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Ars Electronica 1984
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IRCAM


'Jean-Baptiste Barrière Jean-Baptiste Barrière

Das IRCAM (Institut de Recherche et de Coordination Acoustique/Musique) ist eine Institution, die sich der Erforschung der Musik unter ihren verschiedenfältigsten Aspekten widmet: musikalische Akustik, Instrumentenwerkstatt, Konstruktion von Klangprozessoren (numerische Synthesizer-Hardware, wie z.B. den 4X, der das wichtigste derzeit existierende System darstellt), Simulation, Analyse, Modellierung und Synthese von Klängen, Ausarbeitung von verfeinerter Computer-Software für die Steuerung und die Komposition musikalischer Strukturen, analytische und theoretische Studien, Pädagogik und schließlich die Produktion und Verbreitung musikalischer Werke.

Die einfache Aufzählung all dieser verschiedenen Bereiche zeigt die Vielfalt und den Reichtum der selbstgestellten Aufgaben des IRCAM. Sie weist außerdem darauf hin, wie sehr das IRCAM seit seiner Gründung von einem festen, grundlegenden Willen ausgeht: Zugrunde liegt der Versuch, durch Gruppenarbeit und durch die Errichtung einer neuen Art von Beziehungen zwischen Forschern und Musikern jene Probleme zu lösen, die sich der Lösung durch das Individuum allein entziehen. Denn wie es schon Pierre Boulez formuliert hat: "Die Intuition des Schaffenden, auf sich allein gestellt, ist unfähig, die gesamte Umsetzung der musikalischen Erfindung zu vollziehen. Man muß also Zugang haben zur Arbeit des wissenschaftlichen Forschers, um die Zukunft langfristig vorherzusehen, um weniger der persönlichen Beschränktheit unterliegende Lösungen auszudenken. (…) Was wir brauchen, ist, daß die Musiker beginnen, ein gewisses Maß an wissenschaftlichen Kenntnissen als einen integrierten Teil ihrer schöpferischen Phantasie zu internalisieren. Lehr- und Lernsitzungen werden es Wissenschaftlern und Musikern erlauben, ihre Standpunkte und Gedankengänge einander vorzulegen. Wir hoffen, so eine gemeinsame Sprache (wie sie derzeit überhaupt nicht existiert) zu formen, indem wir eine Mannschaft bilden, die in der Hauptsache auf das musikalische Schaffen ausgerichtet ist (1973/74)." Bei all diesen Aktivitäten hat sich im Laufe der Zeit – und nicht von Anfang an, wie die Worte Pierre Boulez' nahelegen – der Computer als vorzüglichstes Arbeitsgerät erwiesen, nicht nur für die Analyse und wissenschaftliche Berechnungen, sondern auch für die Synthese von Klängen und für die Komposition.

Die Verwendung des Computers zwingt den Musiker, all seine Grundannahmen festzulegen, aber ebenso jene kleinen Details zu präzisieren, an den Tag zu bringen, explizit zu machen, deren Existenz ihm sonst oft unbewußt bleibt, das heißt, alles, was sonst im musikalischen Wissen implizit und empirisch bleibt. All das geschieht, als ob der Computer für die Musik das endgültige Stadium darstellte (zumindest derzeit!) von dem, was H. Dufour "artifice d'écriture", "Kunstgriff der Schreibweise", genannt hat, das heißt, er eröffnet eine neue Dimension von Kompositionsmöglichkeiten, indem er zur Darlegung der Prozesse und der internen Strukturen der Funktionsweise der Musik zwingt.

Der Computer fordert die Darlegung und Formalisierung all dessen, was bisher mündlich tradiert wurde und was man als relevant für ein Schulwissen angesehen hat, mit anderen Worten, was von Mund zu Mund übertragen wurde und auf der gesammelten "Arbeit" einiger Jahrtausende beruht. Egal, ob dies in der Geste des Geigenbauers ruht, oder im Interpreten, oder aber im musikalischen Material, die große Kraft ist da – und gleichzeitig das große Problem bei der musikalischen Anwendung des Computers. Denn da alles erst explizit dargestellt werden muß, ist ein echter Empirismus unmöglich. Nichts kann mehr dem Zufall überlassen werden, nicht einmal der Zufall selbst: Der Rechner ist eine deterministische Maschine, selbst der "Zufall" muß simuliert werden (und wird somit plötzlich reproduzierbar!). Jedes Wissen muß also herausgearbeitet und formalisiert werden, um anwendbar zu sein – und es ist genau dieser Prozeß, der es erst als solches zutage treten läßt.

