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Ars Electronica 1986
Festival-Programm 1986
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Festival 1979-2007
 

 

TERMINAL KUNST


'Jürgen Claus Jürgen Claus

Der Ausstellung ist eine These eingeschrieben. Sie läßt sich in zwei Fragen gliedern. Die eine: Sind die Technologien, die in einer rasanten Entwicklung seit etwa drei Jahrzehnten vorgestellt wurden, in der Lage, AUSDRUCKSTRÄGER KÜNSTLERISCHER VORGÄNGE zu sein? Die zweite: Ist eine VERNETZUNG zwischen den einzelnen Technologien denkbar, die eventuelle künstlerische Prozesse und Ergebnisse fördert?

Die erste Frage wurde in der kurzen Geschichte der Linzer Ars Electronica seit 1979 immer wieder gestellt, ist jedoch auch immer wieder zu stellen, angesichts einer Technologie-Entwicklung, die nicht stillsteht, sondern immer noch expandiert, von Jahr zu Jahr neue Trägertechnologien zur Welt bringt. Und ist auch im Sinne der kontinuierlichen Rechenschaft zu stellen, der Überprüfung KÜNSTLERISCHER Ergebnisse.

Die zweite Frage, die nach der Vernetzung der einzelnen Systeme zielt, ist neu. Ihr ist besonderes Augenmerk zu widmen. Sie wird uns bis zum Ende der achtziger Jahre weiterhin beschäftigen, vielleicht darüber hinaus. Später mehr darüber.

DER TITEL
TERMINALS sind uns als Abflug- und Ankunftsorte vertraut. Ein Terminal ist auch jener Komplex, zu dem wir uns begeben, um zum Flughafen zu fahren. Oder wir kommen dort an, im Stadtgebiet. Irgendwie bildet der Terminal (lateinisch: terminalis) das Ende, das Äußere. Das gibt dem Ausdruck auch seine medizinisch-biologische Bedeutung: nahe daran, zum Tod zu führen. Im technischen Wortsinn ist der Terminal ein Verbindungspunkt eines elektrischen Schaltkreises. In der jüngsten Wortbedeutung des elektronischen Zeitalters ist der Terminal jener Apparat, durch den der Benutzer Instruktionen eingeben und Informationen empfangen kann (Computer).

Einigen wir uns darauf, daß ein Terminal eine Vorrichtung ist, um Botschaften, Signale (MESSAGE SIGNALS) zu senden und/oder zu empfangen. So ist das Mikrophon das Beispiel eines Übertragungs-Terminals, der Fernseher das Beispiel eines Empfangs-Terminals. Der Witz an der Sache ist, daß einige Terminals wie das Telefon dazu benutzt werden können, zu senden wie zu empfangen. Hier handelt es sich um das Versprechen, das mit der Ankunft der Technologie gegeben wurde, bislang aber nicht eingelöst wurde.

Und dann KUNST: verbunden mit dem Terminal-Begriff die erfundene visuelle Gestalt, das Bild, die Erzeugung der Bilder oder deren Auslöschung; das grafische Produkt, der bildnerische Prozeß, das Ergebnis anschaulicher, oft auch verbaler, oft auch dreidimensionaler Austauschmöglichkeiten, Kommunikation durch Augen, gestalthafte Lesung (nie Lösung) der Welt, sichtbarer und unsichtbarer Räume, Erfundenes und Gesehenes im Koordinatenkreuz der Sichtbarkeit. Kunst – uralt und gegenwärtig, nie eindimensional, nie nur die eine Patrone, nie das stilistische Diktat. KUNST ALS ENERGIEFORM UND ENERGIEAUSDRUCK IM ANSCHAULICHEN BEREICH. Magnetfeld des Visuellen. Kunst: das Visuelle und dessen Aufnahme durch den Betrachter, dessen Augen, wie Willi Baumeister sagte, der "vorgeschobene Posten des Gehirns" sind.

