Musik und Technik heute - Die Parameter des Klangraumes in der Musik
Die Klangkuppel bei der Ars Electronica 1984 in Linz
'Leo Küpper
Leo Küpper
KLEINE GESCHICHTE DER PARAMETER DES KLANGRAUMES IN DER MUSIK Zur Zeit der Pharaonen, etwa 2700 v.Chr., lebte in Ägypten HUFU-'AN, der erste geschichtlich dokumentierte Musiker, und er widmete — es ist unglaublich, aber wahr — seine Studien dem musikalischen Parameter von Höhen, die damals unbekannt waren. Möglicherweise befinden wir uns heute in einer ähnlichen Situation wie er damals, wenn wir angesichts der unbekannten Parameter im musikalischen Raum den wahrscheinlich langen Weg vor uns negieren, so wie Hufu-'an den langen Weg von der Entdeckung der Höhenparameter bis Bach nicht ahnen konnte. Ist der Parameter des musikalischen Raumes so reichhaltig wie der in der traditionellen Musik so guterforschte Höhenparameter oder so breit variiert wie der Parameter der Klangfarbe durch die heutige Musik? Die Linzer Klangkuppel soll die Reichhaltigkeit dieses noch unerschlossenen Parameters in der Musik erforschen.
Wenn sich die Musikgeschichte mit den Parametern von Höhe, Timbre oder Instrumenten beschäftigt hat, so kann man trotzdem feststellen, daß sogar sehr viele Komponisten der Musikgeschichte auf ihre Weise und mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln die unbekannten musikalischen Parameter erforschten. Obwohl wir noch nicht viel weitergekommen sind (die ästhetische Wahrnehmung von Musik war seither keinen großen Änderungen unterworfen), so hat sich doch ein Ding stark entwickelt: die elektronische Technologie.
Betrachtet man die Vergangenheit der Musik, so wird man bemerken, daß sich die experimentellen Komponisten dort aufgehalten haben, wo experimentelle Bauwerke entstanden waren. Die Vielfalt in der Architektur hat auch zu einer Polyphonie in der Musik geführt. Experimente mit musikalischer Räumlichkeit fanden in Venedig (St. Markus) und Rom (St. Peter) statt. Auch wenn der Widerhall in den Kirchen zu lang war, um ausführliche Forschung zu betreiben, so versuchten die Komponisten dennoch, ihn in ihre Werke zu integrieren. Monteverdi, Palestrina, Orlando di Lasso, aber auch Victoria komponierten Musik für den Raum. Andrea und Giovanni Gabrieli ließen in St. Markus in Venedig den Chor tetraphonisch singen. (Die geometrische Bauweise der Kirchen, ihre Konzertsäle, eignen sich für Darbietungen räumlicher Musik.) Thomas Thallis verfügte bereits über einige Erfahrung, als er seine "Motette a Quaranta" (für 40 Stimmen!) komponierte, "Spem in Alium" singt der Chor (in räumlicher Verteilung), ähnlich wie Andrea Gabrielis "Symphoniae Sacrae", wobei Chor und Orchester respondieren. In der St.-Thomas-Kirche in Leipzig experimentierte J. S. Bach mit den räumlichen Parametern bei seiner Passionsmusik (in seiner Matthäuspassion respondieren Orgel, Chor und Trompeten in Dialogen im Raum der Kirche).
Nun überspringen wir die spätbarocken Komponisten, die sich nicht mit räumlicher Musik befaßt haben und kommen zu den Romantikern. Ludwig van Beethoven komponierte nicht viel Opernmusik, und doch kommt in seiner "Eleonore" ein Chor hinter der Bühne vor, der den räumlichen Effekt ausnützt. Auch W. A. Mozart komponierte seinen "Don Giovanni" unter Beachtung der räumlichen Parameter, wobei drei Orchester auf der Bühne respondieren. In seinem Requiem "Tuba Mirum" wird das Publikum von vier Orchestern umstellt, wodurch ein außerordentlicher tetraphonischer Effekt entsteht.
In der heutigen Zeit geht K.-H. Stockhausen bezüglich der Erforschung der Parameter noch einen Schritt weiter. In seinem Werk "Carré" verwendet er vier Orchester und vier Dirigenten.
Speziell räumliche Aufführungen in der heutigen Zeit Unsere Zeit realisiert die Aufführungen mit räumlichen Parametern sehr methodisch (ohne die zahlreichen wissenschaftlichen Forschungsprogramme dabei zu vergessen), unter Vermeidung von Backstage-Effekten und mit der Absicht, sich ganz der Gestaltung des Raumes in kunstvoller Weise zu widmen.
