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Ars Electronica 1986
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Nam June Paik, eine Idee setzt sich durch


'Horst G. Haberl Horst G. Haberl

Die historische Entwicklung der Video-Bewegung in der bildenden Kunst wurzelt in Westdeutschland. Wolf Vostell, Nam June Paik und teilweise auch Otto Piene experimentierten in den Jahren 1958 bis 1965 einerseits mit der Elektronik als visuell-akustischem Medium, andererseits bezogen sie Fernsehgeräte in ihre künstlerischen Handlungsabläufe ("Happenings") ein. Das entscheidende Ereignis war aber die Übersiedlung des Südkoreaners Nam June Paik nach New York. Paik war in Köln Schüler von Karl Heinz Stockhausen, der damals beim WDR ein Elektronikstudio führte. Als Rockefeller-Stipendiat in New York "begegnete" Paik der ersten tragbaren Videoausrüstung, die der japanische Sony-Konzern 1965 auf den Markt gebracht hatte. Mit ihr propagierte Paik erstmals das "Do-it-yourself-Fernsehen". In Zusammenarbeit mit dem japanischen Computeringenieur Shuya Abe konstruierte Paik den sogenannten Paik/Abe-Synthesizer, der die "Ästhetisierung" des amerikanischen Fernsehens einleiten sollte.

1967 entstand in San Francisco das "KQED experimental television project" der Rockefeller Foundation, das 1969 zur Gründung des "National Center for Experiments in Television" (NCET) führte. Diesem ersten TV-Labor in den Staaten folgten WGBH-TV-Boston und 1972 das WNET CHANNEL 13/TV Lab ("Kanal 13") in New York City. Die amerikanische Avantgarde aus Film, Theater, Ballett, Musik und bildender Kunst wurde im Lauf dieser Entwicklung fast schlagartig von den etablierten TV-Labors durch Stipendien und Aufträge mit diesem neuen Medium konfrontiert: Merce Cunningham (Choreographie) und John Gage (Musik) realisierten bereits 1965 in Zusammenarbeit mit Billy Klüver (Elektronik) und Stan VanDerBeek (Film- und Videoprojektionen) das "intermedia dance piece, Variations V". Nam June Paik produzierte 1969 seine "Electronic Opera No. 1" und der Deutsche Otto Piene (seit 1974 Direktor des MIT/Massachusetts Institute of Technology) das "Electronic Light Ballet". Allan Kaprow, der "Vater des Happenings", veranstaltete ebenfalls 1969 in Massachusetts ein TV-Happening mit dem Titel "Hello": Fünf Videokameras, 27 Fernsehmonitore und vier verschiedene Standorte waren das "Material" für "zufällige" Begegnungen von Menschen, die miteinander via Bildschirm kommunizieren konnten.

Praktisch gleichzeitig entwickelte sich der sogenannte Video-Underground (1971 veröffentlichten Michael Shamberg und die Raindance Corporation die erste umfassende Publikation für den Video-Underground "Guerilla Television"): Einer der Underground-Prod uzenten, Eric Siegel, entwickelte 1968 seinen "Processing Chrominance Synthesizer" (PCS), der – zum Unterschied vom Paik/Abe-System – ohne Videokameras, nur über den Bildschirm das farbige Bearbeiten von Schwarzweiß-Videotapes ermöglichte. 1970 baute Siegel dann den "Electronic Video Synthesizer" (EVS), ein Computergerät, mit dem abstrakte, hauptsächlich geometrische Formen oder Figuren produziert werden konnten. Die einzige bekannte Entsprechung in Europa findet sich in Italien, wo Gianni Colombo mit einem elektronischen "Wobbler" konstruktive Bildelemente erzeugte (Graz, Trigon 1973).

Rudi Stern (Sohn einer Wiener Emigrantenfamilie), Mitbegründer der ersten New Yorker Video-Produzentengruppe, etablierte sich im Herbst 1969 unter dem Gruppennamen "Global Village" im sogenannten SO-HO (South of Huston Street) dem damaligen Künstlerviertel Manhattans. Stern und sein ehemaliger Partner John Reilly arbeiteten aber nur kurz im experimentellen Synthesizerbereich. 1973 zeigten sie bereits Bänder sogenannter Dokumentarvideos im Dienste der Regierung von Bangla Desh (Familienplanung) oder des Staates New York (Drogenverhütung und Resozialisierung). Kommunikation im öffentlichen Interesse, Homosexualität, Radical Feminism, Women's Liberation, Resozialisierung, Drogenverhütung, Umweltverschmutzung und daraus resultierende Bürgerinitiative waren die Themen, mit denen sich auch viele Gruppen wie die "Survival Arts Media" (Gutstadt/Fuller), "Video-Freex" oder "Telethon" (Adler/Margolies) in Kalifornien, das "Peoples Video Theatre" und Dimitri Deveyatkins "The Kitchen" beschäftigten. "The worlds largest television studio" produzierte 1972 die Gruppe der "Top Value Television" (TVTV), eine "Documentation Democratic National Convention" in Miami Beach, ausgezeichnet mit dem Preis der National Cable Television Association" für politischen Journalismus. Sie alle reagierten mit den "new lost-cost portable TV-Sets" auf gesellschaftspolitische Prozesse. Ein Gutteil ihrer Arbeit hat sich in den heutigen Formen der Telekommunikation professionell niedergeschlagen.

