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Ars Electronica 1986
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Video-Visionär (über John Sanborn)


'Hal Strickland Hal Strickland

In den frühen achtziger Jahren, als die Musik-Videowelle die USA mit voller Macht erreichte, dachte John Sanborn, er würde darin eine wichtige Rolle spielen. Er hatte sich ja schließlich einige Zeit zuvor bereits in der New Yorker Welt der Avantgarde-Musik/Videokunst mit seinen technisch-innovativen Video-Stücken etabliert, die mehr oder weniger regelmäßig in den Untergrundlokalen der Stadt aufgeführt wurden.

Der dreißigjährige Sanborn erklärt: Als MTV erstmals auf Sendung ging, dachte ich, daß ich nur meine Ideen des visuellen Summens, und der Abstraktion zu den Plattenfirmen zu bringen brauchte und die Menschen würden meine Arbeiten sehen, sie würden zunächst einmal fragen 'Was soll das?', dann 'Na, sowas!' ausrufen aber so kam es nicht." Das Konzept des "visuellen Summens" beruht auf Sanborns Überzeugung, daß Video so vollständig sein sollte wie die Melodie, mit der es sich auseinandersetzt … Wenn es gelingt, die visuelle Wirkung so schwer faßbar zu machen wie die Musik, müßte der Betrachter weggehen und das Gesehene "summen" …

"WENN MAN DIE VISUELLE WIRKUNG SO SCHWER FASSBAR MACHEN KANN WIE DIE MUSIK, WIRD DER BETRACHTER IM WEGGEHEN DAS GESEHENE 'SUMMEN'."
Sanborn, dessen Interesse an Video sich erstmals Mitte der siebziger Jahre manifestierte, als er in Paris Film und Kunst studierte, wurde vergangenes Jahr von "Cahiers de Cinéma", der bedeutendsten Filmzeitschrift, als "unerreichter Meister des Mediums Video … als der vielleicht bedeutendste Künstler, der heute mit Video arbeitet", bezeichnet. Berühmt wurde er durch Werke wie die siebenteilige Dreieinhalbstundenoper "Perfect Lives", die Sanborn selbst als "eine Art von 'Dynasty' auf Säure" bezeichnet und die er gemeinsam mit dem Komponisten Robert Ashley für Channel Four in London geschaffen hat.

Ein weiteres bemerkenswertes Werk ist "Act III", ein Sechsminutenstück, geschaffen in Zusammenarbeit mit dem Ingenieur Dean Winkler und dem Komponisten Philip Glass. Dieses Werk wurde kürzlich im Musik-Video-Schaukasten des Museum of Modern Art gezeigt; es benützt in außerordentlich artikulierter Art und Weise das ADO (Ampex Digital Optics)-System. Zur gleichen Zeit arbeitete Winkler bei VCA Electronics, wo er und Sanborn etwa 300 Stunden aufgezeichnet hatten, woraus sich die erstaunlichen Videobilder von "Act III" entwickelten.

Noch steht Sanborns breite Anerkennung durch das Establishment des Populärmusik-Videos aus, doch hat er bereits im Auftrag von Plattengesellschaften Clips mit Künstlern wie Glass, Grace Jones, Adrian Belew und Jim Capaldi produziert. In Japan jedenfalls ist Sanborn so bekannt, daß Pioneer Artists Laser-Disc ihm in diesem Frühjahr eine 60–Minuten-Zusammenfassung seiner Arbeiten als erstes Produkt in der geplanten Serie "Video Art Disc" angeboten hat. Sanborn selbst stellt fest, daß die Japaner nicht nur von der neuesten Video-Hardwaretechnologie "besessen" sind, sondern auch Software aus allen Teilen der Welt mit gleicher Begeisterung begrüßen. "Es ist diese De-Kategorisierung, die dazu führt, daß sich Video hier so gut verkauft. In Tokio war die am öftesten an mich gestellte Frage 'Was ist das neueste Medium?'".

Im vergangenen Sommer hat Sanborn die Regie bei einer 23–Minuten-Fernsehfassung von "Sister Suzie Cinema" des Theaterdirektors Lee Breuer geführt; dieses Stück wurde für die PBS-Serie "Alive from Off Center" geschaffen. Es ist dies eine Art Phantasieoper über das Kino, mit der Fünf-Mann-Band "Fourteen Karat Soul" aus New Jersey, mit Originalmusik des Komponisten Bob Telson. Sanborn schuf auch die Computergraphiktitel für die PBS-Serie zur Musik von David Byrne.