Der Philips-Pavillon bei der Expo 1958 in Brüssel Architekten: Le Corbusier und I. Xenakis Komponist: E. Varèse ("Poème Electronique")
Die Steinblumen der gotischen Kathedralen wurden zu metallenen Figuren von hyperbolischer und parabolischer Form. Etwa 450 Lautsprecher (von 10 bis 20 Watt) wurden den Wänden entlang verteilt. Das Stück von Edgar Varèse wurde durch einen 15-Spur-Cassettenrecorder im Raum verteilt. Die Verstärkung der Lautsprecher wurde automatisch gesteuert und die Musik durch Licht und visuelle Effekte (Architektur, Light- und Sound-Show) unterstrichen. Diese ganze künstlerische Diffusion war vorprogrammiert (Steuerspannungen auf den Aufnahmen kontrollierten Verstärker) und das Programm lief automatisch vom Anfang bis zum Ende ab.
Der deutsche Pavillon bei der Expo 1970 in Osaka Abb. 6: Schematische Darstellung des Deutschen Pavillons
Die Erfahrungen des Deutschen Pavillons in Osaka sind ein weiterer Schritt vorwärts in der Entwicklung der räumlichen Parameter in der Musik. Ein kugelförmiger Raum mit einem Durchmesser von 30 Metern wurde mit 50 Lautsprechern ausgestattet. Ein Gitter, das als Fußboden diente, teilte die Klangkuppel, und die Besucher wurden gebeten, Platz zu nehmen. Durch dieses Gitter strömte die Musik in den Raum. Der Nachhall im Raum dauerte etwa 1,4 Sekunden, die Dynamik wurde sowohl händisch als auch automatisch gesteuert. Den Veranstaltern Prof. F. Winckel und K.-H. Stockhausen war es dadurch möglich, ihren langjährigen Traum eines sphärischen Klanges zu verwirklichen.
Galleria Nazionale d´Arte Moderna, Rom 1977 Aufgeführt durch L. Küpper, Nuova Consonanza und V. Consoli (Technik). Konstruktion einer Viertelkuppel mit 72 Drei- und Vierweglautsprechern (wodurch etwa 200 verschiedene Klangquellen entstehen). Das Ziel der Veranstaltung war eine genaue Erforschung der Raumparameter in der Musik durch die Schaffung eines neuen Musikinstrumentes und durch die Vermeidung der Domäne von Raumeffekten und herkömmlicher Effekte wie Stereo oder Tetraphonie. Ein "Raumklavier" ermöglicht es, dem Raum entsprechend zu komponieren und das Ergebnis in den Termini einer genauen geometrischen Form auszudrücken.
In dieser Kuppel wurden folgende Aufführungen realisiert:
PUBLIKUMS-COMPUTERMUSIK Die Musik wurde durch das Publikum in Form von digitalen Impulsen aufgeführt (analog aufgefangen durch mehrere Mikrophone, die im Raum verteilt waren). Diese digitalen Impulse steuerte eine komplexe Vielfalt von Vorprogrammen (als Strukturen), die in der Klangkuppel hörbar wurden und automatisch wieder verschwanden. Bekam die Maschine von außen her keine Anregungen, so konnte sie sich selbst stimulieren.
RÄUMLICHE DIFFUSION DER MUSIK AUF DER BASIS VON TONBANDAUFNAHMEN Vier Musiker spielten im Raum nach einer Partitur oder improvisierten.
LIVE-KONZERTE mit dem "Nuova-Consonanza"-Ensemble aus Rom. Mit Hilfe von Mikrophonen spielten vier Instrumentalisten in der Kuppel, während vier weitere Musiker außerhalb der Kuppel spielten (zusammen 8 Musiker). Für das Publikum. das sehr zahlreich kam, war es eine große Überraschung, die Instrumente nicht mehr auf einem Punkt fixiert zu hören, sondern durch den Raum schwebend. (Das Klavier befand sich im wahrsten Sinne des Wortes in der Luft, und das Cello reiste in der Kuppel herum, umkreiste das Publikum …) Dieses Experiment konnte glücklicherweise einen Monat lang durchgeführt werden, wodurch die Teilnehmer Erfahrungen über den Umgang mit Klangraumparametern sammelten.
Chappelle des Pénitents Blancs in Avignon, Frankreich 1981 Eine zweite Aufführung dieser Art versuchten die Veranstalter Leo Küpper und V. Consoli in Avignon zu machen. Abermals wurde eine Viertelkuppel in der Kirche installiert und die Arbeit schien gut zu beginnen, da in der Kirche bereits ein Gerüst aufgestellt war. Trotzdem funktionierte das Projekt nicht so gut wie in Rom. Der Nachhall war zu lang, und außerdem konnte man erkennen, daß die elektroakustischen Komponisten, die ihre eigenen Interpreten waren, eine so stereo-orientierte Erfahrung hatten, die sie nicht umarbeiten konnten oder wollten, nicht einmal in einer Klangkuppel. Anderseits muß die Artikulation eines Raumparameters zwar nicht von einem Virtuosen ausgeführt werden, jedoch braucht man dazu gut ausgebildete Interpreten, die selten zu finden sind. Da es weder Räume noch Klangkuppeln oder Diffusionssysteme (die genug Komplexität und Qualität haben), noch Instrumente für räumliches Spiel gibt, ist es geradezu verständlich, daß man auch keine Interpreten mehr dafür findet.