Der "TERMINAL KUNST" ist also keineswegs nur ein Computerterminal. Und auch in der Ausstellung in einem weiteren Sinn verstanden. Zusätzlich zur technischen, häufig elektronischen Vorrichtung wird die Aktion des sich beteiligenden Menschen wichtig, ja grundlegend: Sie schafft erst die INTERAKTION, auf die diese Ausstellung angelegt ist.
ZUM KUNSTBEGRIFF DER AUSSTELLUNG
Es ist offenbar unvermeidlich, daß der Begriff KUNST wiederum zur Diskussion gestellt wird. Wenn innerhalb der medizinischen Untersuchung eines Kranken der Computer einen Krankheitsherd aufdeckt, der mit bloßem Auge oder Abtasten nicht auszumachen wäre, so wird das vom Kranken (und seinen Angehörigen) akzeptiert, weil es der ERKENNTNIS dient. Der Begriff der Medizin, so sehr er sich auch erweitert hat, wird darüber nicht in Frage gestellt. Anders im weiten Feld der Kunst. Der Erkenntnis dienen auch hier zahlreiche neue, aktuelle Ausprägungen der elektronischen, technologischen und Medien-Kunst. Jedoch sind wir gewohnt, sogleich nach der BEDEUTUNG zu fragen. Und diese persönliche Entscheidung hängt von einer Vielfalt von Gegebenheiten ab, etwa von Erziehung, Lebenseinstellung, Vergleichsmöglichkeiten etc. Welcher Kunstbegriff liegt aber der Ausstellung selbst zugrunde? Es ist das Ziel von "TERMINAL KUNST", den Besuchern vorwiegend interaktive Systeme der Elektronik und deren Einsatz und Weiterentwicklung durch Künstlerinnen und Künstler anzubieten, sie etwa in Labors der elektronischen und digitalen Kunst zu führen, wo auch der Entstehungsprozeß sichtbar wird.

Die Ausstellung ist nicht so sehr auf fixierte Produkte ausgerichtet, wie auf den PROZESS-CHARAKTER der gegenwärtigen elektronischen Kunst. Die Bezeichnung Kunst steht hier als ein Arbeitsbegriff, um visuelle, gestalterische Arbeitsformen gegen andere abzuheben. Bewußt eingeschlossen sind die Formen eines erweiterten Kunstbegriffes.

In dem Sinne ließe sich auch von einer "GESTALTTECHNOLOGIE" sprechen, die die Randgebiete erweiterter Kunst wie das Design, die Produktgestaltung, die Architektur, die Ökotechnologie ebenso einbezieht wie Klangereignisse, visuelle Wissenschaftsaussagen und gestalthafte Dokumentation. (1)

Wie andere Begriffe menschlicher, forschender Aktivität ist der Kunstbegriff kein statischer; er wandelt sich vielmehr durch eine expandierende Raum-Situation in der Erfahrung und Erfassung von Makro- und Mikrokosmos, durch eine Revolution der Bildträger und Bildmedien, durch soziale Umstrukturierungen der atlantisch-pazifischen postindustriellen Gesellschaft und andere Faktoren.

Jeder Ausstellungsbesucher wird selbst entscheiden, ob und inwieweit ihn eine gestalttechnologische Arbeit zu einem neuen, noch unbekannten Erlebnis anregt, ihm eine neue Definition abnötigt, ihn möglicherweise aus der Irritation heraus zu neuen Fragestellungen führt. Diese SELBSTENTSCHEIDUNG ist zugleich ein wichtiger Lernprozeß, um in der Gegenwart – angesichts einer sozialen, kulturellen, medientechnischen abrupten Veränderung – zu bestehen.

Über zwei Jahrzehnte nach ihrer Formulierung ist die Analyse des Kanadiers Marshall McLuhan aktuell geblieben, daß die neuen Medien und Techniken "gewaltige kollektive Eingriffe darstellen, die ohne antiseptische Mittel am Körper der Gesellschaft vorgenommen werden. Wenn die Operationen notwendig sind, muß mit der Unvermeidlichkeit einer Infektion während der Operation gerechnet werden. Denn wird die Gesellschaft mit einer neuen Technik operiert, ist nicht die aufgeschnittene Stelle der am meisten betroffene Teil. Die Druck- und Schnittstelle ist betäubt. Das ganze System aber wird verändert."

