Straßentheater / Performance 2019
'Urban Sax
Urban Sax
Donnerstag, 13. September 1984, 18.00 Uhr Linzer Hauptplatz
(in Zusammenarbeit mit dem Kulturamt der Stadt Linz und mit Zeitort Wien)
URBAN SAX Entstehungsgeschichte: Urban Sax wurde infolge des Zusammentreffens äußerst merkwürdiger Umstände von Gilbert Artman gegründet und stellt ein Ensemble von Musikern mit gleichartiger Klangerfahrung dar, wie es das vorher noch nie gegeben hat.
Die Musik, die die Gruppe produziert, ist das Ergebnis einer Versuchsreihe, "klanglicher Manipulationen". Im Anfang handelte es sich darum, einem Festival klassischer Musik in der südfranzösischen Stadt Menton einen Rahmen zu geben. Das war im Sommer 1973. Gilbert Artman hatte vier Klanggeneratoren vorgesehen, die "reine Frequenzen" durch Lautsprecher schicken sollten. Die Lautsprecher waren in der Altstadt in einer kleinen Straße hintereinander und anschließend um einen Platz herum angeordnet. Dort gab es ein Podium, auf dem acht Saxophonisten das vervollständigen sollten, was als einer der ersten Versuche einer städtischen Klangwolke hätten gelten können. Allerdings wurde dieser Versuch aus finanziellen Gründen niemals in die Tat umgesetzt. Dieser zumindest überraschende Anfang erklärt zum Teil die von URBAN SAX verfolgte "Strategie des einzigen Tons". Sie ist sozusagen die Urenkelin der Frequenzfolgen, die von den Lautsprechern ausgesandt werden sollten. Ungefähr im September 1976, also drei Jahre später, tritt Gilbert Artman in Verbindung mit mehreren Saxophonisten und unterbreitet erneut seine Idee. Zum erstenmal stößt er auf Begeisterung. Der Versuch nimmt schnell Formen an, schon bald beteiligen sich daran zwölf Instrumentalisten. Und schnell gelangt man zu der Einsicht, daß in Anbetracht der zu überlagernden Motive die ideale Anzahl der Beteiligten sechzehn sein muß. Aber die Eskalation bleibt dort nicht stehen, es werden zwanzig, vierundzwanzig und dann mehr als dreißig Saxophonisten, die daran gehen, mit größter Präzision Melodienschleifen zu überlagern, Tonfolgen auszudehnen, Spiralen zu winden oder andere überraschende Klangwirkungen zu produzieren.
Die Mitglieder von URBAN SAX sind in der Tat immer viel zahlreicher als es nach außen hin erscheint, denn man muß sicher sein, die für jede Darbietung erforderliche Stärke zusammenzubringen.
Im Jahre 1978 wird die Musik noch um menschliche Stimmen bereichert: ungefähr zehn Choristen treten in Erscheinung, nachdem sie bereits an zwei Schallplatten mitgewirkt haben. Auch dort handelt es sich nicht um den Gebrauch der Stimme im klassischen Sinn: Atemgeräusche, Schlagzeugeffekte, simulierte Worte mischen sich mit den Melodieschleifen.
Die Gruppe URBAN SAX tritt abwechselnd in weißen oder in seltsamen schwarzen Gewändern auf, dabei haben sie metallische Reflexe auf der Haut, oder aber die Gesichter sind verhüllt. Gilbert Artman sucht die passende Dekoration zum Repertoire, und in dem Maße wie die Musik sich bereichert, bewegt sich URBAN SAX an verschiedenen Schauplätzen. Aktivitäten entwickeln sich, Teile der Gruppe tauchen auf, verschwinden wieder und entfesseln Klang- und Rauchwolken.
So überfluten sie Plätze, Gebäude, unterirdische Gänge und lassen die Stadt von ihrem ungewöhnlichen Gesang erzittern (vibrieren). Diese Aktionen, die eine Stadt zum Klingen bringen sollen, sind natürlich jedesmal sorgfältig vorbereitet und abgestimmt auf die örtlichen Gegebenheiten.
Seit dem Sommer 1979 haben die Aktivitäten eine neue Dimension erhalten: tragbare Ausrüstungen für jeden einzelnen geben der Stimme die Stärke eines Saxophons und darüber hinaus die Möglichkeit, den Toncharakter elektrisch oder synthetisch erscheinen zu lassen. Vor allem aber ist jeder Musiker mit einem Empfänger für Frequenzmodulationen, und zwar dank einem zentralen Sender, den man als eine Art künstlichen Dirigenten bezeichnen könnte. Die Musiker können also gleichzeitig sehr präzise zusammenwirken und doch mobil sein, ohne daß sie einander hören oder sehen.
Die "Inbesitznahme" eines Ortes ist also sehr umfassend: man ist überrascht, Mitglieder der Gruppe URBAN SAX anzutreffen, die ganz eigenständig und führerlos wirken, obschon ihr Spiel – Musik sowohl als auch Gestik – nach einem ganz genauen Plan synchronisiert ist. So können sie also mehrere Hundert Meter voneinander entfernt beginnen und sich doch in Spiel und Gegenspiel vereinen, nachdem sie womöglich in kleinen Elektrowagen oder auch in einem städtischen Verkehrsmittel die Stadt durchfahren haben.
Instrumentalisten und Choristen haben die verschiedensten musikalische Ausbildungen, im allgemeinen nicht klassisch, bisweilen aber auch das. Die besondere Verwendung der Saxophone und Stimmen, die Gilbert Artman verlangt, basiert auf ihren "nicht temperierten" Besonderheiten, ihren Möglichkeiten, um theoretische Noten sozusagen "herumzuschweben". Das geht aber nicht ohne Verletzung gewisser klassischer Konzeptionen. Die Musiker sind danach ausgewählt worden, welche Beziehung sie zu ihrem Instrument haben, und daraus wiederum ergibt sich das Betragen des einzelnen, wie man es bei einer Darbietung beobachten kann.
Die Musik: Die ständige Weiterentwicklung dieses Klanglaboratoriums reiht die erzeugte Musik ein in die "Modalmusiken".
Das "Konstruktionsprinzip" beruht auf der Formel des "ununterbrochenen Atems" und wird durch vier Gruppen von je sieben Musikern erreicht, von denen jeweils drei spielen, während die vierte Gruppe wieder Atem schöpft.
Das Ergebnis ist eine komplexe Struktur "klanglicher Architrave": Motive in gewundenen Schleifen und modalen Figuren. Es handelt sich dabei um eine viel straffer durchgeplante Musik, als man zunächst glauben könnte. Die Musiker haben ein genaues Schema zu beachten, selbst bei Passagen, die eher willkürlich erscheinen mögen. Beispiel: ein Saxophonist kann einen Triller oder eine kurze Notenfolge "einfügen", aber nur im Rahmen eines äußerst komplizierten "Auflagenkatalogs". Zu alledem dazu kommen noch Spezialeffekte: Windgeräusche, Atemlaute ohne Noten, durch das Saxophon gesprochene Worte, wobei das Instrument die vokalen Töne in seinen metallenen Windungen "weiterverarbeitet" usw. …
Von dieser ganzen Klangkathedrale geht der Eindruck erstaunlicher Leichtigkeit aus, die Wiedergabe durch das Metall hindurch entspricht ganz genau der profanen Zauberformel des städtischen Lebens – es ist daran durchaus nichts Mystisches, trotz der gewählten Art der Darbietung. Ein polyphoner Aufschrei – alles in allem sehr URBAN.
Philippe Bone
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