John Sanborn: 2³ - Über Kunst und Technologie
Dienstag, 24. Juni 1986, 20 Uhr Brucknerhaus, Brucknersaal
Uraufführung Auftragswerk von Ars Electronica In Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Rundfunk/Landesstudio Oberösterreich
Video: John Sanborn, Mary Perillo
Musik: Mark Helias, Pierce Turner
Mitwirkende und Tänzer: Cyndi Lee, Mary Ellen Strom, Hillary Easton
Special featuring: John Sanborn, Mary Perillo
Szene, Grafiken: Candy Yernigan
Licht- und Technikregie: Dave Feldman
Video-Assistenz: Peter Caesar
Tontechnik: Connie KieltykaJohn Sanborn ÜBER KUNST UND TECHNOLOGIE Die Tatsache, daß wir Werkzeuge verwenden, hebt uns ja von der übrigen Tierwelt ab. Unser Wissen um und unsere Vertrautheit mit verschiedenen Formen der Technologie (vom Messer bis zur Atombombe) stattet uns mit dem Attribut "zivilisiert" aus. Der Künstler hat seit jeher sein Werkzeug als Teil des kreativen Prozesses verstanden. Neben dem Dargestellten ist es ja auch noch die Farbenlehre, die Beschaffenheit der bemalten Oberfläche und die Faßbarkeit der Farbe selbst, die ein Gemälde ausmacht. Musik wird zu Papier gebracht unter gedanklicher Einbeziehung des Klangkörpers eines Orchesters, der technischen Möglichkeiten, die ein Aufnahmestudio bietet: durch Verschmelzen der kompositorischen Form mit ihrem musikalischen "Gehalt" entsteht darin das Kunstwerk.
Unter diesem Gesichtspunkt ist es durchaus naheliegend, das Stück Kohle, mit dem Höhlenzeichnungen entstanden, den Zeichenstift, das Klavier, als die fortgeschrittene künstlerische Technologie seiner Zeit anzusehen. Der sogenannte hochentwickelte "Computer" und die Video-Technologie des Medienkünstlers sind also nicht "fortgeschrittener" als Ölfarbe und Leinwand, wie sie heute verwendet werden. Der Einsatz von Werkzeugen alleine ist jedoch, wie bei der Malerei, nicht ausreichend. Werkzeuge, die ohne Phantasie angewandt werden, Technologie, die nur "um ihrer selbst Willen" eingesetzt wird, bereiten genauso wenig Kurzweil wie eine von inkompetenter Hand gespielte Mozart-Sonate. Häufig war es jedoch so, daß durch den Einsatz "neuer" Technologien Phantasie und Ideen beim Entstehen von Kunst auf der Strecke geblieben sind und eine leere elektronische Schale zurückgelassen haben.
Video-Technologie bedeutet für mich die ganz natürliche Fortsetzung eines kreativen gedanklichen Prozesses, der Informationen analysiert und "editiert". Bei meiner Arbeit stellen sich Informationen in Form von nicht-narrativen, das heißt abstrakten Geschichten dar. Die visuellen Motive, kombiniert mit einer konzeptuellen Gesamtstruktur, erfahren eine logische Entwicklung, die für das Publikum wiederum genauso "Sinn" ergibt wie traditionellere Erzählformen. Es ist gerade diese Kommunikationsebene, die größtenteils bei "Kunst-und-Technologie"-Projekten vermißt wird und häufig zur Mystifizierung des/der Künstlers/in sowie seiner/ihrer Werkzeuge führt. Nam June Paik nimmt für sich in Anspruch, Technologie lächerlich zu machen. Ich mache Technologie menschlich.23 23 vereint Arbeiten von Mark Helias, Cyndi Lee, Mary Perillo, John Sanborn, Mary Ellen Strom und Pierce Turner bei einer Live-Aufführung im Rahmen der Ars Electronica im Juni 1986. Das Grundthema des Projekts wird das Problem des Menschen behandeln, der versucht, aus Chaos Ordnung zu machen und Unerklärbares zu erklären. Alltägliche Erfahrungen werden behandelt – wobei nicht die Absicht besteht, bestimmte Antworten zu finden: uns geht es um ausgefeiltere Fragestellungen.