Nam June Paiks erste Ausstellung "Electronic TV" fand schon 1963 in der Galerie Parnass, Wuppertal, statt. Paiks Videostück "Selling of New York", 1972, eine Video-Collage (vermutlich der erste "Video clip") des New Yorker WNET/Channel 13 mit Russell Connor als Medienonkel "verkauft" die Kuriositäten von NY City: "Die Polizei von New York ist stärker als die Armee von Dänemark" und der TV-Moderator Connor ist buchstäblich allgegenwärtig: im Frisiersalon und im Bett eines sich liebenden Paares. Der Paik/Abe-Synthesizer "verwandelt" die Skyline von Manhattan zu der des Roten Platzes in Moskau – zur Musik von "Rhapsody in Blue".

Paiks brennendes Klavier in "Global Grove", Relikt eines Medien-Happenings, verpackt in elektronische Überblendungen eines Konzerts des Boston Sinfony Orchestra, ist zum Symbol für den Auf- und Einbruch der elektronischen Welt geworden. Aus der inszenierten Zerstörung handwerklicher Musik entsteht das elektronische Feuer einer neuen medialen Sinnlichkeit. Es scheint nicht zufällig, daß sich Mitte der achtziger Jahre gerade Paiks Werk als zentrale "Figuration" der Video-Bewegung in der Kunst erweist. Paik hat es bisher in allen seinen "Fluxus-haften" medialen Aktionen verstanden, die Überlagerungen und Durchdringungen der Wirklichkeiten unseres elektronischen Alltags in eine poetische Sprache zu kleiden – oft voll Witz und Ironie.

Video-Bänder, -Installationen, -Environments und Video-Aktionen umreißen die Konzepte der Video-Kunst: Bildschirmausschnitt (3:4), Authentizität (das Abbild entspricht der unmittelbaren Wirklichkeit), Zeit (Gleichzeitigkeit, Zeitverzögerungen in der Relation zur Realzeit), Kombinationen aus mehreren Video-Recordern, -Kameras und Monitoren (Closed Circuits, Video-Performances) und die Unzahl von Rückkoppelungseffekten (Feedback) haben letztlich auch praktische Anwendung in gruppendynamischen und gruppendramatischen Prozessen (wie etwa "Sensitivity Trainings") erfahren.

Aus heutiger Sicht noch deutlicher lag und liegt der Anreiz der sogenannten Neuen Medien für die Kunst in deren neuen Sprachmöglichkeiten. Schließlich geht es hier nicht nur um den Humboldtschen Begriff von Sprache als "das bildende Organ des Gedankens", vielmehr bekommt der "magische Gebrauch" der Sprache oder Sprach-Zeichen eine neue Dimension. Sprache als Ausdruck darstellender Zeichen unterliegt in allen Kulturen bestimmten tradierten "Schutzbestimmungen". Die Übertretung dieser Tabus "verletzt" die kulturellen Rahmenbedingungen und produziert neue Sprachinhalte. Sprach-Form und Sprach-Deformation verändern die gewohnte Wirklichkeit. In den Autopolaroids des Amerikaners Lucas Samaras stehen zum Beispiel Fuß und Hand nebeneinander auf dem Boden, als ob es zwei Füße wären, das heißt, die Hand ahmt den Fuß nach. Hand und Fuß werden so zu einer austauschbaren medialen Zeichensprache für das "Stehen".

"Die sogenannte Wirklichkeit ist das Ergebnis von Kommunikation", sagt der Soziologe Paul Watzlawick, was auf die Video-Wirklichkeit übertragen eben neue Wirklichkeiten "herstellen" bedeutet. Der New Yorker Künstler Peter Campus demonstriert dies in seinem Videotape "Three Transitions" (1973, 5 min.): Er "überschreitet" die bekannte Erfahrung der Wirklichkeit, indem er durch die Installation von zwei Videokameras in je einem (Wirklichkeits-)Raum Wirklichkeiten "kreuzt"'. Campus schneidet mit einem Messer in die Leinwand, die beide Räume trennt. Er öffnet den Schlitz (in der Leinwand Lucio Fontarlas) mit den Händen und steigt durch die Öffnung in den zweiten Raum. Die Überblendung beider Wirklichkeiten erzeugt die elektronische Wirklichkeit eines Menschen, der seinen eigenen Leib aufschlitzt, ihn mit den Händen ausweitet und letztlich durch sich selbst hindurchtritt. Das Erlebnis von Innen und Außen, das Erlebnis von Zeit und Raum sind zu Variablen einer zumindest vierten Dimension geworden.