In dieser Veränderungsphase "gibt es kein Beispiel von bewußter Anpassung der verschiedenen Faktoren des individuellen und sozialen Lebens an neue Ausweitungen, außer den zaghaften Bemühungen der Künstler, am Rande sozusagen". (2)
DIE ANDERE TRADITION
Im Zeichen einer vordergründigen Kunstmarktkunst, die den "Zeitgeist" zu besetzen vorgibt, tut es gut, sich einer anderen Tradition zu besinnen. Sie wird in diesem Jahrhundert durch Gedanken, Leistungen, Namen wie Walter Gropius, Laszlo Moholy-Nagy, El Lissitzky und vieler anderer bezeichnet.

Wie sehr die andere Tradition durch die unmittelbare Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit verschüttet wurde, merkt man deutlich an der fehlenden Dialektik innerhalb der Kunst der mitt-achtziger Jahre. So wird beispielsweise Deutschland auf einen expressionistischen Nenner gebracht, der völlig einseitig ist, und in keiner Weise einem geschichtlichen "nationalen Charakter" entspricht.

Will man die augenblickliche Entwicklung der Gestalttechnologie beurteilen, kommt man ohne historisches Wissen nicht aus. Der "ELEKTRONISCHE SCHIRM", über den später zu reden sein wird, wird ohne aktive gestalterische, analytische Mitwirkung des Künstlers ein Fremdkörper innerhalb der Gesellschaft, und des privaten, einzelnen Lebensbereiches sein. Dieses gesellschaftliche Wirken des Künstlers ist in einer Demokratie aus einer Vielzahl von Gründen schwer verständlich zu machen. Zu einem Konsensus zu finden, wird durch den Markt in seiner vielfachen und grundsätzlichen Auswirkung eher erschwert. Überdies ist gesellschaftliches Wirken auf seiten des Künstlers ohne schulbildende Kräfte kaum möglich.

Eine solche schulbildende Kraft sollte im 20. Jahrhundert das Bauhaus darstellen. Walter Gropius plante es als eine "Pionierschule" mit dem Ziel, nicht Stil, System oder Dogma zu propagieren, sondern lebendigen Einfluß auf die Gestaltung auszuüben. Bazon Brock hat kürzlich darauf verwiesen, daß trotz und gerade wegen aller Fälschungen in der Rezeption des Bauhauses, dessen Konzept und Pädagogik aktuell wie je zuvor geblieben sind: "Vom Produktdesign über das Soziodesign zum Kommunikationsdesign, das ist eine Entwicklung, wie sie im Sinne von Gropius durch neue Technologien und ihre sozialen Folgen erzwungen wurde." (3) Unter den Bauhauskünstlern ist zweifellos Moholy-Nagy eine Schlüsselfigur, wenn man sich die "andere Tradition", wie ich sie nenne, und das heißt auch die Geschichte der Gestalttechnologie bewußt macht. Vieles in seinem bildnerischen, grafischen, dreidimensionalen, vor allem aber in seinem filmischen und geschriebenen Werk weist auf die unmittelbare Gegenwart. Tatsächlich spielt das von ihm erarbeitete und analysierte Raum-Zeit-Kontinuum in der gegenwärtigen digitalen Kunst eine zentrale Rolle.

Es wäre töricht und gefährlich, bei der Beurteilung der gegenwärtigen Gestalttechnologie auf die Denkmodelle, Forschungen, Begriffe zu verzichten, die uns die andere Tradition in diesem Jahrhundert anbietet. Trotz der verheerenden Folgen durch zwei Weltkriege gibt es eine solche Tradition, wenn auch verschüttet, in der Ausbildung und in der musealen Präsentation verdrängt.