Eine Schlüsselrolle in all diesen Projekten spielte stets Sanborns Produzentin und Ehefrau Mary Perillo. Die beiden begegneten einander vor mehr als drei Jahren, als Sanborn sie für die Mitarbeit an seinem Projekt "Perfect Lives" engagierte. Seit diesem Zeitpunkt produziert sie alle seine Werke und war kreativ an der Entwicklung der Eröffnungssequenz von "Alive from Off Center" beteiligt. Perillo sagt über ihre Rolle in dieser Partnerschaft: "Meine größte Aufgabe ist es, Johns Ideen in Dollars und Cents umzusetzen und, wenn das gelungen ist, diese Ideen an die Dollars, die wir für die Arbeit bekommen, anzupassen." In jüngster Zeit haben die beiden ziemlich viel Werbearbeit gemacht. Sie haben gerade eine fünfzehnminütige Video-Installation für ein neues Coca-Cola-Bekleidungsgeschäft in der Columbus Avenue in Manhattan fertiggestellt. Das Geschäft hat im Verkaufsraum selbst keine Kleider, sondern nur riesige Bildschirme, auf denen Sanborns Arbeit gezeigt wird. Auch gerade fertiggestellt wurde ein 72.000 Dollar teures vierminütiges Industrievideo für MCI communications.

Sanborn, der fast ausschließlich mit Video arbeitet, ist inzwischen zu einem philosophischen Seher der Video-Möglichkeiten geworden. (Ein Beweis seiner Begeisterung für das Medium ist die Tätowierung "TV mit Flügeln" auf seinem rechten Oberarm.) Er spricht von der "Geschmeidigkeit des elektronischen Bildschirms", und von den "flüchtigen, nichtphysischen Eigenschaften des Video". Zum Vergleich zwischen Film und Video sagt Sanborn: "Der Film bezog seine Form aus der Literatur und ist von der Natur her narrativ … Video kann zugleich selbstbezüglich und abstrakt sein, weil es von seiner Form her nicht auf das streng Narrative begrenzt ist." Und er fügt hinzu, daß "Video selbst in seiner kannibalistischen Form, wie der Großteil dessen, was auf MTV zu sehen ist, noch immer einzigartig ist."
"VIDEO BIETET DIE MÖGLICHKEIT, MIT BILDERN SO AUF DEM SCHIRM ZU ARBEITEN, ALS HANDLE ES SICH UM MALEREI."
Aber nach Sanborns Meinung hat der durchschnittliche Clip noch einen langen Weg vor sich. Er meint, die heutigen Clip-Produzenten könnten von einem traditionelleren Medium viel lernen: "In einer Oper gibt es für jedes Lied einen bestimmten Grund. Der dramatische Konflikt zieht sich durch die Emotionen und deswegen singen wir darüber – um den Konflikt zu lösen. . . . Und das fehlt heute in den Musikvideos – dieses Fehlen eines inhärenten Konflikts im Visuellen."

In zunehmendem Maße wird Sanborns Werk nicht nur in Japan, Frankreich und England gesehen und geschätzt, sondern auch in seinem eigenen Land, nicht mehr nur in New Yorker Künstlerkreisen. Glaubt er daran, daß seine kompromißlose künstlerische Vision im großen Feld des Video breitere Anerkennung finden wird? "Das Beste, was ich tun kann, ist unausgesetzt auf den Tisch zu klopfen und hoffen, daß Ideen Veränderungen bewirken werden."

Hal Strickland

Die reine Bewegung abstrakt, und unabhängig von Form und Masse wie in der Kinematik betrachtet, ist eine fundamentale Studie des bewegten Bildes. Selbstverständlich "erbt" Video diese Studie und kann als das unmittelbarste unter den Medien des bewegten Bildes den kinematischen Belangen direkt entsprechen; im wesentlichen deshalb, weil in der Person des Videokünstlers die Rolle des Regisseurs mit jener des Kinematographen vereint ist; das macht es möglich, daß aus divergierenden Sensibilitäten eine gewisse Singularität entsteht.