Das Sprechen von der Sprache, die Meta-(Über-)Sprache ist zu einem nicht mehr nur re-, sondern produzierbaren Vorgang geworden. Die Ikonographie des Fernsehbildes wird wesentlich geprägt durch die metaphysische und metaphysikalische Entstehung medialer Wirklichkeiten aus elektronischen Zeichen. Allerdings bleibt dieses Phänomen der Gleichzeitigkeit von Produktion und Reproduktion den meisten Fernsehkonsumenten verborgen. Daher sind auch diese gravierenden Unterschiede zum Film selten vom Publikum bewußt erlebte Kriterien.

In seiner Video-Demonstration "TV-Tod" (Köln 1975) setzte sich der Grazer Medienkünstler Richard Kriesche mit dieser Wahrheit der Fernsehwirklichkeit auseinander: Das Publikum erlebt den Künstler als Ansager auf dem Bildschirm. Er berichtet von einer "wahren Begebenheit", die sich ein Jahr zuvor (1974) in einer US-TV-Station ereignet hatte. Eine Nachrichtensprecherin verlas die neuesten Nachrichten, als sie fertig war, sagte sie, sie werde sich erschießen. Sie nahm eine Pistole, legte auf sich selbst an, drückte ab und brach tot zusammen. "Die Sendung wurde kurz unterbrochen", erzählt Kriesche weiter, "ein Sprecher trat auf und sagte, aus bisher unerklärbaren Gründen habe sich die Sprecherin erschossen". Inzwischen hat sich Kriesche hinter die Sprecher-Ebene neben einen scheinbaren Zuhörer gesetzt und hört (für das Publikum in Köln immer noch im Bildschirm) seinem eigenen Tonbandtext zu: "Im TV führt die Kette von der Gegenwart über die Wirklichkeit zur Wahrheit. Mit der Gegenwart verbindet sich im TV – wie beim Blick in den Spiegel – Wirklichkeit mit dieser Wahrheit. Das TV-Bild ist zwar aus sich wahr und nicht aufgrund der Inhalte, die vermittelt werden. Aus sich wahr heißt, weil im Videobild zum erstenmal in der Geschichte ein Bild der Welt mit der Weltuhr synchron verläuft." Während der letzten Worte dieses (aufgezeichneten) Textes entsichert der neben Kriesche im Bildschirm sitzende Zuhörer plötzlich eine Pistole, legt an und schießt in den Bildschirm. Das Tonband läuft weiter. Das Publikum sieht und hört den Schuß einschließlich des geschilderten Vorgangs am Bildschirm. Die Szene selbst ereignete sich "live" in einem Nebenraum. Das Publikum konnte sowohl die Reproduktion des durchschossenen Bildschirms als auch den tatsächlich zerstörten Fernsehapparat sehen.

Im Oktober 1974 produzierte die Grazer Kunstproduzentengruppe "pool" (sie existierte von 1968 bis 1976, gegründet vom Autor und Richard Kriesche im Forum Stadtpark) in Zusammenarbeit mit dem ORF "The Austrian Tapes" mit dem New Yorker Medienkünstler Douglas Davis, deren Konzeption im Fernsehen nie realisiert wurde. Es sind drei Bänder zu je fünf Minuten. Sie sollten jeweils zu Beginn einer vollen Stunde das gewohnte Abendprogramm des Fernsehens unterbrechen: Davis berührt mit seinen Handflächen den Bildschirm von innen und fordert die Fernsehzuschauer auf, ihrerseits die Handflächen (von außen) an den Bildschirm zu legen, ihn zu "berühren". Im zweiten Band gilt diese Berührungsaufforderung den Augen, der Backe (dem Gesicht), im dritten die Aufforderung, den Oberkörper zu entkleiden und einmal mit der Brust, dann mit dem nackten Rücken den medialen Körper des Künstlers zu berühren.

Mehr als zehn Jahre danach, da Prozeßkunst dem "Hunger nach Bildern" in der Publikumsgunst unterlegen war (obwohl die sogenannte Neue Malerei ohne die Entwicklung der Videokunst wohl kaum denkbar ist), haben die Marktsituation im sogenannten Hard- und Software-Bereich sowie die Marketing-Strategien der Tonträgerfirmen mit ihren Videoclips eine gewisse Renaissance der Videokunst herbeigeführt. Paiks Idee hat sich fortgesetzt und erfährt inzwischen eine faszinierende Ausweitung um die Sprachzeichen der Computer-Elektronik. Gleichzeitig mit dem absehbaren Ende der "wilden" Malerei und dem wiederentdeckten "magischen Gebrauch" der Zeichen auch in den klassischen Bereichen der bildenden Kunst erschließt sich eine Welt der Phantasie, die mit sämtlichen Tabus tradierter Kunstauffassungen bricht. Vielleicht wird damit auch die Idee des alten Marcuse ("Die neue Sensibilität", 1969) wieder modern, der von einer neuen Sensibilität und einem neuen Bewußtsein spricht, von einem "Umbau" der Wirklichkeit, der aber eine neue Sprache erfordert.