Gesänge des Pluriversums
'Peter Weibel
Peter Weibel
mit Parallel re:Visions von Henry Jesionka Musik: Bruno Degazio Dieses Video ist vor allem eine Plastik. Jedoch nicht in den klassischen Materialien und Substanzen wie Marmor, Holz und Fett, sondern im relativ substanzlosen, immateriellen elektronischen Medium. Als solche artikuliert sie nicht den vergangenen Raum klassischer Vorstellungen mit seinen konstanten Größen, sondern die künftige relativistische elektronische Raumzeit. Anders als bei den Skulpturen aus Holz und Eisen, wo Raum und Zeit gefroren sind, wo die räumlichen und zeitlichen Beziehungen unveränderliche Größen bleiben, sind in elektronischen Skulpturen die räumlichen und zeitlichen Beziehungen veränderbar, da in ihnen nicht nur die Bilder, sondern auch die Bildinhalte selbst beweglich sind, und zwar vollkommen unabhängig voneinander.
Diese relative und veränderbare Größe der Dinge im Bild selbst, die ich Skalierung nenne, ermöglicht es, die Objekte der Welt beliebig zu verkleinern und zu vergrößern; als frei flottierende Zeichen des Raums kann ich sodann diese Objekte beliebig verschieben und in eine neue Art von Mikro- bzw. Makro-Architektur verwandeln. Alle Objekte werden frei verfügbar, in ihrer Größe veränderbar und in jeder Position einsetzbar. Die Elemente der Landschaft und der Stadt werden zu Mikrochips des Raumes. In der elektronischen Skulptur. Zum Beispiel der größte Wasserfall der Welt (die Niagara-Fälle) in der Kaffeetasse, die Kontinente als Wolken hinter der Skyline. Diese imaginären, künstlichen Landschaften schaffen neue räumliche Beziehungen, wo der gesamte Code des Raumes verfügbar und solcherart zu einem All-Raum (in Parallele zum Raum-All) wird. Desgleichen tendiert die Bewegung in den Bildern – ihre Gestalt in der Zeit, ihr Rhythmus, der sich wiederum nicht auf das Bild selbst und seinen Schnitt beschränkt, sondern auch für die zeitliche Gestaltung der Bildelemente selbst gilt, für ihre Wiederkehr und ihren Wandel -, zu einem Zeitbegriff, wo ebenfalls alle Zeitelemente frei verfügbar sind. Diese All-Zeit, in der die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft virtuell gleichwertig sind und in einer universalen Simultaneität zusammenfließen, in einem infiniten Jetzt, korrespondiert also mit dem All-Raum, dem infiniten Hier. Die elektronische Plastik artikuliert also jene neue Raumzeit, welche die elektronischen Medien eingeführt haben, visualisiert einen neuen piktorialen Raum.
Diese elektronische Raumzeit ist das Ergebnis der dritten Kommunikationsrevolution, der elektronischen eben oder sogenannten Computer-Revolution. Zu den Kernen dieser elektronischen Revolution gehören die Erfindungen von Transistor (1947) und Integrated Circuit IC (1958), mit dem die mikroelektronische Revolution beginnt, die sich dadurch auszeichnet, daß Operationen, die früher enorm viel Zeit und Raum beanspruchten, nun in Bruchteilen von Sekunden und – durch in der Tat fotografische Verkleinerungs-Prozeduren – auf Bruchteilen von Zentimetern ausgeführt werden können. Ein IC oder Chip oder Mikrochip ist ein winziges Stück Silikon, auf dem mit Hilfe von Fotomasken manchmal in 15 Schichten (layers) bis zu 500 Chips oder 500.000 Komponenten gedruckt werden, so daß es elektronische Signale manipulieren kann, d.h. Hunderttausende Bits von Informationen speichern und Millionen von Operationen durchführen kann. Wenn also ein Chip dem Foto einer gigantischen Stadt, aufgenommen aus der Luft, ähnelt, so ist das ein reales Modell und Metapher zugleich für die Kompression von Raum und Zeit im elektronischen Zeitalter. Diese MikroElektronik hat auch die Voraussetzungen für die Eroberung des Weltalls mittels Space Shuttle etc. geschaffen. Der gleichzeitige Vorstoß in Mikroelektronik und Makrokosmos konnte im Juli 1969 am Beispiel der Mondlandung durch ein einziges Bild überwältigend erkannt werden. Aus dem Fenster (eine Art natürlicher Bildschirm) blickend sah ich den Mond, weit entfernt und immens verkleinert, und gleichzeitig sah ich auf dem TV-Schirm eine riesige Vergrößerung eines winzigen Teiles eben dieses Mondes. Diese Kollision natürlicher und künstlicher Bilder, natürlicher und elektronischer Raumbilder, wo Kirchengewölbe, in denen Hunderte Wohnzimmer Platz hätten, nun auf dem winzigen Bildschirm des Wohnzimmers erscheinen, kleiner als die Blumenvase, die sich oft auf dem TV-Apparat befindet, und wo in die Jetztzeit meines Zimmers mittels der elektronischen Bilder immer wieder Ereignisse der Vergangenheit evoziert werden, kennzeichnen auf dominierende Weise unsere Raum- und Zeiterfahrung im Zeitalter der Medienkultur. "Die Gesänge des Pluriversums" sind also eine Art metaphysisches Gedicht über die elektronische Raumzeit der Medienkultur und der dritten Kommunikationsrevolution.