Die Arbeit besteht aus einer Kombination von Text (dargestellt, gesprochen und gesungen), live dargebotenen musikalischen Soli (die mit vorher aufgenommener Musik untermalt werden), bereits bestehenden Videos (die bearbeitete Tanzausschnitte, animierte Computergrafiken und digitale Videoeffekte in Form von Live-Kameras zeigen), Live-Videomischungen und -effekten (unter Einbeziehung ferngesteuerter Videokameras) sowie live aufgeführten Tanz- und Showdarbietungen. Die vorbereiteten Videobänder werden eine komplexe Montage von einfachen und fortschrittlichsten Video-Technologien zeigen, bei denen es um die Visualisierung einer Reihe von Metaphern geht, die die Wirklichkeit so darstellen und herausstreichen, wie sie die Künstler, die bei diesem Projekt zusammenarbeiten, sehen.
Wir werden Zeichen als Signaturen der sechs Künstler und Reflexionsmuster als autobiographische Einführung verwenden. Die Zeichenarten werden widerspiegeln, worauf es den Künstlern ankommt: Bewegungszeichen, Musikzeichen, Videozeichen. Existieren Querverbindungen zwischen Zeichenformen (z.B. Darstellungszeichen und Bewegungszeichen) und wie aussagekräftig sind diese unbewußten Formen? Ein weiteres, wiederholt auftretendes Bild zeigt einen digital geschaffenen, sich langsam drehenden Raum mit großen Bildfenstern, von denen jedes verschiedene, außerhalb des Raumes vor sich gehende Vorgänge zeigt. Das gesamte Bild soll als Gruppenbild mit Vertonung den Hintergrund für Tanzdarbietungen im Vordergrund, aber auch den Übergang zwischen verschiedenen Szenen darstellen.
Ein zweites Fensterbild zeigt mit Hilfe des Videoschirms ein Loch hinaus in die Außenwelt: außerhalb des Theaters wird getanzt. Dieser Tanz ist als Beispiel für eine Grenzarbeit, die durch ihren vorgegebenen Rahmen definiert ist, anzusehen. Ein weiteres grafisches Werkzeug sind Karten. Eine Karte verdeutlicht die Auswanderung der Vorfahren der sechs Künstler in die Vereinigten Staaten. Der Teil der Karte, den wir sehen, beleuchtet die Einzelpersonen näher, hebt Kreuzungspunkte der Personen hervor. Der letzte Schritt dieser Kartendarstellung zeigt eine Anzahl von Linien und gängigen Kartensymbolen, aus denen langsam Orte, Städte, eine Topographie entstehen, was sich am Ende dann als Karte einer Hand, wie sie Handleser verwenden, herausstellt.
Während der gesamten 23-Aufführung laufen mit Macintosh kreierte Animationen von Joseph Prieboy. Eine trägt den Titel "Dance Analizing Machine" und ist eine Satire auf "Kunst-und-Technologie"-Projekte, die choreographische Tanztechniken als Ausgangsbasis für die niedrig-auflösende Animation einsetzt. Eine bedeutende Tanzsequenz ist der "car crash test", bei dem die Tänzer nackt und durchnumeriert in einer Pseudo-"crash-test"-Umgebung agieren. Eine großangelegte Videoversion des Live-Tanzes wird mit auf der Bühne abgegebenen Tanzkommentaren zusammenspielen: Ziel ist die Suche nach der Bedeutung einfacher Bewegungen, wobei wissenschaftliche Entfernungs- und Zeitdarstellungsmittel eingesetzt werden, um Zeit- und Entfernungsänderungen zu betonen und eine Gefühlsintensität zu vermitteln.
