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Ars Electronica 1986
Festival-Programm 1986
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Festival 1979-2007
 

 

10 Indizien für das Werden der Computerkultur


'Hannes Leopoldseder Hannes Leopoldseder

Die Ars Electronica COMPUTERKULTUR TAGE haben die Zielsetzung, Möglichkeiten und Konsequenzen des Wandels unserer Kultur und unserer Gesellschaft durch die Basistechnologie Mikroelektronik zu diskutieren, zu erörtern und sichtbar werden zu lassen.

Die explosionsartig verlaufende technische Entwicklung verursacht ein immer größeres Informationsdefizit über die Möglichkeiten, aber auch über die Folgen des Computers für alle unsere Lebensbereiche. Die COMPUTERKULTUR TAGE wollen daher ein Forum sein, in dem Möglichkeiten und Problemstellungen zur Debatte gestellt werden.

Im Mittelpunkt der COMPUTERKULTUR TAGE 1986 im ORF Landesstudio Oberösterreich steht die neue Bildwelt. Die Kunstgattung Video erhält durch die sich aus dem Computer ergebenden Möglichkeiten eine neue Schubkraft. Mit der ORF-VIDEONALE wollen die COMPUTERKULTUR TAGE des ORF zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum in einem extremen Schwerpunktprogramm die Kunstgattung Video dem breiten Fernsehpublikum präsentieren: in einer Fernsehwoche mit anderen Bildern.

Das Bild ist heute zu einem Kampfplatz verschiedener Kulturen geworden. Nicht nur die Wahrnehmung von Wirklichkeit verändert sich, es entsteht eine neue Bildwelt.

Computerkultur wird im weiteren sowie im engeren Sinn verstanden: im weiteren Sinn, inwieweit der Computer unser Leben, unsere Gesellschaft, unser Verhalten verändert, im engeren Sinn, inwieweit der Computer als Werkzeug kulturelle und künstlerische Prozesse sowie künstlerisches Schaffen beeinflußt, inwieweit eine neue Kreativität entsteht. Die Anwendung des Computers im künstlerischen Bereich sowie in den Medien ist untrennbar mit der Gesamtentwicklung verbunden.

Aus diesem Grund soll das Umfeld der Computerkultur mit 10 Indizien umrissen werden, die in keiner Weise vollständig sein können, sondern nur als Denkansätze, Umfelddeterminanten, Impulse zu verstehen sind.

1. DIE COMPUTERKULTUR IST EINE KULTUR IM WERDEN.
Der Computer als Schlüsseltechnologie steht prinzipiell erst am Anfang. Würden wir das Computerzeitalter auf 100 Jahre ansetzen, könnten wir uns vielleicht jetzt im Jahre 10 befinden. Die jetzigen Kindergartenkinder, die mit Videoclips und Homecomputer aufwachsen, werden von Anfang an den Computer als vorhandenes Instrument, als vorhandenes Werkzeug betrachten.

Mit dem Computer werden sie täglich zu tun haben – im Beruf, und in der Folge auch zu Hause. Es entwickelt sich eine Kultur, die durch den Computer wesentlich geprägt wird, in den Erfordernissen, aber auch in den Möglichkeiten. Wenn die Computerkids von heute Großväter sind, ist die Computerkultur vielleicht in der ersten Blüte.
2. DIE COMPUTERKULTUR ERFORDERT EIN NEUES ALPHABET, EINE NEUE SPRACHE, EIN NEUES DENKEN.
Der Computer hat als Werkzeug ein neues Alphabet, eine neue Sprache gebracht, das binäre Alphabet, das binäre Denken. Der Computer entwickelt eine Sprache für sich, eine eigene Computersprache. Kaum eine andere technische Schlüsselinnovation hat in Quantensprüngen ein derartig neues Spektrum an Ausdrücken, Begriffen, etc. hervorgebracht. Die Kinder, die mit dem Computer aufwachsen, lernen die Sprachen der Computer wie andere Fertigkeiten. Sie wachsen mit dem Computeralphabet auf.