MUSIK IM RAUM Der Höhenparameter in der Musik hat sich sehr langsam entwickelt. Primitive Musik verwendete nicht mehr als zwei oder drei Intervalle. Aus dem Orient und aus Griechenland kamen Tonleitern nach Europa: die pentatonische aus Fernost, die indische und persische Tonleiter (zumeist heptatonisch), aus Griechenland die griechische Tonleiter und die des Mittelalters. Das 7-Ton-System entwickelte sich aus einer 12-Ton-Tonleiter, die nach und nach temperiert wurde. Diese Temperation war 12-Ton-Musik. Heutzutage werden die Höhenskalen weiterentwickelt, obwohl die Timbre-Forschung sie an Wichtigkeit übertrifft, die Intervalle scheinen für die Entwicklung der heutigen technischen Musik unwichtig zu sein.
Vergleichsweise können wir uns die Frage stellen, ob der Raumparameter die gleiche langsame geschichtliche Entwicklung durchmachen wird oder ob die Wissenschaft seine Entwicklung beschleunigen wird. Wie bereits festgestellt, wurden schon viele Experimente durchgeführt, ohne daß dieser Parameter bisher als autonome Höhe aufscheinen konnte. Möglicherweise wird seine Entwicklung aufgrund der technischen Grenzen unmöglich bleiben. Es ist äußerst schwierig, ein Instrument zu spielen oder zu singen, während man sich im akustischen Raum bewegt. Wenn überhaupt, so ist dies nur in einer Dimension möglich. Durch die musikalische Unbeweglichkeit in Verbindung mit der statischen Konzeption der Welt wird der räumliche Parameter niemals zu einer ausdrücklichen Notwendigkeit werden. Die Entwicklung des Orchesters (Summierung von Instrumentalisten unter der einheitlichen Leitung eines Dirigenten) brachte keine Neuerung für die räumlichen Bedürfnisse. Im Gegenteil, der Dirigent verursacht noch mehr Immobilität des Klangraumparameters. Vielleicht wächst die Wichtigkeit des Klangraumparameters durch den technischen Fortschritt. Die Technologie der Lautsprecher, Automatisation, die Entwicklung von variablen Gain-Verstärkern (die automatisch gesteuert werden), die Verteilung von Klängen durch Multi-Track-Recorder … Heutzutage ist es möglich, eine automatische Schleife zwischen dem Klangraum und der Höhe oder der Intensität zu erzeugen, als würde der Ton sich im Raum bewegen, der zunimmt oder höher wird.
KLANGKUPPEL Auch die Intensität jedes einzelnen Kanals kann mit Hilfe von manuellen Reglern bestimmt werden oder durch Steuerung der Intensität durch einen Computer (Digital Gates). Im Bereich der Elektronik wurde die Räumlichkeit zu einem leichten Spiel und darüber hinaus auch sehr präzise. Es mangelte aber immer noch am geeigneten Raum: der Klangkuppel. Ist jedoch vom Gesichtspunkt der Technik aus alles vorbereitet für eine rasche Entwicklung, so braucht das Gebiet der Komposition und Interpretation noch einige Erfindungen. Wie auch immer, eine schnelle Entwicklung des Klangraumparameters innerhalb der nächsten paar Jahre kann mit Sicherheit vorhergesagt werden.
Physikalische Parameter der räumlichen Wahrnehmung Da der überwiegende Teil unserer Wahrnehmung sehr komplex und gut entwickelt ist, so ist auch das räumliche Wahrnehmungsvermögen beim Menschen sehr ausgeprägt (Akustik und Psychoakustik reichen nicht aus, um diese Erfahrungen zu erklären). Auch die tonhöhenorientierte Musik kann man nicht theoretisch ausdrücken, sie muß praktisch ausgeführt werden. Die Punkte der Abb. 9 veranschaulichen die Anzahl der verschiedenen räumlichen Perzeptionen, die wir in einer Halbkugel unterscheiden können. Zur besseren Anschaulichkeit haben wir das sphärische Gebiet in drei genaue Sektoren eingeteilt. Es ist erstaunlich, daß im horizontal-vertikalen Raum, wo wir annehmen, daß die Wahrnehmung gut sein müßte, sie sehr schwach ist. Möglicherweise kommt das daher, daß unsere Augen denselben Raum zur Verfügung haben und uns ein Bild von audio-visueller Vielfalt vermitteln. Anderseits sind wir sehr empfänglich für Dinge, die wir vor uns oder in einer Höhe zwischen 30 und 60 Grad erblicken. Wir können drei Wahrnehmungsräume unterscheiden: - den Raum der größten räumlichen Sensibilität
- den Raum der mittleren Sensibilität
- den Raum der beschränkten räumlichen Sensibilität
Unsere begrenzte Sensibilität für Dinge, die sich vor uns befinden, kann dadurch erklärt werden, daß die Augen eine Abhilfe dagegen bieten (auch für die Hinterseite, da der Kopf selbst die Wahrnehmung abschattet). Anderseits sind für die Seite der physikalischen Parameter (von Intensität und Zeit) jene am unterschiedlichsten, die maßgeblich für die räumliche Wahrnehmung sind. Was aber ist mit dem Raum zwischen 30 und 60 Grad aufwärts? Könnte es sich dabei um ein Andenken an die Zeit handeln, zu der der Mensch in den Wäldern lebte und seine Nahrung in den Bäumen suchte?