Eine Montage sozial komplexer Wortspiele wird durch eine Art animiertes Scrabblespiel dargestellt. Die Fragen und einige Antworten zu diesem Puzzle werden von den Künstlern gesprochen, deren Verbindung mit dem Rätsel seinen Lösungen große Wirkung auf die Geheimnisse des Lebens zu geben, wird auf komische Art einfach gemacht. Das wird kombiniert mit einem verdrehten Spiel mystischer Sessel. Bei dieser Wettbewerbsversion des Spiels (das auf die Wettbewerbsfähigkeit der Kunstwelt, die Ablehnung kreativen Lebens, Entfremdungs- und "Im-Stich-gelassen-sein"-Gefühle und das Verlieren der Kontrolle Bezug hat) vermittelt jeder Spieler, wenn er ausscheidet, eine andere künstlerische Antwort.
So wird zum Beispiel ein Erfinder dargestellt, der vorgibt, allgemein Bekanntes zu erfinden; er entdeckt seine alltäglichen Aktivitäten aufs neue, wie man geht, kocht, ißt; ganz so, als hätte er nie eine Schale, eine Schüssel, einen Teller gesehen. Den Hintergrund bei diesem Ausschnitt bildet eine komische Mischung von Entdeckungen (sowohl echter als auch gespielter), unterbrochen durch Live-Kamera-Nahaufnahmen von Erfindungen dieser Person. Die Darstellung einer Malkasten-Animation verfolgt den Zweck, mit Bildern der sechs Künstler zu spielen; durch ihre vor- und zurückspringende Darstellung in unterschiedlichen Altersstufen wird eine Reihe von Fragen von Kindern zum Leben eingeleitet. Diese Fragen scheinen Antworten zu haben, die nur für uns zu einem bestimmten Zeitpunkt, Zeitalter, Ort bestehen. Die Arbeiten mit dem Quantel Malkasten erfolgen in Zusammenarbeit mit Tom Lesser.
Verschwendete Zeit, in direktem Zusammenhang mit dem Publikum gesehen, ist ein anderes von uns aufgegriffenes Thema. Durch die Einbeziehung vorher fertiggestellten Filmmaterials sieht man Menschen außerhalb des Brucknerhauses, wie sie Karten kaufen und vorgefaßte Meinungen über den bevorstehenden Abend von sich geben, sowie Sofort-Rückblicke auf das in Gang befindliche Programm. Wir bedienen uns einer der Rube-Goldberg-Maschine zugrunde liegenden Idee und wenden sie auf einen breiteren Bedienungsbereich an. Bewegung wird Farbe, wird Ton, wird Bild. Auf der Basis der unterbewußten Verwirrung in bezug auf drei und rot und fis, des Begriffs des "Blau-Hörens" – auf Basis "Scriabin'scher" Farbfeldtests, psychologischer und Intelligenztests. Den Abschluß wird eine komplexe Montage sowohl einfacher als auch sehr fortgeschrittener Techniken und Technologien bilden, bei denen es vorrangig darum geht, eine Reihe von Metaphern zu visualisieren, die die Realität, wie sie die sechs Künstler sehen, darstellen und hervorheben.LINZ IDEEN ZU 23 Allgemeine Themen DREIECKE/Gesamtmuster für diese Arbeit? Drei Dinge, die gleichzeitig ablaufen, Faszination der Dreiecke, das Dritte Auge, Musik/Video/Tanz. Dreiecke zeichnend unterwegs auf einer Dreiecksroute zwischen drei Städten. – SUCHE NACH EINEM WEG DURCHS LEBEN – Suche nach Bedeutung, Teile einer Erfahrung zusammenfügend.
Besonderheiten ZEICHEN … vielleicht Anfang der Arbeit … Zeichen, Zeichen – Bewegungsmuster, musikalische Phrasen, Wiederholungen … immer wieder … verschiedene Antworten zu verschiedenen Zeiten auf die selben Fragen … und dann BEWEGUNGSZEICHEN, MUSIKZEICHEN, VIDEOZEICHEN … und so weiter ZEICHEN.
