Ich suche nicht nach Werken - ich suche nach Künstlern ...
'Kim Machon
Kim Machon
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'Chris Dercon
Chris Dercon
Ein Interview von Kim Machon mit dem belgischen Videokritiker Chris Dercon, April 1986
Video Fazit Freitag, 27. Juni 1986 22.05 Uhr, FS 1
ORF-Videonale 86
Anschließend: Perfect Lives – An Opera for Television by Robert Ashley, Produktion John Sanborn
PART VII: The Backyard (T'Be Continued) Portrait of Isolde, a mysterious epilogue in the twilight of The Backyard.
Am Ende der ORF-Videonale 86 zieht der Videoexperte und Mitarbeiter des Belgischen Rundfunks, Chris Dercon, Bilanz der "Fernsehwoche mit anderen Bildern".
Redaktion der Sendung: Kunst-Stücke-Team Regie: Werner Woess
K. M. Glauben Sie, daß Künstler ihre Einstellung zu Video wegen der Zugangsmöglichkeit zum Fernsehen ändern? Welche Unterschiede haben Sie da in Europa und den USA festgestellt?
C. D. Ich glaube, daß die besten Videokünstler ihre Einstellung wegen des Zugangs zum Fernsehen nicht geändert haben, ja, ich denke, daß der Weg in umgekehrter Richtung verläuft! Wenn man aber die Mehrheit der amerikanischen Arbeiten betrachtet, dann stimmt die Feststellung. Das ist der Fall bei amerikanischen Künstlern, die von einer Geschichte der liberalen industriellen Subkultur abhängig sind, nicht aber für die interessantere europäische Situation. Im allgemeinen denkt man in den USA in den letzten Jahren bei Video an 3- bis 8-Minuten-Werke, während etwa in Belgien die Videokünstler im Bereich von Fiction- und Dokumentarfilmen arbeiten, die zumeist etwa 40 bis 60 Minuten lang sind; Sie müssen zugeben, daß die Ansätze sich sehr wesentlich unterscheiden.
K. M. Es ist interessant zu überlegen, welche Möglichkeiten in sechs Minuten beziehungsweise in 60 Minuten geschaffen werden können. Hier scheint es völlig unterschiedliche Vorstellungen zur Größenordnung, zu Zeit und Inhalt und auch – in gewissem Zusammenhang damit – zur Einstellung gegenüber der "Volkskultur" zu geben.
C. D. Die bedeutenderen unter den amerikanischen Künstlern, wie etwa Bill Viola, Tony Oursler, Michael Smith, Charles Atlas oder Steve Fagin, arbeiten mit einem 40–Minuten-Ansatz, aber charakteristischer für die USA ist das Gerede von etwas Diabolischem, das "Spannungs-Zeitraum" genannt wird, nicht nur unter den Künstlern, sondern auch unter den Museumskuratoren. Wenn sie ein Video-Paket in ihre Sammlung nehmen, denken sie in Begriffen des "Spannungs-Zeitraums" an das Publikum sie übernehmen uneingeschränkt die Ideologie des Fernsehens: "Nur keine Langeweile aufkommen lassen", "Schnelle Schnitte und schnelle Arbeiten", "Laßt uns kurze Programme machen". Das ist der negative Einfluß des Fernsehens auf die Videoarbeiten.
Ich bin soeben aus den Staaten zurückgekehrt, wo ich eine Menge uninteressanter Arbeiten gesehen habe; uninteressant deshalb, weil die Künstler sich zu stark vom Fernsehen beeinflussen lassen. Viele Menschen in den USA sprechen von Dingen wie "Wie können wir einen Dialog mit dem Fernsehen herstellen", "Wie können wir unsere Programme für das Fernsehen akzeptabel machen" und bringen damit das gesamte Potential innovativer Videoarbeit und innovativen Fernsehens in Mißkredit.
Ich glaube, daß sich nur mittelmäßige Künstler dazu hergeben, in dieser Art von "Fernseh-Format" zu arbeiten; es ist nicht nur die Frage kurzer Videobänder, sondern vielmehr die Idee des "Fernseh-Formats", die nicht die vollen Möglichkeiten des Fernsehens ausschöpft. Meiner Meinung nach kommen die interessantesten Arbeiten für das Fernsehen von Künstlern, die sich nicht darum kümmern, ob ihre Arbeiten ausgestrahlt werden, denn schließlich gibt es für die Videokunst viele Betrachtungs-Terminals, wie etwa das Museum, den alternativen Raum, Bibliotheken, Heim-Systeme und Fernsehen. Nicht der Terminal ist entscheidend, sondern das Video-Werk.