In der täglichen Klangwahrnehmung ist die Wahrnehmung des Raumes fundamental (es ist beispielsweise wichtiger zu wissen, von wo ein Auto kommt, als zu analysieren wie hoch es ist, oder auf das Timbre seines Motors zu achten). Daraus können wir schließen, daß Richtungswahrnehmung lebensnotwendig ist, um Gefahren zu vermeiden und ihnen auszuweichen.
Psycho-akustische Begrenzung der räumlichen Wahrnehmung Unsere räumliche Wahrnehmungsfähigkeit hängt von mehreren Faktoren ab. Dem Standort der Klangquelle in Relation zum Kopf des Hörers (in Graden), dem Zeitunterschied der Wahrnehmung (in Millisekunden), den Intensitätsunterschieden der Wahrnehmung (in dB), dem räumlichen Dasein (die Totale der Komponenten des Klangspektrums), der Phase (in Graden oder zeitlichen Intervallen) und der Aufmerksamkeit, die der Botschaft geschenkt wird.
Üblicherweise durchläuft die mikroskopische Information eine Skala von Wahrnehmungen, wird zu einer mesoskopischen Information, geht weiter und wird zu einer makroskopischen Information, die wiederum in ein generelles Informationssystem integriert werden kann, womit sich der Kreis schließt. Wir nehmen das Stadium der niedrigen Infrafrequenzen (in Form von temporalen Rhythmen) wahr. Räumliche Wahrnehmung ist sehr genau, was die hohen Frequenzen betrifft, verringert sich aber mit dem Abnehmen der Frequenzen auf auditivem Sektor. So nehmen wir Klangimpulse räumlicher Natur besser wahr als sinusförmige Töne (räumliche Fülle steigert die Fähigkeit der räumlichen Wahrnehmung). Sicherlich ist diese Wahrnehmung stark mit den visuellen Gewohnheiten verbunden. St. Bernhard und der Theoretiker Achard wollten in ihren Architekturen keine Fenster, da sie annahmen, auditive Wahrnehmung würde genügen, um Frohsinn zu erzeugen. Sie schulten eher das Ohr als die Augen, und für sie war die Stille die Grundlage des Hörens (denn die Musik kommt aus der Stille und fällt auch wieder in die Stille zurück). Der Nachhall war wichtig, denn er sollte den Geist räumlich machen und zu beschaulichem Leben führen. Durch die Architektur konnte der Nachhall bis zu vier Sekunden angehalten werden. Hörvermögen sollte der Weg zu "Vision" sein.
Wir haben unsere eigenen Erfahrungen mit dem Klangraum gemacht: eine ganze Nacht lang einen einzigen Sinuston angehorcht, weißes Rauschen, rückgekoppelte Tonbänder — in dieser Welt der differenzierten Informationen sind die Grenzen unserer Wahrnehmung überkreuzt und völlig ausgewechselt. (Bei einem Sinuston beispielsweise ist der Begriff des Raumes ausschließlich gefühlsmäßig, und keine Willensäußerung kann das Signal zu seiner Klangquelle, dem Lautsprecher, zurücktragen.) Jeder kann diese völlig außerhalb der von uns gewohnten liegenden Welt ausprobieren.
Die Interpreten/Komponisten und die räumliche Diffusion Die neue technische Musik (elektronische, kybernetische, Computermusik etc.) ist eng mit der Entwicklung der räumlichen Parameter verbunden, und das bereits seit mehr als dreißig Jahren.