CAR CRASH TEST – nackte und durchnumerierte Tänzer in "crash-test"-Umgebung – mögliche Video-Versionen des live auf der Bühne stattfindenden Tanzes. Musik vor allem zur Unterstützung von Video/Tanz, wissenschaftliche Untersuchung alltäglicher Fragen Tanz im Bereich unter der Bühne verlegt die Handlung auf den in Zusammenhang stehenden Schirm.
KREUZWORT TANZ … animierter Text/Musik – Wortspiele, Kreuzworträtsel, Scrabblespiele – Ein-Wort-Antworten auf Fragen zum Leben.
KINDERSTANDPUNKTE zu Erwachsenenthemen … wirkliche Kinder zeichnen zu von uns vorgeschlagenen Themen Bilder – (von gewöhnlichen Kindern bis hin zu besonderen Gruppen wie z.B. Kindern aus Belfast) – Zeichnen und Kinderstimmen auf Band.
RUBE-GOLDBERG-Maschinen, Idee – Bewegung, die Farbe wird Ton, wird Bild, wird … eine fließende Mischung von Handlungen! Bildern, Tönen und Wörtern, die verschwommen werden und verschmelzen zu einem nahtlosen Ausbruch von "Stoff" … UM BEDACHTER GESCHRIEBEN ZU WERDEN.
SPIEL MUSIKALISCHER SESSEL – mit den Sechs … Bewegungsreaktion – unterbrochen bei Aufhören der Musik idiosynkratische Bewegungen für die Sechs während des Ablaufs des Sesselspiels … in bezug auf das Finden des "Weges durch das Leben".
EFFEKTE FÜR DIE TANZ- UND MUSIK-KATEGORIE DINGE, die mehr Arbeit erfordern wie z.B. Dinosaurier, wissenschaftliche Untersuchungen von etwas Banalem wie dem HAMBURGER INSTITUT und "frisierte" Sprachwitze und ähnliche Beispiele wie diese.
SAMMLUNG VON BLITZKARTEN für unübliche Erziehung – eine seltsame Mischung von Punkten anführend.
Arabesque Brain Tumor Contracts Dog Breath Extendor Flexible Grandfather Heliotropic Itching Parts Jurassic Period Kind of a drag Liquids Moldy things in "frig" Noodle Order of (nuns and friars) Points Ouake (earth) Rabbit Slime Topography Underwater Velcro Wrinkles Xonophobia You dig Zilch
Videos, von denen ausgewählte Teile als Teil der Projektion von John Sanborn gezeigt werden:
"FRACTURED VARIATIONS" und "VISUAL SHUFFLE" 1986 15:00. Von Charles Moulton und John Sanborn. Produzent: Mary Perillo, Koproduzent: Robin O'Hara. Choreographie: Charles Moulton. Regie: John Sanborn, Koregisseur: Mary Perillo.
"SISTER SUZIE CINEMA" 1985, 24:00. Eine Doo-Wopp Oper. Text: Lee Breuer. Musik: Bob Telson. Produzent: Mary Perillo. Regie: John Sanborn.
"EAR-RESPONSIBILITY" 1985, 5:00. Produziert in Zusammenarbeit mit David Van Tiegham und Mary Perillo.
"LUMINARE" 1985, 5:45. Produziert in Zusammenarbeit mit Dean Winkler. Musik: Daniel Lentz. Auftragswerk der 'EXPO' 86, VANCOUVER, BC, KANADA."
"RENAISSANCE" 1984, 5:30. Produziert in Zusammenarbeit mit Dean Winkler. Musik: Jamaaladeen Tacuma.
"PERFECT LIVES" 1983, eine Fernsehoper in 7 Teilen, jeder 25:50. Von Robert Ashley. Koproduzent/Koregisseur: Mary Perillo. Hergestellt für Channel Four, England. Regie: John Sanborn.
"ACT III" 1983, 6:00. Produziert in Zusammenarbeit mit Dean Winkler. Musik: Philip Glass.
"A GENTLEMEN'S HONOR" 1983, 5:10. Musik: Philip Glass.
"A TRIBUTE TO NAM JUNE PAIK" 1982, 30 Minuten.
