Linzer Klangwolke ´84
'Walter Haupt
Walter Haupt
Freitag, 14. September 1984, 20 Uhr Donaupark, Brucknerhaus
SYMPHONISCHES OPEN-AIR MIT BEETHOVENS 9. SYMPHONIE
LUDWIG VAN BEETHOVEN: Symphonie Nr. 9 d-Moll op. 125
Allegro ma non troppo, poco maestoso Molto vivace, presto Adagio molto e cantabile Allegro assai, presto
AUSFÜHRENDE: Zagreber Philharmoniker Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien (Einstudierung: Helmuth Froschauer)
DIRIGENT: Milan Horvat SOLISTEN: Urszula Koszut (Sopran), Jutta Geister (Alt), Wolfgang Müller-Lorenz (Tenor), Kurt Rydl (Baß)
IDEE, BEARBEITUNG UND REALISIERUNG: Walter Haupt, Dr. Hannes Leopoldseder
ELEKTROAKUSTISCHES EQUIPMENT: Firma Dynacord/Straubing
TONTECHNIK: ORF-Landesstudio Oberösterreich, Gernot Gökler, Hannes Strutzenberger, Gerhard Blöchl
AUFNAHMELEITUNG: Wolfgang WinklerWalter Haupt: DIE EXPANSION EINER IDEE Das Bestreben nach Musik im offenen Raum ist uralt, und schon in archaischen Berichten lesen wir über große Musikinszenierungen, die meist einem rituellen Zweck zugedacht waren. Diese Versuche und Bemühungen um mehrdimensionales Hören wurden bis in unsere Gegenwart fortgesetzt. Um neue Hörerlebnisse wie Tonentfernung, Tonort und Schallrichtung zu initiieren, mußte ich aus den eng umrissenen räumlichen Dimensionen eines Konzertsaals ausbrechen, reflektierende Wände und Decken sollten die angestrebten Hör-Parameter nicht beeinflussen. Die elektro-akustische Industrie gibt uns heute die Möglichkeit, den gewohnten Hörrahmen zu sprengen und neue Hörausmaße zu kreieren.
1973 entwickelte ich das erste "Klangwolken"-Experiment: "Musik für eine Landschaft." Meine Absicht war, eine ganze Landschaft in ein klangliches Environment zu hüllen. Die Stadt und das Tal Weißenstein bildeten den idealen Ausgangspunkt. Ich konzipierte eine Komposition für neun solitäre Klangstationen in Form von Klangflächenentstehungen, -bewegungen, -konstellationen, -rotationen, -spannungen, -überlagerungen. Die Lautsprechergruppen wurden an den Hängen mit Schallrichtung auf die Stadt an unterschiedlichen Standorten installiert. Die Bevölkerung von Weißenstein wurde als ein Teil der Landschaft in den Gesamtprozeß integriert; im Probenverlauf rebellierten zunächst die neuen Hörerfahrungen gegen alte Hörgewohnheiten – am Abend der Aufführung war es jedoch ihre Veranstaltung, sie hatten das Experiment angenommen, es wurde zu einem Teil ihrer Landschaft. Die Presse sprach von einem "musikgeschichtlichen Ereignis", für mich war es ein Lernprozeß, der mich in meinen Ambitionen bestärkte, dem Konzertsaal mit seinem elitären Besucherkreis den Rücken zu kehren, um großdimensionierte, gesellschaftliche Kommunikationszentren mit neuen Hörerlebnissen zu initiieren.
1978 folgte ein weiteres "Klangwolken"-Experiment in München mit Carl Orffs "Entrata" und einer völlig anderen Konzeption, die die Gegebenheiten der Münchner Innenstadt einbezog. Drei getrennte und über dem Marienplatz aufgeteilte Orchesterformationen spielten unter meinem Dirigat die Komposition. Das Klangergebnis der einzelnen Gruppen wurde auf fünf mit aufwendigen Lautsprecherequipments bestückten Kirchtürmen und dem Rathausturm gesendet und von dort, zusammen mit den live spielende Orchestern auf die Münchner Innenstadt ausgestrahlt. Ein riesiger Ballon, als optische Markierung des Ereignisortes und gleichsam als musikalischer Plafond mit Lautsprechern bestückt, schwebte über der Szene. Der Aufenthaltsort des Publikums für diese musikalische Veranstaltung war nicht präzisiert, es konnte sich den peripheren Lautsprechergruppen nähern und somit ein detailliertes Klangbild aufnehmen oder aber im Zentrum den vielschichtigen akustischen Gesamteindruck verfolgen.