Die Entwicklung der räumlichen Gestalt von der Monophonie zur Kinephonie Ursprünglich war die räumliche Diffusion so monophonisch wie Fernsehen es immer noch ist. Stereo verwendet zwei Kanäle zur Klangverteilung (links und rechts zu 60 Grad), und zahlreiche wissenschaftliche Abhandlungen führen es darauf zurück, daß sowohl Radio als auch Schallplattenindustrie darauf zurückgreifen. Triphonie braucht drei Kanäle (dreiseitige Information schafft eine horizontale Ebene), Tetraphonie, mit ihren vier Kanälen, ist die Verteilungsmethode bei elektronischen Vierspuraufnahmen. Es ist auch durchaus möglich, für vier Kanäle zu komponieren, auch im Studio.
Trotzdem nimmt der Begriff der Raumkomposition nur wenig Platz im Denken der Komponisten ein. Hexaphonie, mit sechs Kanälen, kann in Tetraphonie und Stereo aufgeteilt werden. Octophonie kann man in zwei Tetraphonien und eine Stereo-Leitung aufteilen (wobei die Aufteilung vom Aufführungsraum und der Arbeit abhängt). Die musikalische Form und die Gestaltung des Aufführungsraumes müssen auch die Teilnahme des Publikums einrechnen.
Mit Hilfe von vier Kanälen kann man den Ton bereits im Kreis bewegen (auch wenn der Klang dabei noch von einem Kanal zum anderen springt, so erreicht man bei zwölf Kanälen schon eine sehr lineare Bewegung). Diese Bewegung kann sowohl durch manuelle Steuerung der Balance als auch automatisch, durch analoge Gates erfolgen. Diese Bewegung des Klanges nennt man Kinephonie (kine (griech.): Bewegung, phon: Stimme, Ton). Kinephonie ist daher Musik, die sich im Raum bewegt. (Abb. 12 zeigt eine 24-Kanal-Einheit, bei der sich der Ton in zwei kinephonischen Linien im umgekehrten Sinn bewegt. Bis hierher bewegen wir uns noch immer innerhalb der Ebene der Diffusion: einer horizontalen Ebene, auf der wir nicht so auffassungsfähig sind wie im Räumlichen. Abbildung 13 zeigt eine frontale Diffusion, die von der Pariser Schule (INA/GRM) "akusmatisch" genannt wird, ein Terminus, der sich auf jeden Ton, dessen Abstammung nicht determiniert werden kann, bezieht. Die Lautsprecher befinden sich, wie bei einem Orchester, vor dem Publikum. Der Klangraum ist in Klangsektoren und Spektralräume im geometrischen Sinn aufgeteilt, und die Komponisten interpretieren ihre eigenen Werke durch Zuordnung eines bestimmten Timbres zu jeder Klangquelle. Die Tendenz geht dahin, jedem Lautsprecher ein eigenes Instrument zuzuordnen (Lautsprecherorchester). Es muß daher nochmals darauf hingewiesen werden, daß die Verteilung des Klanges auf der Horizontalen eine minimale räumliche Wahrnehmung zuläßt.
Ein völlig anderes Konzept ist die Verteilung des Klanges in einer Klangkuppel. Lange Zeit hindurch träumte die Menschheit von Sphärenmusik, eng verkettet mit Astralmusik. Die Kuppel ist trotz allem nicht der geeignetste Raum für die Klangdiffusion, da die Gestalt so manches Problem mit sich bringt. Auf dieser Abbildung sehen wir zwei kinephonische Linien auf zwei verschiedenen Ebenen. Innerhalb der Kuppel können wir beides, Klanglinien und Klangflächen, verteilen (und wenn die Qualität der Lautsprecher gut genug ist, wird diese Fläche akustisch, was bedeutet, daß die Lautsprecher nicht mehr einzeln wahrnehmbar sind. Eine Viola beispielsweise hört man dann als eine mikroskopische Linie von kleinen Lautsprechern, die auf diesen Bereich der Vibration spezialisiert sind. Schließlich kann man heutzutage ein ganzes Vokabular der räumlichen Artikulation entwickeln, von der punktuellen Verteilung bis zur kinephonischen Linie mit feststehenden oder sich bewegenden Klangflächen. Punkt, Linie, Fläche, Klangkörper sind die neuen Begriffe der zeitgemäßen Musik, besonders, da die Bewegungen im Raum vorgeführt werden. Um in einem Aufführungsraum gut arbeiten zu können, muß er "trocken" sein, was bedeutet, daß der Nachhall auf ein Minimum reduziert werden muß. Man kann jeden erwünschten Widerhall, den man braucht und wünscht, synthetisieren und jede Form von Raum schaffen, wie man ihn braucht. Neu ist der kinephonische Nachhall (völlig künstlich), der technisch sehr leicht zu produzieren ist. Durch Integration all dieser neuen Aspekte in einer Klangkuppel entstand ein neues Musikinstrument.