"BIG ELECTRIC CAT" 1982, 6:00. Produziert in Zusammenarbeit mit Dean Winkler. Musik: Adrian Belew.
"STILL LIVE" einschließlich "STATIC", "DON'T ASK", "EPISODE", 1981, 20 Minuten.
"MUSIC WORD FIRE AND WOULD DO IT AGAIN COO-COO (THE LESSONS)", 1981, 28:00.
"OLYMPIC FRAGMENTS", 1980, 12:00.
"INTERPOLATION", einschließlich "ENTROPY" und "ORDER", 1978, 30.00.
John Sanborn Video/TV-Künstler John Sanborn ist eine der gefeiertsten und der am stärksten an die Öffentlichkeit tretenden Persönlichkeiten der neueren Videoszene. Durch seine Zusammenarbeit mit Kit Fitzgerald, Robert Ashley, Dean Winkler und Mary Perillo entstand ein komplexes und anspruchsvolles Gesamtwerk. Diese Künstlerkarriere zeigt außerordentliche Virtuosität im Umgang mit dem Medium Video sowie einen hohen Grad der Verfeinerung in der Transformation dieser Technologie in eine charakteristische und abwechslungsreiche Serie von Bändern und Installationen. John Sanborn hat sich nicht nur dafür entschieden, sich die Technologie und die Mittel des Fernsehens zu eigen zu machen, sondern, und dies ist der umstrittenste Aspekt seiner Karriere, er hat sich entschieden für und innerhalb des Rahmens dieses kommerziellen Mediums zu arbeiten. Dies ist ein höchst anspruchsvolles Ziel, auf Grund der ständigen Versuchung zum kreativen Kompromiß, welcher die Integrität und das wahre Potential des eigenständigen Werkes in Frage stellen kann.
John Sanborn und Kit Fitzgeralds frühes Farb-Videoband EXCHANGE IN THREE PARTS (1977, 30 Minuten) besteht aus einer Serie von Szenarien, die eine Dialektik zwischen dem Bild und dem Monitor herstellt, auf dem es gezeigt wird. EXCHANGE IN THREE PARTS zeigt eine Serie von Bildern, in welchen ein Monitor die Szene, deren Teil er ist, ersetzt und vollendet (Illustration 1). Zum Beispiel sitzt ein Paar einander an einem Tisch gegenüber, mit einem Monitor zwischen den beiden Personen. Auf dem Bildschirm ist eine Schale Obst zu sehen. Wenn der Mann seinen Arm ausstreckt, entsteht der Eindruck, als würde er in den Monitor greifen und ein Stück Obst entnehmen. In anderen Szenen wird ein Monitor in einer Landschaft gezeigt, dessen Bild, wie ein Stück eines Puzzles, den Teil der Landschaft ergänzt, den der Monitor verdeckt. Dieses Frühwerk beschäftigt sich mit der Aufnahmekapazität des Mediums Video, mit seiner Fähigkeit, die Illusion der Realität darzustellen. Es wird hier nicht so sehr eine Umformung dieser Realität angestrebt, wie das Medium selbst in einer reflexiven Art angesprochen und so zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst gebracht. Sanborn und Fitzgerald deuten geschickt an, wie der Fernsehapparat allmählich unsere direkte Wahrnehmung der Welt verdrängt hat. Unsere Sicht der Dinge und unseres Selbst wird in unterschiedlichem Maße durch die Allgegenwart des kommerziellen Fernsehens geformt. EXCHANGE IN THREE PARTS stellt diesen Fernsehapparat an sich selbst und spielt mit dem Mythos des Fernsehens als Aufnahmemedium, das die reale Welt darstellt.