Durch den Computer entsteht eine neue Sprache. Bei technischen Diskussionen über den Computer werden Begriffe verwendet, die sonst nur zur Bezeichnung menschlichen Denkens und Verhaltens verwendet werden. Der Computer entwickelt einen eigenen Jargon, es ist der Jargon des Denkens. Neue Worte, z.B. umprogrammieren, gehen nahtlos in die Umgangssprache über.
3. COMPUTERKULTUR ERFORDERT DIE COMPUTER-ALPHABETE LERNGESELLSCHAFT
Im Vergleich zu anderen technischen Innovationen handelt es sich beim Computer um eine Maschine mit intelligenten Produkten. Im Mittelpunkt steht die Information, das Wissen. Neue technische Entwicklungen hat es bereits immer gegeben, aber wirklich neu ist die rasche Folge dieser Quantensprünge. Die Änderung, die der Computer bewirkt, macht das Verstehen des Computers, seiner Sprache, seines Denkens, seines Alphabets notwendig. Wir leben in einer Umbruchszeit im wahrsten Sinn: Daher weist die Computerkultur in unserer Gesellschaft Pro und Contra auf: Auf der einen Seite die Anhänger, die Computer-Alphabeten, auf der anderen Seite die Gegner, die Computer-Analphabeten. Daher erfordert der Computer ein ständiges Lernen.

Im Jahrhundert des Umbruchs läßt die Computerkultur vorübergehend Eliten entstehen: Nach der Erfindung des Buchdrucks entstandene Eliten – jene, die des Alphabetes mächtig waren. Um sich des Mediums "Buch", des geschriebenen Wortes, zu bedienen, ist die Fähigkeit des Lesens eine Voraussetzung: Der alphabete Mensch. Die Weitergabe des Alphabets und damit die Verringerung der Eliten – hat sich im Laufe der Jahrhunderte vollzogen: Allerdings sind auch heute auf der Erde nur etwas mehr als die Hälfte der Menschen Alphabeten. Während für die Vermittlung von Wissen über den Buchdruck die Fähigkeit des Lesens Voraussetzung ist, machte die nächste große Medieninnovation nach dem Buch, das elektronische Medium Fernsehen, durch seine Bildwelt letztlich Wissen wiederum ohne Voraussetzungen zugänglich.

Durch den Computer wiederum, als Medium betrachtet, besteht eine neue Möglichkeit, sich Wissen anzueignen: Hier ist, ähnlich wie vor 500 Jahren beim Buchdruck, die Kenntnis des Alphabets notwendig. Die Kenntnis des Computer-Alphabets Wer der Sprache der Computer mächtig ist, zählt daher zu einer Elite, zu einer Elite, die ständig im Wachsen ist.

Gerade das Nebeneinander von zwei Klassen, nämlich den Computer-Alphabeten und den Computer-Analphabeten im Umbruchsjahrhundert der Schlüsseltechnologie Mikroelektronik, bringt alle Probleme mit sich, die derzeit die Diskussion in unserer Gesellschaft, in der Wirtschaft, über die Einführung der neuen Technologien beherrschen. Die Bedrohung des einzelnen durch neue Technologien, die Furcht vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, das Ausgeliefertsein nicht einsichtigen globalen Systemen.

Das Benutzen-Können des Computers ist aber nicht gleichzusetzen mit der einfachen Fähigkeit, Lesen und Schreiben zu können. Das Computer-Alphabet ist viel komplexer: es geht um das Gesamtverständnis über die Wirkungsweise des Computers. Das Computer-Alphabet ist mehr als die Fähigkeit des Nutzen-Könnens, es ist das Gesamtverständnis, in besonderer Weise dann, wenn die Computer der 5. Generation de facto intelligente Maschinen sein werden.