In den fünfziger Jahren kommt in Europa eine jüngere Generation von Künstlerinnen und Künstlern zu Wort und Bild, die sich nunmehr nachhaltig der technologischen Möglichkeiten bedienen. Dazu zählen etwa der Szenograph und Medientheoretiker Jacques Polieri; Nicolas Schöffer, der den Begriff der Kybernetik mit seinen Licht- und Klangskulpturen in die Kunst einführt; Frank Malina, der neben seinem Lumidyne-System auch in der von ihm begründeten Zeitschrift "Leonardo" der Auseinandersetzung einen wissenschaftlichen Fundus mit auf den Weg gibt; Wolf Vostell, der 1959 seine ersten elektronischen dé-coll/age-Verwischungen durch Fernsehverzerrungen und elektro-akustische Objekte macht; Nam June Paik, der ab 1958 im Studio für elektronische Musik des Kölner WDR mitarbeitet.

Im gleichen Zeitraum publiziert in der Bundesrepublik Deutschland Max Bense seine wissenschaftliche, man könnte auch sagen technologische Ästhetik, er und sein Kreis wirken als eine weltweit funktionierende Sendeanstalt der Informationsästhetik. Nachdrücklich wies Bense darauf hin, daß jede Zivilisation eine Kommunikation zwischen ihrer technischen und ihrer ästhetischen Wirklichkeit besitzt, die wie ein System KOMMUNIZIERENDER RÖHREN einem Austausch zustrebt. 1957 schrieb Bense im Vorwort zu seiner, Max Bill gewidmeten "aesthetica III": "Man ist jetzt in den Bereich der ästhetischen Elemente, in den ästhetischen Atomismus vorgedrungen, in dem es sich um Signale, Zeichen, Funktionen, Gestalten, Zellen, Modulore, Modelle, Raster, Felder, Strukturen, 'offene' und 'geschlossene' Systeme handelt. Das Vordringen des Statistischen und Mikrokosmischen verbindet heute wenigstens methodisch Ästhetik und Physik … Das ästhetische Kommunikationsschema erweist sich im Zusammenhang der Zivilisation ebensosehr als Nachrichtenschema wie auch als Spielschema." (4)

Nochmals: In den fünfziger Jahren etablierte sich ja nicht nur der Nierentisch und anderes Modische, sondern auch der ELEKTRONISCHE SCHIRM. Bildlich gesprochen: Im Radarschirm der Zeit entdeckten jüngere Künstlerinnen und Künstler das Material der Technologie. Jenes System der kommunizierenden Röhren, von dem Bense sprach, begann die Grundlagen künstlerischer Gestaltung zu verändern.
ÖKOTECHNOLOGIE
Gleichzeitig mit der Einbeziehung technisch-technologischer Materialien und Instrumente wollen Künstler gegen Ende der fünfziger Jahre auch einen neuen Raum der Natur eröffnen. Natur nicht mehr als Stilleben und Vorlage begriffen, sondern als das Elementare. Die Gestalttechnologie schließt hier mikro- und makrokosmische Räume auf. Es ist nicht die Technologie um der Technologie willen, die von Künstlern aufgenommen und erweitert wird.

Es entwickelt sich ein dialektisches Verhältnis von Technologie zu elementarer Natur, zu den Energiekräften der weiten Räume wie Himmel, Meer, Luft, Wüste. Die Zeit, in der die ersten Satelliten die Erde umkreisen, zeitigt ein Bewußtsein dafür, daß wir unser Natur-Verständnis völlig neu definieren müssen. Das war übrigens von Anfang an auch Programm der Ars Electronica. Erinnert sei hier an die Präsentationen von Sky Art 1980 und 1982 in Linz. Für die Diskussion der rasanten Folgen von Technologie-Innovation einerseits und Umweltbedrohung andererseits möchte ich hier den Begriff der "ÖKOTECHNOLOGIE" zur Diskussion stellen. Ökotechnologie heißt, die Instrumente, Materialien, Prozesse der Technologie so einzusetzen, daß dies im engsten Sinne mit der Natur, nicht gegen sie, daß es mit dem Umwelt-Nahbereich von Pflanze, Tier, Mensch "harmoniert", ebenso mit den weiteren Zonen unseres ökologischen Hauses, ja, mit dem Ganzen der Erde und des kosmischen Raumes. Konkretes Beispiel einer Ökotechnologie ist die Gewinnung von Energie aus Licht, die PHOTOVOLTAIK, die, wie andere Techniken der Gegenwart, den Übergang vom mechanischen Prinzip (etwa der Dampfturbine) zum elektronischen Prinzip vollzieht. Das Licht als schöpferisches Medium zu gebrauchen oder es so zu interpretieren, war älteren Kulturen viel selbstverständlicher als uns. Entkleidet man solche Vorstellungen ihres mythischen und religiösen Inhaltes, dann sind sie absolut zeitgemäß. Sie verweisen auf das kommende, denkbare und vielleicht unumgängliche Solarzeitalter.

