ARS ELECTRONICA 84 – Kunst, Technologie und Gesellschaft
Die neue Computerkultur
'Hannes Leopoldseder
Hannes Leopoldseder
"Es ist unfaßbar, aber wahr: Eine einzige neue Technologie wird unser aller Leben grundlegend verändern", diese These stellt Dieter Balkhausen an die Spitze seiner in der Zwischenzeit zu Standardwerken gewordenen Bücher über "Die dritte industrielle Revolution". Was Balkhausen in den siebziger Jahren für die Mikroelektronik formulierte, zeichnet sich heute noch wesentlich eindringlicher für eine zweite Schlüsseltechnologie, die Biotechnologie, ab. Beide sind Basisinnovationen, die unsere Wirtschaft, unsere Gesellschaft und unser Leben als Ganzes verändern: Sie sind für eine neue Kulturstufe unserer Zivilisation verantwortlich.
Die Bezeichnungen für die neue Zeit sind noch vielfältig, es ist noch unklar, welcher Begriff endgültig im geschichtlichen Rückblick einmal für die Jahrzehnte des ausgehenden 20. Jahrhunderts bleiben wird: Informationsgesellschaft, Elektronisches Zeitalter, Postindustrielle Gesellschaft, Dritte Industrielle Revolution, Kybernetisches Zeitalter, Silizium-Zeitalter, Computerkultur, High-Technology Culture, New Age.
Die heute erkennbaren Trends sind voraussichtlich nicht mehr als Anfangstendenzen. Die neue Ära kommt erst nach der Umbruchszeit zum Tragen. Den Innovationen und Veränderungen ist eines gemeinsam: Sie haben einen neuen Rohstoff: nicht Gold, nicht Stahl, nicht Öl, sondern Information und Wissen. Information ist die Währung des Neuen Zeitalters. Während die Industriegesellschaft, angefangen von Fords T-Modell, das Auto als Massenprodukt hervorgebracht hat, wird in unserem Jahrzehnt immer mehr die Produktion von Information zur entscheidenden Triebkraft der Wirtschaft. Wie seinerzeit der Übergang von der Agrar- in eine Industriegesellschaft die Gesellschaft als Ganzes und das Leben des einzelnen veränderte, bringt die Wandlung der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft ebenso tiefgreifende Veränderungen. Allerdings mit dem Unterschied, daß sich der jetzige Umbruch wesentlich rascher vollzieht, höchstens in einem Viertel der Zeit von damals. Durch die Schnelligkeit der Veränderung liegen das alte System und das Erstehen einer neuen Struktur eng aneinander, so daß einerseits Konflikte und Negativfolgen unvermeidlich sind, andererseits nur ein "Neuland des Denkens" (Frederic Vester) den Wandel vom technokratischen zum kybernetischen Zeitalter bewältigen kann.
Die Herausforderung der neuen Ära der Hochtechnologie wird unterschiedlich angenommen – in Amerika, besonders aber in Japan gilt die hochtechnologische Zukunft als eine Vision, auf deren Verwirklichung die Kräfte konzentriert sind. Nach der Entwicklung von Halbleitern und Robotern ist derzeit die fünfte Computergeneration die neue Zukunftsvision. Die Computer der fünften Generation werden dem Menschen in einer Weise nahekommen, die bis vor einiger Zeit noch in der Utopie lag – die Computer der fünften Generation werden die menschliche Sprache nutzen, Entscheidungen treffen können, Urteile fällen. Wenn der Apple II in einer Sekunde 500.000 Operationen durchführen kann, ist es das Ziel der Supercomputer, in einer Sekunde zehn Milliarden Operationen durchzuführen.