In Europa wurde eine der letzten Aussagen über Video in Verbindung mit den visuellen Künsten im Rahmen der documenta 6 in Kassel gemacht; es war dies zugleich die erste und auch die letzte wirklich bedeutsame Aussage dieser Art, denn nach diesem Jahr 1976 trat die ganze Idee des entmaterialisierten Kunstgegenstandes in den Hintergrund – die Figuration trat in den Vordergrund und das steht in gewissem Widerspruch zu den konzeptuellen Tendenzen der Video-Arbeit. So übernahmen in Europa Videofestivals, Museen, alternative Räume und das Fernsehen die Idee, von Künstlern geschaffenes Video auszustellen, der Begriff "Videokunst" wurde, besonders in Frankreich und Belgien, durch die Bezeichnung "Video-Kreation" ersetzt. Diese Künstler wandten sich immer stärker Methoden zu, die sich an den freischaffenden Filmemachern orientierten. Der Video-Bereich öffnete sich, es kam zu Gemeinschaftsarbeiten nicht nur mit Vertretern der visuellen Künste, sondern auch mit Repräsentanten von Literatur, Musik, Theater und Film. Verstärkt wurde diese Tendenz durch den Umstand, daß die Welt der visuellen Künste an der Videoarbeit und am Medium Video nicht mehr so stark interessiert war wie Mitte und Ende der siebziger Jahre. Video schwebte im freien Raum und stellte dann auf ziemlich ärmliche, aber sehr bedeutende Art und Weise Beziehungen zum Film her. Das war die Situation in Europa, während Video in Amerika von Stiftungen gefördert wurde. Video-Abteilungen entstanden in Museen, so etwa die Kino-Abteilung am MOMA, dem ersten Museum der Welt, das eine Filmabteilung einrichtete. An amerikanischen Museen gibt es sogar Produktionsabteilungen, während man derlei in Europa nicht kennt. In Europa übernahm also das Video-Festival die Aufgabe, innerhalb des Konzepts der Ausstellung visueller Künste die Videokunst zu präsentieren. Hierbei gab es zahlreiche Probleme, die Videokünstler waren ein ziemlich naiver Haufen … Kuratoren wurden zu Kritikern, Kritiker wurden zu Produzenten, Produzenten wurden zu Künstlern, Künstler wurden zu Kritikern, und so fort. Es entstand eine äußerst unklare Situation. Video stand außerhalb der Welt der visuellen Kunst und mußte sich seine eigenen Kritiker schaffen.
K. M. Es scheint außerordentlich notwendig, die Qualität der Kritik zu verbessern, wie kommt man damit voran?
C. D. Erst in den allerletzten Jahren haben die Kritiker begonnen, sich mit Video und den damit arbeitenden Künstlern ernsthaft auseinanderzusetzen. Zur Zeit besteht ein gewisses Maß an Pessimismus, aber das ist schon ein positiver Fortschritt in der Entwicklung der Kritik, denn ich bin auch der Meinung, daß nur ein Teil dessen, was produziert wird, wirklich interessant ist. Ich betrachte mehr das Gesamtwerk eines Künstlers und weniger einzelne interessante Sequenzen oder Abschnitte eines Bandes. Ich suche NICHT nach Werken, ich suche nach Künstlern, ich suche nach Autoren.
K. M. Im Video-Bereich gibt es zur Zeit viele verschiedene Anliegen und Tendenzen. Was ist Ihre grundsätzliche Meinung zur "Szene"?
C. D. Meiner Ansicht nach ist die bedeutendste Richtung in der Video-Arbeit das neue Narrativ- und Dokumentarvideo. Man sollte sehr vorsichtig sein, wenn man Begriffe wie "Computerkultur", "simulierte Kultur" oder "Digitalkultur" mit dem breiteren Konzept des von Künstlern geschaffenen Video in Beziehung bringt. Es ist notwendig zu erkennen, daß Bildbearbeitung ein zu verwendendes Werkzeug ist, die Falle, in die viele Werke tappen, ist einfach die Faszination des Mediums. Als Beobachter der Video-Szene finde ich, daß die interessantesten Werke im Bereich des neuen narrativen Videos geschaffen werden (mit Künstlern wie Jacques Luis Nyst, Marie André u.a.) Sie verwenden sehr wohl die Bildbearbeitung, aber als ein Mittel, um die Narration zu rekonstruieren, um sie neu zu schreiben. Ich möchte Raymond Bellour zitieren, der sehr viel darüber und über die Beziehung zwischen Video und Film geschrieben hat: "Eines Tages könnte es klarwerden, daß der Übergang vom Film zum Video vergleichbar ist mit dem, was in der Literatur durch den Übergang vom Alexandriner zum freien Vers geschah."
Wie also kann man die Bildbearbeitung und all die komplizierten Videotechniken einsetzen, um ein neues Konzept für die gesamte Idee der Narration neu zu denken, zu strukturieren und zu schreiben? Es scheint eine interessante Vorstellung, die Spezialeffekte des Video als das Mobiliar des Fernsehschirms zu betrachten und festzustellen, daß wir die Verwendung von Spezialeffekten hauptsächlich im Fernsehen sehen, wenn man im Vergleich dazu überlegt, wie der Film Spezialeffekte einsetzt, stellt man fest, daß sie im Film sehr häufig zur Schaffung einer analogen Situation verwendet werden, die von der Surrealität ausgehend sich mit der Realität vermischt und die Realität mit der Sub-Realität verschmilzt. Das gilt nicht für die Benutzer von Video. Sie verwenden die Spezialeffekte auf eine "pathologischere" Art und Weise.
Video ist die erste post-moderne Kunstform, die das Konzept der gleichzeitigen Produktion und Reproduktion verwirklicht, aufgrund der Bildbearbeitungs- und Speichertechniken entstanden neue Möglichkeiten, eine andere Art des Gedächtnisses, eine andere Art des schnellen Denkens.
K. M. Wie sehen Sie die Zukunft des Video?
C. D. Nun, ich bin kein Hellseher, aber die visuellen Künstler haben ihr Interesse erneut dem Konzeptualismus UND der Figuration zugewandt und das bedeutet vermutlich, daß Video-Installationen, Video-Arbeiten und -filme erneut und in verstärktem Maße in diesen Dialog einbezogen werden. Ich betone nochmals, daß nicht der Terminal das Entscheidende ist, und daß der Künstler weiterhin unabhängig davon Werke schaffen wird; und wir Kuratoren, Kritiker und Produzenten müssen uns den wichtigen Fragen stellen, die von den Künstlern aufgeworfen werden. Wir müssen Kriterien erarbeiten.
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