DER KOMPONIST IM KLANGRAUM Der Aufführungsraum, das Orchester, die Musiker und die Zuhörer stehen in Wechselbeziehung zueinander: sie werden zu einem Wesen. Solange das Orchester vor dem Publikum spielt, wird der räumliche Parameter nicht wirksam (das Orchester spielt akusmatisch, da das Publikum sowohl den Dirigenten als auch das Orchester spielen sieht.) Die Gesamtheit des Orchesters wird dem Zuhörer durch eine große Anzahl komplexer Lautsprecher zugetragen. Möglicherweise wird die "Message" räumlich ein wenig verzerrt, da jedoch nur auf das Spiel von Höhen und Timbres Wert gelegt wird, ergibt sich daraus kein ästhetischer Widerspruch.
Die Architekten sind heutzutage sehr mit der Konstruktion neuer Aufführungsräume beschäftigt (besonders in den USA). Aber keiner von ihnen wurde nach anderen Gesichtspunkten geplant als den traditionellen, mit der Klangverteilung durch ein Orchester.
Träumer vom Raum Abb. 17: Der französische Architekt C. N. Ledoux erdachte ein sphärisches Haus (er übernahm die Idee für die Ausstellungen in Paris 1900, Brüssel 1958 und Montréal 1967). Der Traum von der Kuppel kam aus Fernost zu uns (in Verbindung mit der Astrologie).
Mit dem Begriff "Raum" verbinden wir üblicherweise Weite, Berge oder sogar den Weltraum, aber nur wenige Menschen konnten sich bisher vorstellen, den Raum als Instrument zu betrachten, als Möglichkeit eines musikalischen Ausdruckes, als intellektuelles geistiges Spiel, wie das Spiel mit der Tonhöhe. Der Philips-Pavillon war eine interessante Abhandlung in dieser Richtung, wich aber auf das audio-visuelle Gebiet ab (mit einem erfolgreichen Vergleich von Automatisation und einem gut anwendbaren Klangverteilungssystem). Die Aufführungshalle des IRCAM wurde auf ein bestimmtes Ziel hin geplant und ausgeführt: die Verteilung von zeitgenössischer Musik, insbesondere instrumentaler. Die Instrumentalisten befinden sich im Zentrum des Raumes, in engem Kontakt mit dem Publikum. Die räumliche Dualität besteht dabei immer noch, und Kinephonie ist schwer zu realisieren. Offensichtlich ist hier ein neues Bedürfnis zutage getreten.
DIE LINZER KLANGKUPPEL Es ist ein seltener Glücksfall, daß eine wichtige kulturelle Institution es auf sich nimmt, ein neues Projekt auf dem Gebiet des Klangraumes zu verwirklichen. Dank der Ars Electronica 84 kann dieses Experiment in die Tat umgesetzt werden. Das Brucknerhaus hat drei Aufführungsräume zur Verfügung: einen großen Saal, einen mittleren und einen kleinen Saal mit sehr schöner Ausstattung.
Der mittlere Saal im Brucknerhaus Dieser Saal bietet Platz für 352 Personen und ist mit hellem Holz getäfelt, der Nachhall wird dadurch ziemlich unterdrückt, Um das Gerüst aufzubauen, werden die Sitzreihen entfernt und passend für die Klangkuppel angeordnet. Das Gerüst wird 104 Lautsprecher tragen, die nach den Plänen der Projektdesigner aufgestellt werden. Da die Lautsprecher 3- und 4-Weg-Konstruktionen sind, steigert sich die Anzahl der Lautsprecher auf ungefähr 350.
Die beste Akustik innerhalb der Kuppel ist direkt in ihrem Mittelpunkt. Um zu vermeiden, daß nur eine Elite von Zuhörern in den Genuß des optimalen Klanges kommt, wurde der Mittelpunkt der Kuppel so groß wie möglich gestaltet. Zwischen dem Hörer und dem Lautsprecher muß ein Abstand von mindestens zehn Metern eingehalten werden, um die Klangquellen sich ständig bewegen zu lassen (im Fall von kinephonischer Musik), ohne die Zuhörer, die auf ihren Platz fixiert sind, zu ermüden. Der wirkliche Mittelpunkt der Kuppel ist ein wenig unter der horizontalen Linie des Bodens, dadurch ist es möglich, die Klangkuppel zu erweitern, damit eine größere Anzahl von Zuhörern in den Genuß der optimalen Akustik kommt. Mit Rücksichtnahme auf die Trapezform des Aufführungsraumes entschied man sich für eine eiförmige Klangkuppel, die den Proportionen des Aufführungsraumes angepaßt ist.
Experimentelle Modelle Als Studie über die Probleme, die bei der Linzer Klangkuppel auftreten könnten, wurde eine Versuchskuppel konstruiert. Wir überdachten die Probleme der Lautsprecherinstallation auf der Trägerkonstruktion, Formen und Anzahl der Kanäle in bezug auf die Dimensionen des Aufführungsraumes und auch die ästhetischen Aspekte.