Das Computer-Alphabet erfordert nicht den Mathematiker, den ausgebildeten Rechenkünstler, sondern den Homo Universalis.
4. DIE COMPUTERKULTUR ERFORDERT DIE NEUSTRUKTURIERUNG VON ARBEIT, FREIZEIT, GESELLSCHAFT
In unserer Zeit leben wir in einer Phase, in der es nicht um die Weiterentwicklung von bestehenden Erfindungen geht, sondern um den Wechsel zu neuen Techniken. Wenn z.B. mechanische Steuerungen jahrzehntelang verfeinert wurden, bringt der elektronische Regler plötzlich den Übergang in eine neue Ära, hebt aber gleichzeitig die Arbeit von Jahrzehnten auf. Der Computer ersetzt in der mechanischen Arbeit weite Bereiche.

Die Computerkultur ist daher gekennzeichnet durch den einschneidenden Wechsel im Arbeitsleben, damit in der Wirtschaft und in den Auswirkungen auf die Freizeit, auf unser Leben. Wie jede Umbruchsperiode bringt auch die sich abzeichnende Computerkultur mitunter drastische Auswirkungen für einzelne mit sich – den Verlust des Arbeitsplatzes, die Veränderung im Arbeitsbereich, die Forderung des Umlernens im Beruf.
5. DIE COMPUTERKULTUR ERFORDERT DEN BILDSCHIRM ALS ZENTRALES GERÄT IN HEIM UND BÜRO
Das signifikante Universalgerät der Computerkultur ist der elektronische Bildschirm. Der Bildschirm ist das Haustier der Computerkultur – im Heim wie im Büro. Aus dem Fernsehschirm ist das universelle Kommunikationsmedium des Informationszeitalters geworden, der elektronische Schirm ist das Papier des Gutenberg-Zeitalters.

Seine Anwendung ist nahezu unbegrenzt. Der Bildschirm ist auch zu einem neuen Medium für den Künstler geworden.
6. DIE COMPUTERKULTUR ERMÖGLICHT EINEN NEUEN TYP DES KÜNSTLERS
Wer den Begriff Künstler verwendet, denkt primär an den Maler, Komponisten, Architekten, Dichter, Schauspieler oder Sänger. Der Computerprogrammierer wird zu einem neuen Künstlertyp. Sein Potential ist die Kreativität. Seine Kunst kann das Programm sein. Die Software ist die heißeste Ware der Computerkultur, das Produkt eines kreativen Prozesses.

Wenn ein Maler, Designer, Komponist, Grafiker in seinem künstlerischen Bereich als Computerprogrammierer tätig ist, erhält er im Computer nicht nur ein neues Werkzeug, sondern der Computer erfordert ein neues Denken. Der Computer ermöglicht einen neuen Typ des Universalkünstlers – im Denken eines Leonardo da Vinci.
Das mathematisch-logische Denken ist genauso wie die künstlerische Idee integrierender Bestandteil des künstlerischen Prozesses. Ausgehend vom Programmierer schafft und ermöglicht daher die Computerkultur einen neuen Künstlertyp, wobei auch konventionelle Grenzen, wie z.B. Komponist und Musiker im Computermusiker, zum Teil aufgehoben werden.
7. DIE COMPUTERKULTUR ERMÖGLICHT EINE NEUE BILD- UND KLANGWELT
"Neue Instrumente und neue Technologien", sagt Pierre Boulez in einem Newsweek-Interview 1986, "bringen etwas in die Musik, das vorher nicht da war". Der Computer ermöglicht in der Musik eine neue Klang- und Tonwelt. Die revolutionärste Auswirkung allerdings hat der Computer auf die Bildwelt: Das vom Computer erzeugte Bild beinhaltet eine neue Wirklichkeit. Es geht um die Schaffung einer neuen Bildrealität.

Die elektronische Bilderzeugung war jahrhundertelang der Traum von Künstlern: ein Bild bewegen zu können, ein Bild verändern zu können, einem Bild eine dynamische Dimension geben zu können. Durch die Verbindung von Video- und Computergraphik sowie von Fernsehtechnik und Computer entstehen neue Möglichkeiten für den Künstler, es entsteht eine neue synthetische Bildwelt. Die synthetischen Bilder haben einen eigenständigen Realitätsgrad, sie sind das Produkt der digitalen Bildschöpfung. Fernsehen liefert uns eine sekundäre Wirklichkeit, und zwar eine Wirklichkeit, die aus den Bausteinen der primären Wirklichkeit besteht.