Die Arbeit von John Sanborn verkörpert diese Studie, sie erforscht die Bindungen zwischen den visuellen, den Ton- und Zeitkomponenten der Perzeption, und zwar in einer Art von Spiel. Sanborn studiert, regt an, macht Gegenanregungen und spielt; das Videowerkzeug in seiner Hand ist ein farbenprächtiges fernes Auge, das vergrößert, umkehrt, näher hinsieht. Sein Umgang mit Bildern ist ungezügelt, bisweilen phantastisch, aber stets äußerst sorgfältig. Diese Qualität des Getriebenseins gibt Sanborns Videogrammen eine distanzierte, peripatetische Richtung, die sich unabhängig und außerhalb der humanistisch-literarischen Elemente bewegt, eine Qualität, die durch die Zusammenarbeit mit vielen Künstlern (Kit Fitzgerald, Robert Ashley, Dean Winkler und anderen) ergänzt wird; die Quintessenz dieser Zusammenarbeit könnte man als einen Strom von thematischen, rationalen und sinnlichen Gedankenformen umschreiben. Seine poetische Energie ist kanalisiert, durch die Kraft seiner Bildbewegung intensiviert. Robert Ashley hat von Sanborn gesagt, er besitze "das visuelle Gegenstück zum perfekten Wurf".

Sanborn verwirft den Konversations-Realismus zugunsten einer poetisch-kompositorischen Darstellung seines Themas. "Man kann den Medien durch ihre sukzessiven Phasen folgen, von der vollständigen Lebensechtheit bis hin zur Abstraktion", stellte er einmal fest. "Man bedenke die Notwendigkeit, abstrakt zu sein … wenn man Liebeskummer hat, kann man das nicht in Worte fassen, ja man sollte gar nicht fähig sein, es in Worte zu fassen. Ich weiß, daß ich etwas zeigen, etwas elektronisch aufbauen kann, das lauter spricht als es ein Satz oder eine Zeile eines Dialogs imstande wäre." Seine Arbeiten bauen nicht auf besonderen Narrationen auf, sondern auf einer komplexen Montage von geleiteten Anregungen, auf einer Resonanz heterogener Töne und Bilder, aus denen ein essentielles reflexives Ganzes werden soll. Sanborn beansprucht die Realisierung dieser Resonanz als seine wichtigste Errungenschaft, er nennt sie "visuelles Summen".

"Interpolation" und "Olympic Fragments" sind die frühesten der in der Ausstellung gezeigten Werke und entstanden in Zusammenarbeit mit seinem früheren Partner Kit Fitzgerald. Beide Werke bringen eine plastische Behandlung der Zeit durch ihre Verzerrung, wodurch die Syntax des Bildes, der Bewegung und des Tons zerlegt wird. Das Ergebnis ist ein strukturalistisches, aber trotzdem lyrisches Video. "Interpolation" bezeichnet seine Einzelsegmente mit wissenschaftlichen Begriffen von natürlichen Vorgängen (Eutropie, Aphasie, etc.); aber es untersucht die Konzepte in der Form menschlichen Verhaltens, in der Art, wie sich der Ton zur Sprache, die Bewegung zur Geste, die Geste zum Ritual ordnet. "Olympic Fragments" konzentriert sich auf einen Augenblick einer athletischen Bewegung und verleiht dieser Bewegung erhöhte Aufmerksamkeit, indem das Ereignis auf seine physischen Bestandteile von Zeit, Bewegung und Ton reduziert wird; die elementare und elegante Zusammensetzung der organischen Bewegung wird durch ihre Brechung enthüllt.