Derartige Probleme treten auch in den Forschungen über die Synthese des Tons auf, insbesondere bei der Methode einer Synthese nach Regeln, wie sie im IRCAM bei der Realisierung des CHANT-Synthese-Programms entdeckt wurden. Dieses Programm, das ursprünglich für die Synthese der Stimme gedacht war, hat sich als derartig universell erwiesen, daß es nunmehr für die Synthese von Tönen aller Art verwendet wird, sei es, daß sie von Instrumenten herkommen, sei es, daß sie völlig unabhängig sind.

Diese Methodologie, inspiriert von der Synthese des Wortes und der Stimme, besteht in der Ausarbeitung von Korrelationsregeln zwischen verschiedenen Parametern, die die physikalische Entwicklung von Klangerzeugungsmodellen (also Stimme und Instrumente) determinieren.

Ist so ein Modell einmal zufriedenstellend realisiert, so liegt seine Bedeutung weniger in der strikten Imitation des Originals, sondern vielmehr in den auf diese Weise zugänglich gemachten Kenntnissen, die verfügbar bleiben und nach Bedarf wiederverwendet und für neue Anwendungen in möglicherweise völlig anderen Zusammenhängen eingesetzt werden können. So erlaubt die Kenntnis der Eigenschaften der Stimme oder eines gegebenen Instruments, reichere und interessantere Klänge synthetisch herzustellen.

Seit dem Ende der fünfziger Jahre, das heißt, seit dem Zeitpunkt, da die künstliche Herstellung von Tönen bekannt ist, weiß man, daß jeder mögliche Ton auch synthetisch erzeugt werden kann. Aber bald hat man erkannt, daß nicht alle Töne interessant sind. So erlaubt uns die Simulation und die Synthese nach Regeln, Klänge zu erzeugen, die von der vieltausendjährigen Erfahrung der Stimme ausgehen, die aus der langjährigen Geschichte der Instrumente und ihrer Handhabung kommen, denn die Klänge zu verstehen bedeutet: zu verstehen, warum sie uns musikalisch interessieren, und dies wiederum eröffnet uns den Weg zu einer neuen Musik, die Material und Organisation in einen Zusammenhang stellt.

So erlaubt der Rechner – dank der Synthese der Klänge – der kompositorischen Tätigkeit eine Erstreckung auf das Material und selbst die Verwirklichung des alten Traums von der Kontinuität zwischen Mikro- und Makrostrukturen.

Auf allen Gebieten des musikalischen Lebens radikalisiert der Computer die Einstellungen und stellt durch seine Forderung nach Neuformulierung von Problemen und durch seinen ständigen Rückgriff auf Modelle – als Struktur ebenso wie als Mittel der Erkenntnis – die Gewohnheiten in Frage. Aus diesem Grund wird dem Computer beim IRCAM so viel Bedeutung zugemessen, denn im Grunde entspricht er als Realisation genau den Forderungen des großen Projektes von Pierre Boulez.

Sicherlich jedoch kann dieses Projekt nur das Ziel einer langsamen und tiefgreifenden Entwicklung sein, einer Entwicklung, deren Meilensteine in direkter Beziehung zu den theoretischen Problemen und den kompositorischen Praktiken steht: denen der Organisation (und) des Materials.

Im Feld der Eindeutigkeit dieser Relation zwischen Organisation und Material wird der Einsatz – die totale und endgültige Verwendung des Computers als musikalisches Instrument – ausgespielt. Und nur wenn er erlaubt, diese Beziehung praktisch zu überdenken, wird er eine selbständige musikalische Bedeutung erlangen. Denn wenn der Computer effektiv Instrument eines großen Neugestaltungsprozesses und der Begründung musikalischen Wissens sein soll, so gibt dies ohne die Schaffung einer neuen musikalischen Pragmatik keinen Sinn, und zwar nicht nur auf theoretischem Gebiet. Deshalb ist es eine der wichtigsten Aufgaben des IRCAM, die Produktion von Werken aufrechtzuerhalten, eine Tatsache, die nicht im Widerspruch zur Forschung stehen soll, sondern ihre gerechte und notwendige Erweiterung darstellt, die ihrerseits auf die Forschung befruchtend einwirkt und eine ständige Erneuerung ihrer Probleme mit sich bringt.

Aus den gleichen Gründen, aus denen die Synthese von Klängen im allgemeinen die Probe auf die Analyse von Klangphänomenen im weitesten Sinne ist – Test für das Verständnis und die Integration der Phänomene und des daraus resultierenden Wissens –, aus den gleichen Gründen hält das IRCAM es für nötig, daß die Produktion ein Test der Forschung sei, ohne daß die eine die andere behindert, und daß besondere Rücksicht auf die Wahrung der Unabhängigkeit einer jeden Disziplin genommen werde.