In INTERPOLATION (1978, 30 Minuten) wenden sich Sanborn und Fitzgerald der Wahrnehmung von Videobildern durch Bearbeitung und erzählerische Strukturen zu. INTERPOLATION besteht aus einer Serie von zehn kurzen Teilen. Charakteristisch ist hier die schnelle Bearbeitung und Entkonstruktion der Bilder. In ENTROPY (2 Minuten, 5 Sekunden) wird das Herrichten eines Frühstücks zu einer Montage von einzelnen Handlungen reduziert. MOTIVE (2 Minuten, 10 Sekunden) zerlegt die Aktion einer laufenden Figur, die sich durch Zeit und Raum bewegt. In ORDER (1 Minute, 33 Sekunden) wechseln sich eine Reihe von Gesten (Händeklatschen, zerbrechendes Glas) schnell ab, wobei die Bilder mit verschiedenen Toneffekten unterlegt sind. Hier, wie in anderen Teilen von INTERPOLATION, wird die im kommerziellen Fernsehen, in der Werbung und in der Sportberichterstattung so deutlich wahrnehmbare neue Technologie der elektronischen Bearbeitung auf das Medium selbst angewendet. Sanborn und Fitzgerald stellen Betrachtungen über unsere Wahrnehmung der elektronischen Bilder auf dem Fernsehschirm an und erforschen dieses Phänomen.
RESOUND (1977, 20 Elemente gruppiert für 8-Farb-Videokanäle mit Stereoton) erweitert die Montage von ORDER, indem die lineare Bildsequenz in eine räumliche Anordnung von Monitoren und Lautsprechern eingebracht wird (Illustration 2), die eine Umgebung von Klängen und Bildern schaffen. Weitgehend wie in EXCHANGE IN THREE PARTS, wo der auf dem TV-Schirm sichtbare Monitor den von ihm eingenommenen Raum ersetzte, ersetzen die 8 Kanäle von RESOUND den Raum der Galerie und schaffen eine sensorische Umgebung, durch die sich der Betrachter bewegen kann. So wird der Betrachter auf seinem Weg durch die Galerie zum aktiven Mitwirkenden in dieser akustischen und visuellen Komposition. Von der Ersetzung der Realität in EXCHANGE IN THREE PARTS bis zu der Schaffung eines visuellen Feldes in RESOUND haben Sanborn und Fitzgerald in ihrem Frühwerk das Medium Video erforscht und eine ästhetische Antwort auf dessen Potential geschaffen.
Diese Antwort sollte 1980 weiter entwickelt werden, als Sanborn und Fitzgerald als fix engagierte Künstler bei den Olympischen Winterspielen in Lake Placid, New York, ihr vielleicht stärkstes Videoband schufen: OLYMPIC FRAGMENTS (1980). In diesem Werk setzten sie zur Erfassung der Bewegung eine Technik ein, die den Fernsehzuschauern von Sportübertragungen vertraut ist: Zeitlupe und sofortige Wiederholung. Die Bewegungen der Sportler – ob Bobfahrer, Skispringer oder Eisläufer – werden auf dem zweidimensionalen Videoschirm zu einem vollkommen anderen sensorischen (räumlichen) Erlebnis (Illustration 3). Sanborn und Fitzgerald haben sich dieses Unterschiedes bedient, um gedrängte und dennoch lyrische Transformationen von Sport zu schaffen, indem sie Farbe, Gestik und Aktion durch Komposition und Rekonstruktion von Bewegungen bearbeiteten. Was im kommerziellen TV als Information erscheint, wird in Sanborns und Fitzgeralds Kunst zu poetischer und geheimnisvoller Kunst. Das einmalige Potential des Mediums Video wurde in diesen kurzen Sequenzen, die ursprünglich als Pausenfüller gedacht waren, voll ausgeschöpft. Diese einzelnen Episoden wurden in OLYMPIC FRAGMENTS in der Art der japanischen Haiku-Verse zu einer Serie visueller und akustischer Elemente zusammengefügt, die das Auge erstaunen und erfreuen und die Kraft und physische Schönheit des Sports zur Geltung bringen.