Während in Amerika und Japan Hochtechnologie in Wirtschaft und Gesellschaft ein vorrangiges Ziel darstellt und einen Innovations- und Wirtschaftsschub bewirkt, war in Europa Hochtechnologie jahrelang kaum ein öffentliches Thema, es sei denn mit der Diskussion von Gefahren verbunden. In Europa werden technische und wissenschaftliche Innovationen in den letzten Jahrzehnten in erster Linie durch deren Kritiker einer Öffentlichkeit bekannt. Im Mittelpunkt stehen weniger die Möglichkeiten neuer Schlüsseltechnologien als vielmehr Abwehr und Angst.
Denkt man die eingeschlagene Entwicklung weiter, so könnte Europa in den letzten Jahrzehnten dieses Jahrtausends noch wirtschaftlich überrannt und hinsichtlich der neuen technologischen Schlüsselindustrien zum importabhängigen Kontinent werden. Wie immer aber diese wirtschaftliche Entwicklung verlaufen wird, der Umbruch wird in jedem Fall einschneidende Veränderungen für den einzelnen mit sich bringen.
Kultur, Kunst, Freizeit sind integrierende Bestandteile im kommenden Prozeß der Veränderung – sie werden beeinflußt, erhalten zusätzliche Möglichkeiten, aber auch neue Bedrohungen. Die Arbeit hat sich nicht nur in ihrem Stellenwert im Leben eines Menschen in den letzten zwei Jahrzehnten bereits wesentlich verändert, sie verändert sich im zeitlichen Ausmaß, sie verändert sich aber auch in der Qualität. Die Veränderung der Arbeit vollzieht sich auch in einer Verlagerung von Arbeitsprozessen. Eine neue Form von Heimarbeit entsteht, neue Kommunikationssysteme schaffen eine neue Integration von Privat- und Arbeitsbereich. Nach einer Prognose der amerikanischen "National Science Foundation" könnten bis zum Jahre 2000 rund 40 Prozent aller erwerbstätigen Amerikaner elektronische Heimarbeiter sein.
Die Hochtechnologie der Informationsgesellschaft oder die "Computerkultur" – um den Titel des März-"Kursbuches" 1984 zu verwenden – bedeuten für Kunst und Kultur im wesentlichen Veränderungen in zwei Richtungen – erstens für den Kulturschaffenden, zweitens für das Publikum.
Der Kulturschaffende erhält durch die Hochtechnologie neue Instrumente, neue Medien, neue Hilfsmittel. Für das Publikum bedeutet diese Entwicklung ebenfalls neue Möglichkeiten in der kulturellen Einzelaktivität, Veränderung der kulturellen Bedürfnisse, Veränderungen im kulturellen Verhalten.
Die Computertechnologie schafft stufenweise für alle Kunstbereiche neue Situationen: Zur Schreibmaschine kommt das Textverarbeitungsgerät, zum Musikinstrument kommen der Digital-Synthesizer und Musikcomputer, zum Zeichenstift kommt der Lichtgriffel, zum gezeichneten, gemalten oder fotografierten Bild kommt das digitale Bild, zum gedruckten Wort der Bildschirm als Universalgerät.
Die Erfindung der Schrift zählt zu den revolutionärsten menschlichen Erfindungen – die Schrift bedeutet die Überwindung von Raum und Zeit, die Ermöglichung eines permanenten Datenspeichers, die Grundlage, die jeweiligen Errungenschaften für die nächste Generation aufrechterhalten zu können. Vor dem Buchdruck war jedes Buch ein Einzelstück. Der Buchdruck ermöglichte für jedermann den Erwerb dieses Buches und damit den Zugang zum jeweiligen Inhalt. Als nächste Stufe steht das Computerbuch bevor: Ein Stück Silizium, mit der Post versandt oder über Mikrowellen spontan übermittelt. Die Kosten sind ein Bruchteil derer des heutigen Buches. Das bedeutet keineswegs, daß das gedruckte Buch verschwindet, sondern daß zum gedruckten Buch ein neues Angebot hinzukommt, denn die Vergangenheit zeigt, daß eine neue Innovation in der Regel die vorangegangene keineswegs ersetzt, sondern im Stellenwert verändert und neue Möglichkeiten anbietet.