Abb. 23: Versuchskuppel aus Plexiglas zu Studienzwecken für die Klangverteilungsprobleme der Linzer Klangkuppel. Von diesem Modell ausgehend konnten wir uns mit der Frage nach der nötigen Anzahl der Klangquellen, ihrer Dichte und den räumlichen Klangtrajektorien befassen.
Da wir das Gebiet der räumlichen Wahrnehmung kennen, ist es uns möglich, die Kuppel als eine Funktion dieser differenzierten Wahrnehmung, keinesfalls zu klein zu erschaffen. Andernfalls würde die Kuppel mit Klangquellen überlastet sein. Wir wissen, daß die Höhenskala der Töne, die wir wahrnehmen, bis zu 4000 verschiedene Höhen umfaßt. In einem wohltemperierten System ist diese Anzahl bedeutend geringer (chromatische Progression bei Halbtonschritten). Um wirksam arbeiten zu können, mußte sich die Linzer Klangkuppel einem Temperationsprozeß unterziehen. Dafür haben wir Experimente am Studio de Recherches gemacht und herausgefunden, daß beispielsweise das Intervall c—dis im Räumlichen einem Winkel von 12 bis 15 Grad entspricht. Für unterschiedliche räumliche Wahrnehmung dieser Art in einer Kuppel, die 20 Meter im Durchmesser aufweist, braucht man 100 bis 120 Klangquellen. Eine Halbkugel kann nicht auf gleichwertige Art temperiert werden (gerade Zahlen). Die Teilung ergibt eine irrationale Zahl.
Deshalb haben wir 104 Klangquellen für eine Kuppel von durchschnittlich 20 Metern verwendet. Wollen wir ein neues räumliches Instrument einführen, so müssen wir diesen Raum ordnen: Wir müssen ihn temperieren. Die Unabhängigkeit von den Gesetzen der Tonleitern hat niemals zu artikulierter Musik geführt und räumliche Anarchie wird keine interessante räumliche Artikulation zustande bringen. Deshalb entschlossen wir uns zu besonderen Tonleitern, die eine logisch-kombinatorische Artikulation zulassen. Die farbigen Anzeigen stehen für die vier Kanäle: blau, rot, grün und gelb für die Kanäle eins bis vier. Wir können ein einzelnes Signal oder zwei bis vier verschiedene Signale in der Kuppel verteilen.
Abb. 25 zeigt den Hauptplan der Kuppel, einschließlich der Dimensionen. Durch Beobachtung der Farben kommt man zu dem Schluß, daß die Klangquellen spiralig angeordnet sind. Vier Spiralen, paarweise symmetrisch angeordnet, stehen einander gegenüber und verlaufen durch die Kuppel von der Spitze zum Boden. Dadurch wird das Spielen für die Interpreten annehmbar. Nach den vorangegangenen räumlichen Erfahrungen in Rom und Avignon wollten wir die völlige Freiheit der Improvisation vermeiden, indem wir vorgegebene Wege durch den Raum angaben (die Spiralen steigen an und fallen ab). Die Freiheit zur Einführung individueller räumlicher Wege bleibt trotzdem erhalten. Der Raummusiker ist immer noch sehr selten und weit von Virtuosität entfernt. Der Pianist spielt auf 82 Tasten und das räumliche Spielen umfaßt 104 Regler — die Kombinationsmöglichkeiten sind dabei sehr zahlreich.
Um im Raum zu spielen, braucht man sehr viel Fachkenntnis und Übung. Abb. 26 zeigt den italienischen Komponisten F. Evangelisti, der eine seiner Arbeiten auf einem manuellen "Spatializer" in der Klangkuppel in Rom vorträgt (1977).
Funktionen der Linzer Klangkuppel Vor allem ist die Linzer Klangkuppel ein Instrument, das es erlaubt, die Probleme der räumlichen Verteilung zu erforschen. Darüber hinaus ist sie ein neues Musikinstrument mit Skalen, Formen, Symmetrien und einem "Artikulations-Keyboard", das einen neuen Ausdruck innerhalb der Dimensionen des Klangraumes zuläßt.