1985 vollendete John Sanborn Robert Ashleys epische Video-Elektronik-Oper PERFECT LIVES (THE PARK, THE SUPERMARKET, THE BANK, THE BAR, THE LIVING ROOM, THE CHURCH, THE BACKYARD: 189 Minuten). Diese Zusammenarbeit gründet sich auf Ashleys Vision der Schilderung einer Kleinstadt, die zufälligen Episoden des täglichen Lebens, die zum Stoff einer mythischen Oper werden sollten. Hier webt Sanborn die vielschichtige Erzählung (Musik und Stimme) durch die illusionistische Oper seiner Videoeffekte. Sanborn konstruiert im wahrsten Sinne des Wortes durch die darstellende und abstrakte Bildsprache eine Landschaft des American Dream als eine Phantasie des Raumzeitalters, bestehend aus der Realität des täglichen Lebens "auf der Farm und in der Kleinstadt" (Illustration 4). Das Ergebnis ist das anspruchsvollste Projekt, das je für das kommerzielle Fernsehen realisiert wurde. Dieses vielteilige Epos ist eine Herausforderung für die traditionellen Vorstellungen von TV-Programmgestaltung und von der Oper und versucht beide als visuelles Medium neu zu definieren. Seine Fülle und heroischen Proportionen sind eine Herausforderung für die Vorstellung vom Fernsehen als einfachen Träger von Standardprogrammen.
In einem von Sanborns jüngsten Werken, LUMINARE (1986) (Illustration 5) werden die Bilder vollkommen künstlich. Mittels Computer wird ein Museum mit Bildwerken und eine Geschichte der Malerei geschaffen. In dem erfolgreichsten von Sanborns jüngeren Videobändern werden ständig neu entstehende geometrische Formen und Körper kreiert, die sich drehend durch den illusionären Videoraum auf dem TV-Schirm bewegen. Obwohl reizvoll vom formalen Gesichtspunkt her, stellt dieses Band einen verführerischen Aspekt im Werk Sanborns dar und birgt die Gefahr in sich, daß die populären und vertrauten Formen der Bildverarbeitung, wie wir sie vom kommerziellen Musikvideomarkt kennen, das Kreativitätspotential dieser Kunstgattung abstumpfen werden. John Sanborn war sich schon immer des Potentials des Fernsehens bewußt und betrachtet sich als Videokünstler, der Werke für das Fernsehen schafft.
Wie bei seiner Zusammenarbeit mit Danceteria, dem New Yorker Club, der als einer der ersten Videobänder von Künstlern in sein Musikprogramm aufnahm, erkannte Sanborn das Potential für neue Wege der Verarbeitung und Förderung der Videokunst. Heute haben Clubs wie das "Palladium" (Illustration 6) den Begriff Club-Medien in spektakulärem Ausmaß erweitert, indem regelmäßig sowohl künstlerische als auch kommerzielle Musikbänder vor einem zahlreichen Publikum präsentiert werden. Der "Palladium-Effekt", ein Zirkus der Unterhaltung, in dem Kunst und Kommerz gemischt werden, ist zu einer zentralen Metapher des gegenwärtigen Kunstmarktes geworden. Junge Künstler richten sich genauso nach den jeweiligen Modeströmungen des Kunstmarktes aus, um "Stars" zu werden, wie die Popmusiker, die auf den Musikvideos spielen. Der Verkauf von Kunst als Kommerz ist immer leichter zu bewerkstelligen. Die Herausforderung für John Sanborn heißt, sich nicht vom breiten Strom des Massen-Marketings erfassen zu lassen. Wird er sich als Videokünstler Peter Max, Keith Haring und anderen anschließen, die einen Lebensstil, der den Konsumenten als den Helden unserer Zeit feiert, verkaufen, anstatt ihn zu untersuchen und in Frage zu stellen? Die Fragen und die hohen Ziele, die sich John Sanborn in seinem besten Werk gesetzt hat, müssen weiter aufrechterhalten werden, wenn er nicht von dem Zynismus der späten achtziger Jahre vereinnahmt werden soll. Seine Karriere und seine Kunst sind eine Herausforderung für uns alle.
John G. Hanhardt Curator, Film und Video Whitney Museum of American Art Mai 1986
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