1979 veranstaltete ich zusammen mit einer experimentellen Theatergruppe in einer faszinierenden Kraterlandschaft Italiens unter dem Thema "Musik und Natur" eine Woche existenzieller, szenischer und musikalischer Umsetzungsprozesse mit eigenen Kompositionen inmitten dieser Landschaft.
Zu den herkömmlichen Konzertveranstaltungen in festen Gebäuden entstand eine neue alternative musikalische Szene.
Noch ehe 1979 die erste "Linzer Klangwolke" mit der 8. Sinfonie von Anton Bruckner zur Aufführung gelangte, wurde ich in der Vorbereitungsphase von Bruckner-Puritanern und traditionell ambitionierten Konzertbesucherkreisen heftigst attackiert und erntete wenig Wohlwollen für meine Bestrebungen. Als dann am Abend die Bruckner-Sinfonie, nicht wie gewohnt für 1500 Konzertbesucher, sondern für 100.000 Menschen im Donaupark zu einem Hörerlebnis wurde, war der Bann gebrochen.
Die "Linzer Klangwolke" wurde zu einem festen Bestandteil des Internationalen Brucknerfestes und ein wichtiger Beitrag zur Ars Electronica, die im selben Jahr erstmals stattfand.
Ein Kulturanimationsprogramm wurde angenommen, was der Industriestadt Linz im Laufe der Jahre weltweites Ansehen als Klangstadt Linz einbrachte. Die "Klangwolke" ist ein empirischer Prozeß. Sie fand in Linz ihre Ausgangsbasis und Förderer, die dem Projekt jedes Jahr aufs neue die Chance der Weiterentwicklung geben.
Daß Kulturanimation ein wichtiges Anliegen unserer Zeit ist, wurde von der Veranstaltungsreihe Ars Electronica, neben ihren im Titel beinhalteten Aktivitäten, richtig erkannt, und so war es beispielsweise auch möglich, 1980 mein Projekt "Musica creativa", ein Mach-mit-Konzert für 3000 Laienspieler mit selbstgebastelten Instrumenten, auf dem Linzer Hauptplatz zu realisieren. Durch diese Spezifikation (die Erarbeitung von Musikexperimenten mit und für eine breite Bevölkerungsschicht) hat sich die Ars Electronica gegenüber anderen Festivals profiliert.
Unter dem Motto "Kultur für alle" fördert sie einen neuartigen Typus von kommunikativen Großveranstaltungen und bietet andererseits durch ihre Themenstellung den Einblick in elektronische Neuentwicklungen und deren künstlerische Auswertung. Sie versteht sich in diesem Bereich als ein Guckkasten in die Zukunft.
Die konstante Durchführung der "Linzer Klangwolke" und ihre Übertragungsmechanismen über den Hörfunk haben viele kleinere Städte dazu veranlaßt, ähnlich wie in Linz auf ihren Gemeindezentren Klangwolken zu initiieren. Mit kleinem technischen Aufwand werden Klangstationen installiert und die Idee vom neuen kommunikativen Hörerlebnis wird bereits allerorten praktiziert.
Aber nicht nur in Österreich (in Salzburg werden mittlerweile auch die Konzerte in den Domhof übertragen), sondern auch in Amerika, Holland, Italien, Frankreich und Deutschland (in München wurde anläßlich des Katholikentags die Übertragung einer Opernaufführung in Teilbereichen der Innenstadt realisiert) setzt sich die Idee von Sinfonischen Open-air-Veranstaltungen durch. Ernste Musik wird dadurch völlig unkonventionell einer größeren Bevölkerungsschicht zugänglich gemacht.
In einer aufwendigen Korrespondenz mit dem In- und Ausland gebe ich bereitwillig meine langjährigen diesbezüglichen Erfahrungen weiter und freue mich über das rege Interesse.