Das durch den Computer erzeugte Bild schafft hingegen eine eigene, primäre Bildwelt, die in unserer Realität nicht existiert: die Bildwelt der Computerkultur wird selbst zur primären Wirklichkeit. Es handelt sich dabei nicht mehr um Bausteine einer realen Wirklichkeit, sondern um eine synthetisch gestaltete neue Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit im dreidimensionalen Raum, in jeder denkbaren Bewegung, Dynamik und Veränderung.
Für die Schaffung der neuen Bildwelt ist die Verbindung von Video und Fernsehen, Computergraphik und -Animation eine wesentliche Voraussetzung. Aus dem Zusammenwirken dieser Bereiche entsteht eine neue Bildwelt, geschaffen von Medienkünstlern.
8. DIE COMPUTERKULTUR ERMÖGLICHT NEUE NETZWERKE
Der Computer ist eine Meta-Maschine, eine metaphysische Maschine, wie ihn Sherry Turkle nennt. Als universelle Maschine ermöglicht er neue Kommunikationsmöglichkeiten, neue Netzwerke. Die Welt der Computerkultur wird von globalen Netzwerken umzogen, die Distanzen verändern sich, Raum und Zeit werden in neue Relationen gebracht.

Die Computernetzwerke ermöglichen durch die Verbindung von Computer, Datenleitungen, Satelliten eine völlig neue Kommunikationsebene. Die globalen Netzwerke stecken in den Kinderschuhen, Telekommunikation, electronic mail, Telekonferenzschaltungen etc. schaffen einen neuen virtuellen Raum, der das Leben in der Computerkultur prägt – voll Chancen, aber gleichzeitig voll von Bedrohung.
9. DIE COMPUTERKULTUR ERMÖGLICHT NEUE MEDIEN
Der Computer etabliert sich in der Computerkultur als universelle Maschine, die alle Medien beinhaltet, alle Medien integriert und neue Medien ermöglicht. Erst aus dem Zusammenwirken der Medien entstehen in Quantensprüngen neue Möglichkeiten. Die magnetischen Speichermedien sind erst am Anfang. Sie können für die elektronische Information das werden, was beim Papier der Bleistift ist.

Die CD-ROM-Platte kann zu einem neuen Kulturträger neben dem Buch werden. CD-Platten können in der Zukunft einmal wesentliche Funktionen des Buches übernehmen. Die CD-Platten werden zu den Datenspeichern für jedermann. Lexika, Enzyklopädien, Bibliotheken werden für jedermann über die Entwicklung der Speichertechnik des Computers zugänglich.
10. COMPUTERKULTUR ERMÖGLICHT NEUE KUNST- UND KULTURERLEBNISSE
Der Computer als universelle Maschine wird in nahezu allen Bereichen der Kunst als Werkzeug wirksam. In der Musik, der Literatur, im Theater, im Film es entstehen neue, bisher nicht mögliche Kulturereignisse.

Der Computer als Werkzeug verursacht gerade wegen seiner Universalität als Meta-Maschine eine Revolution, da er letztlich in allen Bereichen der Kunst und Kultur wirksam wird. Das Spektrum reicht von der neuen Bildwelt, der neuen Klangwelt, bis zu multimedialen Medien- bzw. Videotheatern, und zu Großprojekten im offenen Raum. Es entsteht und entwickelt sich eine neue Umweltkunst, neue Ereignisse im offenen Raum – das Spektrum reicht in Österreich von den Open-air-Ereignissen der Linzer Klangwolke bis zu André Hellers "Feuertheater" oder den Großereignissen von Jean-Michel Jarre. Das 5-Millionen-Dollar-Multi-Media-Spektakel anläßlich 25 Jahre NASA in Houston 1986 kommentiert Jean-Michel Jarre so: "Die Computer sind nicht nur wesentlich bei diesem Ereignis, um die technischen Funktionen zu gewährleisten, sondern der Computer ist das Instrument schlechthin, mit dem dieses Ereignis geschaffen werden kann."