Der Mikrochip ist durch die Verkleinerung von Raum und Zeit, die gleichzeitig eine enorme Ausdehnung seiner Kapazität bedeuten, zu einer Metapher und einem Modell für die elektronische Welt geworden. Die Struktur des Mikrochips überträgt sich auf fast alle Lebensformen, denn so vieles ist kleiner geworden. Der Mikrochip ist also das eigentliche Monument unserer Zeit. Der neue piktoriale Raum, das ist die Darstellung des Raumes in Bildern, muß dieser im Vergleich zum natürlichen Raum verzerrenden Kompression des Raumes und collagehaften Verschiebung der Raumsignifikanten visuellen Ausdruck verleihen. Das ist es, was man Formalismus des neuen piktorialen Raumes in der elektronischen Kunst nennen könnte. Zumal soll eine Kunstform, die wie dieses Stück elektronisches Kino der elektronischen Revolution selbst ihre Existenz verdankt, die durch die elektronische Kommunikationsrevolution veränderte Raum- und Zeiterfahrung visualisieren.
Unsere visuelle Ode an das Pluriversum ist nämlich ein Stück elektronisches Kino, das sich aus mehreren Teilen zusammensetzt: aus Videoaufnahmen, aus Fotografien, aus Filmaufnahmen und digitalen Bildern. Die Filmaufnahmen wurden mittels eines optischen Printers verändert, manche Videoaufnahmen mittels des Fairlight Video Computer Instruments. Alle Teile wurden also schon auf verschiedenen Vorstufen digital nachbearbeitet, bevor sie insgesamt auf Video transferiert wurden und noch einmal digital (mit ADO, Quantel etc.) nachbearbeitet wurden. Die elektronische Skulptur reflektiert also die realen sozialen Veränderungen, welche der technologische Fortschritt in der Eroberung des Raumes und der Zeit, im Transport- und Kommunikationswesen bewirkt hat. Wenn ein Satellit die Erde in 90 Minuten umkreisen kann, wofür man früher 80 Tage oder Monate gebraucht hat, wenn die Fahrt mit dem Taxi zum Flughafen länger dauert als der Flug von einem Land ins andere, dann werden Kontinente zu Keksen und Städte blähen sich auf zu Gebirgen. Wenn ich im Luftraum, der dem Menschen fremd ist, schneller bin als im Erdraum, dem natürlichen Ort des Menschen, dann muß ich vorerst die Idee des natürlichen Ortes, des natürlichen Raumes und der natürlichen Zeit aufgeben und zugeben, daß unser Lebensraum schon längst durchsetzt ist von künstlichen Zeit-Kompressionen, von Raum- und Zeitverkleinerungen, von paradoxen Mikrochips und Makromodulen der Zeit und des Raums. In dieser sich ständig gegenseitig durchquerenden Liliput-Welt der Zeit und des Raums, wo sich gelegentlich Subräume und Subzeiten in Makrowelten verwandeln, ist auch die Vorstellung eines einheitlichen einzigen Uni-Versums kaum mehr haltbar.
Denn das Große erscheint klein und das Kleine groß, das Entfernte wird nah und Stunden werden zu Minuten. Diese Relativität von Raum und Zeit wird in der elektronischen Skulptur visualisiert. Es wird die erfahrene Zeit, die neue Erfahrung von Raum und Zeit innerhalb der technologischen Kommunikation "besungen". Die visuelle Akzentuierung der veränderten sozialen Realität, der neuen Stadterfahrung, der neuen Welterfahrung, durch die von der Techno-Revolution geschaffenen elektronischen Raumzeit läßt unser Videowerk wegen der Gleichzeitigkeit und gegenseitigen Bedingtheit der Eroberung von Mikro- und Makrokosmos auch als eine Art kosmologischer Ode erscheinen. Dieses Paradox, sowohl eine Ode über den Kosmos wie über den IC zu sein, löst sich in den Versen eines erlauchten Ahnen:To see a World in a grain of sand, And a Heaven in a wild flower, Hold Infinity in the palm of your hand, And Eternity in an hour.