Größtes Projekt dieser Art war wohl in jüngster Zeit das "Feuertheater mit der Klangwolke" in Berlin, wo sich 500.000 Menschen vor dem geschichtsträchtigen Reichstagsgebäude einfanden, um in friedlicher Gemeinsamkeit dem gigantischen Feuerwerk von André Heller zu den Klängen von Strawinsky, Orff, Händel, Mussorgsky und Haupt beizuwohnen.
Der Titel "Klangwolke" wurde mittlerweile zu einem festen Begriff, einem Symbol für neues Musikhören und -erleben im offenen Raum.
Internationale Musikexperten besuchen Linz, um dieses Modell kennenzulernen, und ein Komponist wie Tomita, der sich spontan für die "Klangwolke" begeisterte, wird in diesem Jahr mit der vorhandenen Konzeption in Linz seine eigene Interpretation erarbeiten.
Die 6. "Linzer Klangwolke" wird am 14. September in einer technischen Neufassung mit der 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven stattfinden. Erstmals werden Gesangssolisten und ein Chor in das Klangbild miteinbezogen, wofür eine siebte getrennte Klangstation vorgesehen ist. Ich möchte die Sinfonie als einen permanenten Steigerungsbogen bis zu dem Choreinsatz – "Freude schöner Götterfunken" – anlegen. Zahlreiche technische Verbesserungen auf dem Gebiet der Lautsprecherentwicklung werden bei der 6. Klangwolke erprobt, das synchrone Klangzentrum wird erweitert und die Lautsprecherdynamik auf über 60.000 Watt verstärkt. Die einzelnen Klangtürme werden unterschiedlich eingesetzt und erst am Kulminationspunkt erklingen alle sieben Klangstationen.
Mein ganz besonderes persönliches Anliegen ist, diese Sinfonie mit ihrem Aufruf aus Schillers "Ode an die Freude": "Alle Menschen werden Brüder" als eine Demonstration für den weltweiten Frieden zu deklarieren. In einer Zeit, wo in Europa eine neue Aufrüstungswelle nicht nur mit atomaren, sondern auch mit chemischen und konventionellen Waffen eingeleitet wird, wo die USA eine gigantische Aufrüstung im Weltall planen, wo die Hochrüstungspolitik gleichzeitig zu immer größerer Verelendung und zu sich verschärfenden politischen Konflikten in der dritten Welt führt, wo die Sowjets mit entsprechenden Gegenmaßnahmen reagieren, sollten wir uns alle für den weltweiten Frieden und die weltweite Abrüstung und die Völkerverständigung einsetzen. Deshalb meine Bitte an die Linzer Bevölkerung: KOMMEN SIE BITTE ALLE AM 14. SEPTEMBER IN DEN DONAUPARK! HÖREN SIE DIE 9. SINFONIE VON BEETHOVEN UND DENKEN SIE DABEI AN UNSER ALLER ANLIEGEN, DEN WELTFRIEDEN ZU BEWAHREN. TAUSENDE BRENNENDE KERZEN SOLLTEN BEIM SCHLUSSCHOR DER SINFONIE UNSEREN STARKEN WILLEN FÜR DEN WELTFRIEDEN BEKUNDEN.