Im Bereich der Architektur ist der Computer zum alltäglichen Werkzeug geworden.
Der Musikcomputer hat zunächst im Bereich der kommerziellen Musikproduktion raschen Eingang gefunden. Die kommenden Entwicklungen eröffnen für den Komponisten, aber auch für den Musiker radikale Möglichkeiten.
Die zweite große Auswirkung der Informationsgesellschaft im kulturellen Bereich bezieht sich auf den einzelnen, sowohl in seinen kreativen kulturellen Aktivitäten als auch in seinen Bedürfnissen im kulturellen Erlebnisfeld. Die Computerkultur ermöglicht dem einzelnen, den Computer als Werkzeug zur kreativen Betätigung zu nützen: Heimcomputer und Personalcomputer bringen einen weiteren Schritt in Richtung Demokratisierung von Kunst und Kultur. Waren bis jetzt bestimmte Nutzungsmöglichkeiten nur Institutionen oder Großbetrieben vorbehalten, so erhält der einzelne durch Heim- oder Personalcomputer Möglichkeiten in die Hand, die bis jetzt versperrt und unerschwinglich waren. Der Musikcomputer wird sich in diesem Jahrzehnt im Softwarebereich enorm erweitern, voraussichtlich nach den Videospielen den nächsten Boom auslösen. Das gleiche gilt im graphischen Bereich, beim digitalen Bild. Die Computerkultur eröffnet daher für den einzelnen neue Möglichkeiten und Chancen.
Die kulturellen Bedürfnisse und das kulturelle Verhalten der Menschen ändert sich kontinuierlich. Der Amerikaner John Naisbitt bezeichnet als einen der wesentlichsten "Megatrends", die unser Leben verändern werden, die Formel: Je höher die Technologie, desto höher das Kontaktbedürfnis. Je höher die Technologie im Arbeitsbereich, im eigenen Heim, im öffentlichen Bereich, desto stärker wird als Balanceakt das Streben zur Persönlichkeitsentwicklung, zum Kontaktbedürfnis, zum Spirituellen. Geistesgeschichtliche und gesellschaftliche Prozesse vollziehen sich in einem unregelmäßigen Auf und Ab, in Wellenbewegungen, jeder Trend bewirkt einen Gegentrend. Eine der wesentlichsten Auswirkungen der Hochtechnologie auf das kulturelle Verhalten liegt im zunehmenden Kontaktbedürfnis. John Naisbitt: "Je mehr Technologie wir in die Gesellschaft einführen, desto mehr drängen sich die Menschen zusammen, wollen miteinander und beisammen sein, nicht allein sein, im Kino, bei Rockkonzerten, beim Einkaufsbummel … Man geht nicht bloß ins Kino, um sich Filme anzusehen, man geht vielmehr ins Kino, um mit 200 anderen Menschen zu lachen und zu weinen. Es ist ein Ereignis." Die Menschen entwickeln ein neues WIR-Erleben, im Kunst- und Kulturbereich steigt das Bedürfnis nach Ereignissen und nach Erlebnissen. Das gemeinsame Erleben tritt in den Vordergrund. In den letzten zwei Jahrzehnten haben weltweit die Open-air-Veranstaltungen sprunghaft zugenommen. Rolling-Stones-Tourneen, Rock-Konzerte, Großveranstaltungen wirken als Signale für ein gemeinsames Erleben.
In dem aufgezeigten Umfeld der Entwicklungen ist ARS ELECTRONICA zu sehen, das Linzer Festival für Kunst, Technologie und Gesellschaft. Seit der ersten ARS ELECTRONICA 1979 sind fünf Jahre vergangen. Vor fünf Jahren kam gerade Apple II auf den Markt. Heute hat inzwischen Apple als erster Personal-Computer die Technologielandschaft verändert. Silicon Valley ist in dieser Zeit zum neuen Goldgräberland geworden, zum Zentrum der neuen Technologie, zum Signal für die High-Technology-Culture.