William Blake Blake's Verse veranschaulichen auch den metaphysischen Atem, der die formale Diskussion der elektronischen Raumzeit durchweht. Blake's Verse sind auch Gesänge an das Pluri-Versum. Sie sprechen von der metaphysischen Sehnsucht, die dem Suchen nach einem Pluriversum und dem Aufbrechen des Uni-Versums zugrunde liegt. Denn wenn eine Stunde gleichzeitig die Ewigkeit sein kann, dann bedeutet das, daß es mehrere Welten nebeneinander geben muß. In der einen Welt ist das Sandkorn ein winziger Teil des Kosmos, in der anderen Welt ist das Sandkorn selbst ein Kosmos. Das Reich der Dinge und Erscheinungen unterwirft sich nicht nur einem Gesetz. Das Reich des Gesetzes reicht nur für eine Welt. In einer anderen Welt gelten andere Gesetze. Wer also dem Reich des Gesetzes entfliehen will, wechselt die Welt. Nur wer für ewig unter dem Gesetz des Vaters stehen möchte, erträumt sich nur eine Welt, das Uni-Versum. Die Utopie erhofft sich eine Pluralität von möglichen Welten, wovon die unsere nur eine mögliche ist.
Schon Leibnitz, nicht von ungefähr der Erfinder des binären Zahlensystems, der epistemologischen Voraussetzung für den Computer, hat die Idee einer Unendlichkeit von möglichen Welten als logisch konsequent vorgetragen. Als Anhänger des Gesetzes jedoch konnte er natürlich die freie Wahl beliebiger möglicher Welten, das hieße ja auch die Veränderung der bestehenden Welt in eine andere mögliche durch revolutionäre Aktionen, nicht legitimieren, sondern mußte sie im Gegenteil dem obersten Gesetz, nämlich Gottvater selbst überlassen. Dieser wählte die unsrige Welt als die beste aller möglichen Welten für uns aus. Voltaire hat diesen Kompromiß in "Candide oder die beste aller möglichen Welten" leidlich verspottet. Wes Geistes Kind die Vertreter jener Auffassung sind, daß nur eine einzige Art des Universums möglich ist, nämlich die unsrige, erkennt man schon an den Titeln ihrer Bücher, z.B. "Fitness of the Environment" (1913) und "The Order of Nature" (1917) von Lawrence Henderson. Eine Hypostasierung kapitalistischen Monopol- und Herrschaftsdenkens ins Kosmologische. William James war einer der ersten, der um die Jahrhundertwende die Idee eines letzten einzigen Universums verwarf: "A Pluralistic Universe" erschien 1909. Sein Freund, der amerikanische mystische Anarchist Benjamin Paul Blood veröffentlichte 1920 das Buch "Pluriverse". Aufgrund der Widersprüche der Quantenmechanik und des Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxes hat aber die Idee einer Unendlichkeit von Universen, von parallelen Welten und "many-worlds interpretations" unter führenden zeitgenössischen Kosmologen und Physikern wie John A. Wheeler, Stephen Hawking einen ungeheuren Aufschwung genommen.
John D. Barrow und Frank J. Tipler schreiben gar: "The Many-Worlds Interpretation may well eventually replace the Statistical and Copenhagen Interpretations just as the Copernican system replaced the Ptolemaic …" (The Anthropic Cosmological Principle, 1986). Die neueste kosmologische Theorie, das Inflationäre Universum, von Alan H. Guth, Paul J. Steinhardt, A.D. Linde und anderen, unterstützt auf vielfältige Weise mit neuen Ideen die Vorstellungen eines Pluriversums. Im inflationären Modell des Universums scheint es möglich, daß das beobachtbare Universum sich aus einem infinitesimalen Bereich entwickelt hat, also fast aus Nichts. Daher haben die Konservationsgesetze, welche behaupten, daß gewisse physikalische Größen wie Energie, lineares Momentum etc. nicht veränderbar sind, keine ewige Gültigkeit mehr. Unser beobachtbares Universum ist auf alle Fälle nur ein sehr kleiner Teil des ganzen Universums und es ist deswegen wahrscheinlich sehr unmöglich, die Struktur des Universums als Ganzes zu beobachten. Es ist aber durchaus möglich, daß in den ersten Bruchteilen von Sekunden der Entstehung des Universums aus dem Nichts durch die "big bang"-Explosion sich auch andere Universen als unser sichtbares formiert haben, wie Blasen in einem Selterwasser. Siehe auch "On the plurality of World's" von David Lewis (1986).