Das führt nur scheinbar von der Kunst und hier vom "TERMINAL KUNST" weg. In der Bildkunst dieses 20. Jahrhunderts liegt nicht nur ein Fundus an Expressivität, individuellem Ausdruck, sondern vielmehr ein Fundus an Bedeutungen verschiedener Modelle des Weltverständnisses. Man nehme sich dazu einmal die Bauhaus-Vorlesungen von Paul Klee vor, dem Ökokünstler par excellence.

Was heute ansteht, ist die Einarbeitung der Technologien in unser Weltverständnis, die – nicht nur bildnerische – Überprüfung dieser Technologien im Zusammenhang mit den Gesetzen, den Erscheinungen, den energetischen Kräften der Welt in und um uns. Das wäre ein Thema für eine andere Ausstellung, wenn unsere Ausstellungshäuser nicht so der Historie allein, nicht so den Serviceleistungen der Galerien verfallen wären.
Der "TERMINAL KUNST", wie er sich im Brucknerhaus in Linz zur Ars Electronica 1986 präsentiert, kann nur ein Übergang sein, eine Ausstellungsskizze, ein "work-in-progress". Ich meine aber, es ist aufschlußreich, Gestalttechnologie im Werden, sozusagen "in statu nascendi" vorzuführen. Jeder der Beteiligten weiß um die Beschränktheiten, um die Grenzen, die im Augenblick der Ausprägung einer intensiveren, miteinander vernetzten Kunststrategie gesetzt sind. Finanzielle und apparative Engpässe sind offensichtlich. Persönliches Scheitern ist immer eingeschlossen. Trotzdem:

"Die Reporter der Transformation heißen Künstler", wie der Amerikaner William I. Thompson, Begründer der Lindisfarne Association (ab 1972), in seinem Buch über "Die pazifische Herausforderung" (5) schreibt. Das Kommunikationssystem der vierten Kulturökologie, wie sie Thompson nennt, ist das elektronische. Jeder Versuch, sie darzustellen, und sei er noch so rudimentär, ist deshalb gerechtfertigt.

Die elektronische Kunst vermittelt uns einen Begriff von Wirklichkeit, Natur, Raum und unserem Bewußtsein in diesen, der sich grundsätzlich und qualitativ von den tradierten unterscheidet. Kunst hat die Natur immer gedeutet. Natur wurde durch Kunst und deren Bilder zur Kultur, zur Geschichte damit. Es ist eigentlich selbstverständlich, daß durch die Aufspaltung der Naturwahrnehmung vom mikroskopisch kleinsten zum entferntesten kosmischen Raum, wie wir sie in diesem 20. Jahrhundert vollzogen haben, sich auch die Deutungs-Dimensionen ändern. Am Jahrhundertanfang geschieht die wissenschaftlich-künstlerische Öffnung der Mikrowelten. Als das Abstrakte, als das Konkrete in bildnerischer Praxis und Theorie vom Künstler eingeführt worden war, also im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts, wurde den Mikrowelten der Natur auch bildnerischer Platz eingeräumt. Etwa gleichzeitig vollzog sich das, was Felix Philipp Ingold "einen revolutionären Paradigmenwechsel" nannte, und auf die Formel brachte: "Das tellurische wurde vom planetarischen Bewußtsein abgelöst, der Mensch, der sich nun, mit Hilfe des lenkbaren Fluggeräts, von der Erde abheben, sich in der Luft aufhalten und frei bewegen konnte, geriet unversehens in eine real-aktive, aber auch exzentrisch-relativistische Beziehung zum Kosmos, zu Raum und Zeit." (6) Der Träger im Raum-Zeit-Kontinuum, das sich damit in die Bildkunst einführt, wird die ENERGIE. (Beispiele dafür im frühen italienischen und russischen Futurismus.) Mit dem Begriff der Energie ist möglicherweise der gemeinsame Grundnenner aus den Bereichen natürlicher und künstlerischer Phänomene gegeben. In einem längeren Gespräch, das ich mit Heinz Mack führte, nahm der frühere "Zero"-Künstler zu dem zentralen Energie-Begriff Stellung, einige Sätze daraus sollen hier meine eigene Auffassung untermauern:

"Die moderne Kunst", so Mack, "ist letzten Endes ein Ausdruck von Energie. Das kann psychische Energie sein, Lebensenergie, wie etwa im Bereich des Expressionismus. Das kann visuelle Energie sein, eine Energie der Farbe zum Beispiel … Die künstlerische Idee ist zugleich eine geistige Energie, und sie ist zweifelsohne die anschaulichste von allen geistigen Energien.

Die geistige Energiekrise ist die Ursache aller anderen Krisen. Es fehlt heute an Lebensenergie, an geistiger Energie der Phantasie, der Energie, die sich in einer 'Begeisterung' ausdrückt. Die Folgen, die daraus erwachsen, im normalen Wortsinn 'Energiekrisen', sind sekundärer Natur. Leider glaubt man heute, daß die sekundären Krisen die primären sind. Auf diese Weise wird man die Probleme nicht lösen.

Diese innere, kosmische Konstellation unserer Existenz, in der die künstlerische Existenz als heller Stern erscheint, ist zugleich ein unendliches Bezugssystem von Energien, deren Reichtum unvorstellbar scheint. Innerhalb dieser kosmischen 'Energieversorgung' sind wir nicht verloren, wenn unsere geistigen Energien, wie die Phantasie, in Bewegung bleiben. In diesem Sinne ist es keineswegs blinder Leichtsinn, wenn wir den Mut haben, in den offenen Raum der Zukunft unsere Imaginationen zu entlassen, unsere Hoffnungen dort zu investieren, wo sie allein zur Realität werden können, in der Zeit, in der wir leben, und in der Zeit, die uns entgegenkommt." (7) Will man das, was in einer rasanten Entwicklung von fünf Jahren zwischen 1966 und 1970 auf dem Feld der Interaktion von Kunst und Technologie ausgearbeitet und dann zur Grundlage der gegenwärtigen Gestalttechnologie wurde, auf eine Formel bringen, so bietet sich die DURCH NEUE MEDIEN ERWEITERTE BEWUSSTSEINSERFAHRUNG an. Man kann sagen, die neuen Medien, auch kybernetische Methoden, computergesteuerte Abläufe und Objekte, Intermedia-Theater, Laser, Holographie u.a., wurden wie nach außen projizierte "Organe" eines erweiterten Bewußtseins eingesetzt.

Die Konzeption einer organerweiternden Technologie hing entscheidend mit räumlichen Entwürfen zusammen. RAUM, begrifflich und praktisch, wurde eine wesentliche Dimension. Das ist der Grund, warum diese Diskussion auch in den Zusammenhang mit UMWELTKUNST gehört. Da liegt auch der Ursprung des Gedankens der ÖKOTECHNOLOGIE.

In einem Zeitabschnitt, in dem die elektronischen Medien wie das Fernsehen lediglich die Rolle von Rezensenten übernehmen, kommt der Kunst die Aufgabe zu, diese Medien tatsächlich als schöpferisches Potential einzusetzen. Dem Künstler/der Künstlerin kann das insofern gelingen, als er/sie die Medien unmittelbar an seinen/ihren Erlebnishaushalt koppelt. Er/sie nutzt dadurch auch die ökologische Chance, denn es werden so die Bedeutungen von Beziehungen zwischen den Organismen und der Umwelt erhellt. Es wäre ein Mißverständnis, die ökologische Chance der Kunst nur als eine "grüne Kunst" zu sehen, die mit Naturmaterialien einfacher Art umgeht.