Spätere Werke wie "Static Episode" und "Don't Ask" zerlegen in ähnlicher Weise einen Augenblick im persönlichen Kontakt und reduzieren die Situation auf ein Konzert von Ausdrücken, Gesten und Gesprochenem; sie zeigen, wie ein solcher Kontakt zu einer Aufeinanderfolge automatischer Gesten und Gegen-Gesten und von Antworten auf ausgelöste Erinnerungen werden kann, anstatt zur Kommunikation des bewußten Geistes.
Das "Twyla Tharp Scrapbook" von Tharp, Sanborn und Fitzgerald zeigt die gemeinsamen Fäden von Tanz und Video. "Das Fernsehen kann einem Konzept näher kommen als die Natur in Bewegung", sagt Tharp. Das "Scrapbook" ist eine eingehende Betrachtung ihrer tänzerischen Laufbahn, ohne die inszenierte verlegene Wirkung einer Retrospektive, vielmehr vermittelt es eine Nahbeziehung zwischen dem betrachteten und dem betrachtenden Medium. Das Potential des Fernseh-Tanzes zeigt sich schlüssig in der letzten Sequenz, "Bad Smells", die Sanborn von Super–8 zu einem schwindelerregenden, halluzinogenen Menuett von sich auflösenden Gliedmaßen, untermalt von dissonanter Musik, begleitet von Glenn Branca, umgearbeitet hat.
Sanborn bezeichnet seine Musik-Promotions als logische Erweiterung der musikalischen Komödie", und verkündet zugleich die Grenzen des MTV. Seiner Ansicht nach sollten Kurz-Videos etwas "Rhythmisches sein, ohne komplizierte Handlung, ohne erkennbares durchgehendes Thema, aber mit visueller Logik." Seine neo-psychedelischen Werke "Act III" für Philip Glass und "Electric Cat" für Adrian Belew illustrieren nicht nur die gegenwärtige Video-Animation, sondern auch die sensorische Triebkraft der Musik durch Bilder. "Siberia" mit Peter Gordons "Love of Life"-Orchester ist eine Auflösung visueller Obertöne, es gleicht mehr einem Gemälde als einem Fernsehfilm;"Ear to the Ground" mit David Van Tieghem ist eine Performance von reflexiver musikalischer und visueller Kadenz. "Siberia" und "Ear to the Ground" sind Teile der Serie "Antarctica", die zusammen mit einem gleichnamigen Plattenalbum produziert wurde, um "die These zu untermauern, daß Video und Musik einander ebenbürtig sind".

Sanborn hat niemals die Rivalitäten zwischen den verschiedenen Abbildungsarten in Frage gestellt – Kamerabilder gegen elektronisch produzierte Bilder gegen hybride Bilder – aber er strebt eine Synthese all dieser Formen, eine pluralistische Harmonie von Bildern an. Die Video-Oper "Perfect Lives", für Robert Ashley produziert, ist eine Konsolidierung dieses verbindenden Ansatzes sowohl im Hinblick auf die Bildquelle als auch im Hinblick auf ihre Integration mit den literarischen und Performance-Aspekten der Zusammenarbeit.
Die Oper besteht aus insgesamt sieben halbstündigen Sequenzen; sie erzählt die Geschichte von zwei umherziehenden Musikern im Mittelwesten, die das Leben der Menschen, mit denen sie in Kontakt kommen, verändern. Ashleys Geschichte bewegt sich in Form eines komplexen poetischen Ergusses durch Klarheit und Verwirrung, wobei sich die Erzählung mit abstrakten Elementen des visuellen Rahmens vermischt. Die Dynamik der Bildstrukturierung ergibt sich aus der widersprüchlichen Anordnung; elektronische Effekte durchziehen die ganze Narration und werden zu einem wesentlichen Element des Vorgangs der visuellen Kognition; die Technik ist sich ihrer selbst bewußt und gleichzeitig im Dienste einer poetischen Aufgabe.

"Perfect Lives" ist ein Beispiel temporärer Kunst, genauer gesagt temporären Videos, vereint mit einem Interesse an der Gesamtheit visueller, auditiver und literarischer Erfahrungen. Die Opernelemente verwandeln sich ständig: innerer Dialog wird zu sich bewegendem Text, orphische Bilder werden literarisiert, abstrahiert und in Verbindung mit einer Vielfalt von Tönen verändert. Die Sprache als Rede bewegt sich wie ein sich veränderndes Bild, und das Bild verwandelt sich mit beinahe literarischer Grammatik. Die Elemente dirigieren sich selbst mit einem symphonisch-kakophonischen Gleichgewicht von solcher Kraft, daß das Werk zur ersten klassischen Synthese des Mediums Video wird – Sanborn erweist sich darin als Meister.

T. M. und P. P.