Die Sehnsucht nach einem Pluriversum, die Suche nach neuen possiblen Welten, ist also in dem Begehren begründet, die tödlichen Konflikte der alten Welt zu lösen. Insoferne spiegeln sich im pluriversistischen Modell der Welt nicht nur von der Technologie geprägte neue Raum- und Zeiterfahrungen, nicht nur neue kosmologische Prinzipien, sondern auch neue Vorstellungen von der gesellschaftlichen Wirklichkeit und condition humaine. Die Medien- und Techno-Welt schafft mehrere modale parallele Welten in der "realen" Welt.
Nicht nur neue kosmische Horizonte sollen eröffnet werden, sondern auch neue soziale. Insbesondere stünde es einem Werk, das sich für die Absage an die Idee eines einzigen Universums mit einem einzigen Gesetz einsetzt, nicht gut an, wenn es von einem einzigen allmächtigen Schöpfer hervorgebracht wird, sondern auch im Werk selbst sollen sich parallele Welten und Re-Visionen spiegeln. Im pluriversistischen Werk sollten mehrere Stimmen zu Wort kommen, nicht nur der Monolog eines gottähnlichen Autors. Die Fiktion des autonomen Ichs wird in einem Polylog aufgegeben. Die Autorität des Autors wird abgesetzt, die Autonomie des Autors zersetzt. Die Problematisierung der Autorenschaft, wie sie in der Postmoderne diskutiert wird und die sich aus der kollektiven Produktion der maschinellen Medienkunst ergibt, muß Bestandteil eines pluriversistischen Modells sein. Daher habe ich Henry Jesionka, der mit mir in diesen Fragen übereinstimmt, eingeladen, diese Arbeit gemeinsam zu leisten.
In dieser sichtbaren multiplen Autorenschaft spiegeln sich aber wiederum nicht nur die multiplen Modelle des Pluriversums, sondern auch die zeitgenössischen Bedingungen der dritten Kommunikationsrevolution. Wenn Firmen-Imperien von Hunderttausenden Stockholdern bzw. Aktionären getragen werden, wer ist dann der verantwortliche Eigentümer? An den kollektiven Kunstformen des 20. Jahrhunderts wie dem Film kann man ermessen, wie sehr in der technologischen Zivilisation der Begriff des Autors und der Autonomie einer Transformation unterworfen wurden. Soll nicht ein Kunstwerk dieser Zivilisation dieser Transformation Rechnung tragen und im Werk selbst die gesellschaftlichen Veränderungen des Subjektbegriffs spiegeln? Wo allenthalben das Schiff der Souveränität sinkt? Die Diktaturen des Ichs im kapitalistischen Wettstreit, wo jedes Ich selbst König und Souverän sein will, nähert sich dem Ende. Das neue ich-lose Subjekt erfreut sich der Emanzipation der Partialtriebe, welche von der Technologie vorangetragen worden ist. Der absolute hierarchische Standpunkt der feudalen Gesellschaft löst sich auf. Von der Einfalt zur Vielfalt: die multiplen Bilder und Modelle des Pluriversums. Das Universum mit seiner VerHERRlichung des einzig gültigen Standpunktes und Schöpfers (Gott) und seinen einzig gültigen konservierenden absoluten Gesetzen verwandelt sich in eine pluriverse und perverse Welt vieler Standpunkte. In der Kette binärer Ambivalenzen erhält allerdings die feudale Gesellschaft ein neues Gesicht: die Hyperrealität der Medien-Aristokratie. Das Meer, auf dem das sichere Schiff untergegangen ist, ist bodenlos. Eine künstliche Lehnrealität ist der Schatten des friedlichen Ausgangs im Spiel der Monopole. Die Duplizität der Medien wird nicht nur zur Verbreitung der Wahrheit, sondern auch zu ihrer Vereitelung beitragen. Die Erde wird eine einzige Stadt mit Parks so groß wie Teneriffa. Solche Inseln werden die Konzentrationslager der Erholung. Nach der Uniformität der Arbeit auch die Uniformität der Freizeit. Die Seele verschwindet im corporate heaven. Die religiöse lkonographie verwandelt sich in die Logographie der Firmengesellschaft von heute. Perverse und pluriverse Welt, multiple Verse, Cantos des Pluriversums.
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