Die Musik kommt von Tonbändern und besteht großteils aus elektronischer und aus Computermusik. Einige der Werke wurden speziell für diese erste Aufführung in der Klangkuppel komponiert (Vierspuraufnahmen). Die räumliche Ausdehnung der Klangkuppel wird diesen magnetischen Arbeiten eine neue Dimension hinzufügen (durch die räumliche Form und den Dialog der Spuren, aber auch durch die ausgezeichnete Qualität der 104 High-Fidelity-Kanäle). Aufgrund der Tatsache, daß die Klangkuppel das Publikum umschließt, wird die Intensität und der Wert des Zuhörens vervielfacht. Das Niveau mag durchaus niedrig bleiben, die Dynamik aber wird vergrößert (da die Musik lauter wird und mehr Lautsprecher aufgeschaltet werden) — durch Akkumulation der verwendeten Lautsprecher. Die musikalische Verteilung durch die Klangkuppel profitiert normalerweise von der Form, die Form wird deutlicher wiedergegeben, und die Reihe der Dynamik wird größer und dadurch ausdrucksvoller. Die spektrische Präsenz (von der höchsten zur niedrigsten Frequenz) führt zu guten Arbeiten und beinahe greifbarer physikalischer Stärke. Melodische Linien und Phrasen werden unterstrichen, und der Kontrapunkt der Tonbandspuren wird durch die räumliche Trennung hörbar, dadurch kann man die Botschaften klar unterscheiden. Durch den räumlichen Parameter kommt eine zusätzliche Dimension zu den anderen musikalischen Parametern hinzu. Räumliche Artikulation existiert auch aus eigener Kraft-. Das Timbre (z.B. einer Viola) kann verschiedene Höhen erreichen und es ist möglich, den Raum durch ein einziges Timbre zu verändern, wodurch nicht mehr die Klangfarbe, sondern die Plazierung im Raum wichtig wird. So entsteht durch Kinephonie vor-aufgezeichnete Musik.
Nach und nach werden Komponisten Raumkompositionen schaffen, so wie sie bisher Klanghöhenmusik produziert haben, und die Klangkuppel wird ihr Instrument zur Komposition und Verteilung sein, wie bisher Orgel oder Klavier. Bis dahin wird die Raumfunktion ihre erste Reifestufe erreicht haben und der Musik eine zusätzliche Dimension bieten, die bisher aus technischen Gründen unmöglich war.
Die Klangkuppel und das Publikum Im Philips-Pavillon, aber auch im römischen Dom war das Publikum begeistert. Augenscheinlich entspricht diese räumliche Funktion einem großen sozialen Bedürfnis. Die Wahrnehmung des Klangraumes ist auch tatsächlich für jedermann im täglichen Leben wichtig. Die Klangquelle von Objekten ist grundlegend für das Überleben bedeutend wichtiger als seine Signifikanz (Timbre oder Tonhöhe). Dieser Parameter der Wahrnehmung betrifft jedes menschliche Lebewesen. Außerdem scheint es, als würde die heutige Welt ein Bedürfnis nach räumlicher Erfassung entwickeln, seit die Klangträger zahlreicher und schneller geworden sind (Autos, Flugzeuge). Fügt man dem noch hinzu, daß die Eroberung des Weltraumes ein alter Traum der Menschheit ist, so ist das Interesse des Publikums leicht zu verstehen.
Die Klangkuppel als musikalisches Instrument Wir müssen darauf hinweisen, daß die Klangkuppel nicht als eine Ansammlung billiger Klangeffekte betrachtet werden darf. Sie ist ein musikalisches Instrument, auf dem man leicht spielen kann (und komponieren) und das temperiert sein muß, damit ein musischer Geist davon inspiriert werden kann. Der geometrische Gedanke, der bereits in den Höhentonleitern wirksam ist, benötigt eine größere Dimension im Klangraum — größer und abwechslungsreicher. Dieser geometrische Raum mit seinen möglichen Symmetrien, seinen gesteuerten kinephonischen Bewegungen, muß den Komponisten der Zukunft neue Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung stellen (Erfindung, Vorstellung von Klangformen).
Es ist selbstverständlich, daß das Instrument gut "gestimmt" sein muß und eine gewisse technische Qualität aufweisen sollte (alle Klänge müssen den gleichen Widerhall haben, d. h. die Höhe und das Timbre eines jeden Kanals müssen identisch sein, um das Übergleiten des Klanges von einem Kanal zum anderen ohne Berührung der geometrischen Position durch seine individuelle Zusammensetzung zu ermöglichen). Die Abstände, die die Klänge voneinander trennen, müssen so gleichmäßig wie möglich sein, um einerseits räumliche "Löcher" in der kinephonischen Bewegung zu vermeiden und andererseits Strecken linearer Verstärkung durch eine Überdichte von Lautsprechern auszuweichen. Dies sind die Absichten und technischen Erfordernisse, die den Raum als neuen Parameter in die Musik einführen werden, um eine neue Dimension in der Musik zu schaffen, die charakteristisch für unser Zeitalter und für die Zukunft sein wird: Raum, als eine wahrnehmbare Artikulation der Menschheit, gleichbedeutend mit Höhe und Timbre. Daher wird die Linzer Klangkuppel einen Meilenstein in der Entwicklung der räumlichen Parameter darstellen, eine Dimension, die den Weg zum Himmel eröffnet.
Leo Küpper, Studio de Recherches, Brussels 1984
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