst im dialog. brigitte schwaiger fragt beharrlich, provoziert. rainer ist provokantes gegenüber – das ganze frage- und antwortspiel wird schauspiel "malstunde". im brucknerhaus eine szene daraus. arnulf rainer sitzt neben "arnulf rainer", brigitte schwaiger sitzt neben "brigitte schwaiger". gemalte dialoge von extrem bis heiter, von intellekt zu sinnlichkeit, von poesie bis wortklauberei. ungeplantes und überraschung im zenit eines kaleidoskopischen abends. wie feuerwerk spritzt musik als funken aus lautsprechern und flirrt von der bühne. publikum ist gleichsam sensor für neue ereignisse. neue hausmusik als gegengewicht, als unelektronischer abend bei ARS ELECTRONICA. als fragezeichen an die technologie durch vorrangigkeit der eigenmenschlichen musik. und die kunst tanzt ringelreihn.

Irene Judmayer