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Ars Electronica 1986
Festival-Programm 1986
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Festival 1979-2007
 

 

Ästhetik der geklonten Gesellschaft


'Peter Weibel Peter Weibel

Das Malen mit Zahlen, Kunst mit Hilfe von Ziffern und Programmen stellen einen Vorgriff auf die Techno-Welt der Zukunft dar, sind der Morse-Code der Zukunft. In den ästhetischen Erscheinungsformen kann man zukünftige gesellschaftliche sehen. Die neuartige pictoriale Repräsentation, das mathematisch simulierte Bild der Realität ist nicht nur eine Scheinwelt, eine Spiegelung des Imaginären mit sich selbst, sondern verweist auf die zukünftige Struktur einer geklonten Welt. Die geklonten Bilder der digitalen Werke sind Bilder der geklonten elektronischen Welt der Zukunft.

Wenn in der Sprache der elektronischen Medien das Reale vom Imaginären zerstiebt wird: wir befinden uns an einem Platz zu verschiedenen Zeiten (sehen Wien heute und im Fernsehen gestern), wir sind zur gleichen Zeit überall (in unserem Zimmer und im Fernsehen in Rom), diese Ubiquität und Simultaneität (des Abends sehen wir Bilder vom vergangenen Tag aus aller Welt), so deswegen, weil in unserer Zivilisation das Reale in der Tat immer mehr vom Imaginären durchlöchert wird. Die elektronischen Medien betreiben eine neue Codierung des Bewußtseins, deren Anzeichen wir von der Möbelwelt bis zur Musik feststellen können. Wenn eine Couch die Form der Skyline von Manhattan erhält, ein Schreibtisch die Form einer Treppe, eine Treppe die Form von Marilyn Monroe, eine Wandbeleuchtung das Aussehen eines Flughafens, dann erhalten diese Gegenstände eine neue Codierung, eine ambivalente, mehrdimensionale Bedeutung. Der scheinbare Anti-Funktionalismus von Design-Bewegungen wie Memphis, die Mehrdimensionalität der neuen Architektur und Plastik, die architektonische Modelle, Möbelstücke und skulpturale Module auf der Ebene der Codierung mischt, sind als Reaktionen auf die numerische Sensibilität und Immaterialität der elektronischen Welt zu verstehen.

Die digitale Ästhetik greift also weit über die computererzeugten Bilder hinaus. Die von der digitalen Ästhetik der elektronischen Medien, die solcherart in ihrer Morphologie die Evolution der vorausgehenden Medien, wie Fotografie, Fonografie, Film usw. vorantreiben, geschaffenen Veränderungen des Raum- und Zeitbegriffs, von Ort und Gegenwart, von Imaginär und Real, von Künstlichkeit und Menschlichkeit (eines Tages wird die Kultur so weit fortgeschritten sein, daß der Mensch der letzte Rest an Natur in ihr sein wird) usw. haben gesamtgesellschaftliche Folgewirkungen: der Access/Zugang zur Weit wird persönlicher, die Teilhabe an der Welt wird nicht mehr passiv und bloß repräsentativ sein, sondern interaktiv, die Lesbarkeit der Welt wird eine andere, ein neues audiovisuelles elektronisches Alphabet im audiovisuellen Environment des elektronischen Heimes wird eine neue pictoriale Konversation schaffen, eine demokratische Renaissance kommt auf uns zu.

Die hier aufgezählten Eigenschaften der künftigen sozialen Systeme sind bereits jetzt zum Teil Eigenschaften der digitalen Ästhetik und der Computerkultur. Die mathematische Simulation von Bildern der Realität korrespondiert mit dem computerkontrollierten bzw. -unterstützten bzw. -simulierten Environment (vom Flugsimulator bis zu den Weltmodellen des Club of Rome). Das "responsive Environment", wo Computer unsere Bedürfnisse verspüren und darauf reagieren, ebenso die interaktiven Computer-Environments zielen auf eine Verwirklichung der Individuation, wo nicht wie bei der bisherigen Demokratie durch die Allmacht des Staates ihre Aporie, daß nämlich sie im Grunde eine Diktatur der Individuen wäre, unterdrückt wird, also alle für einen arbeiten, den Staat, der dann wiederum durch die Staatsapparatur eine Art Rückverteilung vornimmt, bei der aber der Staatsbürger von der Macht des Staates und seiner Diener abhängig ist, sondern zielen auf eine interaktive Individualität, wo auch in der Tat alle für einen stehen können, die demokratische Renaissance.
(Aus: Output – Österreich, Sondernummer der Redaktion Output, Wien 1985, S. 10 f.)