LUDWIG VAN BEETHOVEN: SYMPHONIE NR. 9 D-MOLL OP. 125 An Beethovens Werken konnte kein Komponist mehr vorbeigehen, noch heute führen diese Werke die Programme der Konzertunternehmungen in aller Welt sowie die Bestsellerlisten der Schallplattenindustrie an. Und obwohl sich Musiker, Wissenschaftler und Publikum über die Beurteilung selten einig waren (für manche wurde Beethoven geradezu zu einer "Haßliebe"), sind die Begriffsfelder, mit denen die Argumentation von Distanz bis Emphase bestritten wird, von auffälliger Konstanz. Bereits daraus ist zu ersehen, daß von hier eine Entscheidung der immer wieder aktualisierten, wenn auch keineswegs so wichtigen Frage nach dem Verhältnis Beethovens zur Klassik nicht möglich ist. Außerdem ist eine verschiedene "Benutzbarkeit" des Beethovenschen Werkes als bei ihm selbst zugrunde gelegt zu erkennen. So muß mehr als sonst die Klassifizierung "vorbildlich" eine Spezifizierung "in Hinblick auf" nach sich ziehen, was sogar als Aufhebung jener verstanden werden könnte, und übrig bliebe allein die "Zeitlosigkeit" einer stets, jedoch in verschiedener Weise bestehenden und anerkannten "Größe". Wenn wesentliche Unterschiede zwischen klassischer und romantischer Haltung im Verhältnis zur Natur, zur Zeit, zur Geschichte usw. liegen, wenn einerseits die Wiener Klassik u.a. als die musikalische Seite von Aufklärung und Idealismus oder als Reflex auf den Josephinismus (der österreichischen und keineswegs einheitlichen Form der Aufklärung) gesehen werden kann, und wenn andererseits musikalische Romantik nicht einfach nur als die "Kehrseite derselben Medaille", sondern als geistesgeschichtliche Erscheinung geschildert wird, die zwar weitgehend zur gleichen Zeit, aber bereits als Reaktion auf die rationalistischen Ausgangspunkte einsetzt, erscheint Beethovens Zuordnung zur Wiener Klassik nichts weniger als krampfhaft und ungerechtfertigt: Aufgewachsen in einer von der österreichischen abhängigen und jedenfalls von geradezu identischen Ideen getragenen Geistigkeit, kam er, als Persönlichkeit stark geprägt, als Komponist bereits weitgehend an Haydn und Mozart orientiert, aber noch immer betont aufgeschlossen, nach Wien. Ob nun aufgrund von Affinität, gefühlsmäßiger Bindung, Zufall oder äußeren Umständen: diese Stadt wurde zur endgültigen Heimat des reifenden und reifen Künstlers, seine Werke entstanden in Auseinandersetzung (diese schließt Ablehnung ein) mit deren Geistes- und Kulturleben.
Schillers Ode "An die Freude" zu vertonen, war schon in der letzten Bonner Zeit als Plan aufgetaucht und hängt zunächst mit der dortigen Schiller-Begeisterung zusammen. Daß dieser Gedanke nach mehreren Ansätzen (besonders 1812, 1814/15) wieder aufgenommen wurde, ist keineswegs als Eingeständnis der Unzulänglichkeit der instrumentalen Musik (so Richard Wagner in seinem berühmten "Programm"), auch nicht als Erweiterung des Orchesters durch die menschliche Stimme oder gar als Verlegenheitslösung zu verstehen, sondern wiederum als Folge des (an Gluck gemahnenden und in einem Gespräch mit Grillparzer betonten) Ringen um Deutlichkeit.
Zitiert aus Musikgeschichte Österreichs, Band II, von Flotzinger, Rudolf, und Gruber, Gernot, S. 204/206, Kapitel Beethoven, Styria 1979.
Friedrich Schiller An die Freude
[O Freunde, nicht diese Töne! Sondern laßt uns angenehmere anstimmen, Und freudenvollere.]
Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, Wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum. Deine Zauber binden wieder, Was die Mode streng geteilt; Alle Menschen werden Brüder, Wo dein sanfter Flügel weilt.
Wem der große Wurf gelungen, Eines Freundes Freund zu sein; Wer ein holdes Weib errungen, Mische seinen Jubel ein! Ja – wer auch nur eine Seele Sein nennt auf dem Erdenrund! Und wer's nie gekonnt, der stehle Weinend sich aus diesem Bund!
Freude trinken alle Wesen An den Brüsten der Natur, Alle Guten, alle Bösen Folgen ihrer Rosenspur. Küsse gab sie uns und Reben, Einen Freund, geprüft im Tod. Wollust ward dem Wurm gegeben, Und der Cherub steht vor Gott.
Froh, wie seine Sonnen fliegen, Durch des Himmels prächt'gen Plan, Laufet, Brüder, eure Bahn, Freudig wie ein Held zum Siegen.
Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt! Brüder – überm Sternenzelt Muß ein lieber Vater wohnen.
Ihr stürzt nieder, Millionen? Ahnest du den Schöpfer, Welt? Such ihn überm Sternenzelt, Über Sternen muß er wohnen.
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