Ökologie entrollt sich im Beziehungsfeld von Räumen verschiedenster Größe. Da die Kunst der Gegenwart, wie erwähnt, die Mikro- wie die Makroräume aufgeschlossen hat und als Erlebnisräume dem Menschen anbietet, liegen auch die ökologischen Strukturen der Kunst in sehr komplexen Beziehungen.

Der Künstler ist der Dissident feststehender, eingerosteter Erfahrungen. Aber er ist der beste Verbündete dessen, der das Erlebnis des offenen Raumes der Natur und der zu öffnenden Räume des menschlichen Bewußtseins sucht. In ihm streiten der reale und der imaginierte Raum. Den realen Raum "filtert" er durch seine Vision. Dieser Vision kann auch ein erweitertes Feld von Medien dienen. Er, der Künstler, war der erste, der sich vor einem halben Jahrtausend des – damals revolutionären – Mediums der Druckgraphik, etwa des Holzschnitts, in diesem Sinne bediente. Er wußte sehr wohl, und er weiß es sehr wohl heute, daß das Druckmedium (wie die elektronischen Medien heute) sogleich dazu herhalten mußte, Staatsmacht zu verbreiten. Er hielt das Medium für seine Vision offen, und damit für die Vision des Betrachters.

Nicht anders heute. Der Künstler kann sich der erweiterten Technologie unserer Zeit bedienen, indem er sie an seine Vision anschließt, damit an eine grundsätzliche menschliche, verbrüdernde Erfahrung.

Gewiß ist es nicht einfach, im Jahre 1986 diese Konzeption einer "sanften" Gestalttechnologie und einer Ökotechnologie zu vermitteln. Denn die Katastrophen der Hochtechnologie, von der explodierenden Raumfähre zum explodierenden Atomreaktor, scheinen all denen Recht zu geben, die den Zauberbesen der Technologie generell schon immer und ohne Differenzierung verdammt haben.

Dennoch: Was in TSCHERNOBYL zusammengebrochen ist, war nicht Technologie schlechthin, aber die hybride, menschenverachtende Großtechnologie. Und gerade davor haben die Frühwarnsysteme der Kunst immer gewarnt.

(1)
Ich darf vielleicht daran erinnern, daß ich den Begriff der erweiterten Kunst bereits vor knapp zwei Jahrzehnten in Linz vorstellte, im Rahmen der Hochschulwoche "Neue Formen der Kunst" (Oktober 1967, Festsaal der Arbeiterkammer). Der Vortrag, begleitet von vier Filmen, hatte das Thema: "Expanded Arts – Wie die Grenzen der Kunst heute versetzt werden." 1970 folgte das Buch "Expansion der Kunst" (rowohlts deutsche enzyklopadie).
Den Begriff "Gestalttechnologie" habe ich in meinem Katalogbeitrag zur Ars Electronica 84 (S. 145 f.) vorgestellt und skizziert.zurück

(2)
Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Düsseldorf/Wien 1968, S 75. (Original: Understanding Media, 1964)zurück

(3)
Bazon Brock, Die Wirklichkeit des Geistes – Was heißt Gestaltung im Zeitalter des Mikrochips? Vom Bauhauskonzept zum "Kommunikationsdesign", in: Richard Kriesche (Hg.), Artificial Intelligence in the Arts, Nr. 1. "Brainwork", Graz 1985.zurück

(4)
Max Bense, Ästhetik und Zivilisation (aesthetica III). Baden-Baden 1958, S. 11.zurück

(5)
William I. Thompson. Die pazifische Herausforderung. München 1985, S. 22 (Original: The Pacific Shift, 1984.)zurück

(6)
Felix Philipp Ingold, Literatur und Aviatik. Frankfurt 1980, S. 15zurück

(7)
Der vollständige Text unter dem Titel: Heinz Mack – Kunst als Ausdruck von Energie, findet sich in "kunstreport" 1'80 (Berlin), S. 11 ff.zurück