ARS ELECTRONICA ist ein Festival der Spurensuche – Spuren, die die Hochtechnologie im Kunst- und Kulturbereich, aber auch in der Gesellschaft zieht und hinterläßt. ARS ELECTRONICA ist damit ein Festival, das von den Möglichkeiten, Problemstellungen und Bedürfnissen der Zukunft bestimmt wird, der Informationsgesellschaft, der Computerkultur, des kybernetischen Zeitalters. ARS ELECTRONICA versteht sich daher nicht als ausschließliches Forum für "Elektronische Kunst", auch nicht als fortschrittsgläubiges Technologiefestival, sondern als Forum und Labor für die Auswirkungen und Veränderungen der neuen Technologien in Kunst, Kultur und in der Gesellschaft, wobei die vorhin ausgeführten Richtungen in bezug auf die Kulturschaffenden sowie in bezug auf das veränderte kulturelle Verhalten von Bedeutung sind. Das Programmangebot der ARS ELECTRONICA ist bewußt ambivalent: Die Anwendung neuer Medien und Technologien im künstlerischen und kulturellen Bereich steht neben Ereignisprojekten im offenen Raum. Die Eckpfeiler der Ars Electronica 84 bilden daher zwei Open-air-Ereignisse im Linzer Donaupark – als Angebote für Zehntausende von Menschen zu einem gemeinsamen Erleben, zu einem Kontaktereignis. Es handelt sich um "DAS UNIVERSUM" von Isao Tomita, die Geschichte unseres Kosmos mit Musik, Licht und Laser und um die "LINZER KLANGWOLKE" mit der 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven. Die "LINZER KLANGWOLKE" und "DAS UNIVERSUM" kommen dem Bedürfnis nach, ein Ereignis miteinander zu erleben, beisammen zu sein, ein WIR-Gefühl zu entwickeln. Die "LINZER KLANGWOLKE" hat 1979 in Europa ein Signal für künstlerische Großprojekte im offenen Raum gesetzt. Zwischen den beiden Open-air-Ereignissen umspannt das Programmangebot Musiktheater, Medienoper, Videooperette, Konzerte, Präsentationen elektronischer Musik, Workshops über elektronische Kunst, Überlegungen zu Chancen und Perspektiven der Mikroelektronik für den Menschen und das Fixieren einer neuen Jahreszahl – 2019.
Den einzelnen Projekten haftet das Labor an, es sind Neuentwicklungen und Unikate – sie können sich als Signal für eine richtungweisende Tendenz erweisen oder das Blitzlicht in eine Sackgasse werfen oder schlicht und einfach eine Fehlentwicklung in der künstlerischen Anwendung von Technologien demonstrieren. Ausgangspunkt allerdings ist die Überzeugung, daß es für unsere Zukunft sinnvoller ist, sich rechtzeitig über die Möglichkeiten und Auswirkungen der Hochtechnologie bewußt zu werden, um ein neues Denken zu entwickeln, neue Chancen zu nutzen, gleichzeitig aber Gefahren erkennen und steuern zu können. Die Kinder, die im Orwell-Jahr geboren werden, sind im Jahr 2019 35 Jahre alt. Sie bilden die Generation, die dann die Verantwortung für die Gesellschaft weitgehend tragen wird. Markiert 1984 den Umbruch unserer Gesellschaft, wird dieser Wandel 2019 voraussichtlich abgeschlossen sein – die neuen Basisinnovationen werden bereits zu den alten Technologien zählen, ihre Infrastruktur wird unsere Wirtschaft, unsere Gesellschaft, Kunst und Kultur bestimmen. Das elektronische Zeitalter wird in der Blüte stehen. Die Spuren dahin zu legen, ist allerdings die Herausforderung von heute.
Dr. Hannes Leopoldseder Intendant des ORF-Landesstudios Oberösterreich
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