Die Futuristische Küche
Ein Ausflug in die Küche von morgen
Donnerstag, 13. September 1984, 19.30 Uhr Reservierung erbeten an Restaurant "Allegro", Linz, Tel. 0 73 2/66 98 00
MENÜ
Vitaminmosaik in Schnittlauch-Vinaigrette
Wirkliche Knochenessenz aus der Flasche, Jahrgang 1984
Butt mit Venusmuscheln auf gedämpften Meeralgen
Blattgoldsorbet
Geflochtenes Zöpfchen vom Freilandreh in Holunder mit gebratenen Pilztäschchen
Trilogie der Rosenduftfrüchte
WEIN:
Rieslingsekt in bunten Farben
1983, Grüner Veltliner Ritter von Zaucha – Strass
Allegro-Sonderabfüllung, Weinkellerei Kirchmayr – Weistrach 1981, Riesling Kabinett – Schloß Mauthern, Weingut Sass, Nikolaihof – Mauthern
1973, Imperial Grand Reserva, Compania Ninicola Rioja, Privatkeller
1977, Riesling Spätlese – Ried Achleiten, Winzergenossenschaft Wachau – Dürnstein
Kaffee
PREIS: Menü und Wein S 820,— Während die Entwicklung der Hochtechnologien in Industrie und Alltag zu Beginn des kommenden Jahrtausends an einem vorläufigen Höhepunkt anlangt, melden sich im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen vermehrt Elementarbedürfnisse zu Wort. Vor allem die unvermittelten und unmittelbaren Genüsse sind es, die dem Erdenbürger ab dem Jahr 2019 sein Leben bewußt erlebbar und genießbar machen helfen.
Die Konsumenten wählen in den 2000ern zwischen Massenfertigprodukten des Industriezeitalters, als Mahlzeit während des Tags und zwischendurch; in der Freizeit wird Essen zum kulinarischen Gesamtkunstwerk. Je höher sich der technologische Standard manifestiert, desto kulinarischer und gaumenfreudiger wird der Zukunftsmensch. Die vermehrte Lust an der persönlichen Auseinandersetzung und am persönlichen Erleben gehen einher mit dem letzten Ausbau der Hochtechnologiemöglichkeiten. Die Sehnsucht zum naturbelassenen Intensiverleben prägt auch das Tischerleben. Der Computer und die Technologien haben den Menschen keineswegs entmenschlicht, sondern vielmehr befreit und zusammengeführt.
Daß ein Küchenzettel König Friedrichs des Großen von Preußen aus dem Jahr 1786 und die futuristische Speisekarte einander nicht ausschließen, sondern zwischen beiden eine Art zeitloser Kontinuität nachweisbar ist, mag nur den verwundern, der sich noch nie intensiver mit der futuristischen Küche auseinandergesetzt hat.
Die Küche verleiht auch nach der Jahrtausendwende dem Erlebnis der Tafelfreuden jenen spirituellen Geist, dem einst Voltaire (1694–1778), auf Köche gemünzt, nachsagte: "Ein Koch, ich meine ein guter Koch, ist ein göttliches Wesen…" Daran kann auch der Mensch der Zukunft trotz seiner zunehmenden Neigung zur Rationalität nicht rütteln."
Das Essen und Trinken in der futuristischen Küche behält seinen Stellenwert. Der Restaurantcomputer macht vor dem Erlebnis der Gaumenfreuden dann voller Respekt halt, wenn er die bestmöglichen Grundlagen für das kulinarische Schlemmen durchkalkuliert hat. Waren früher etwa der Besuch einer Lesung, einer Theateraufführung oder eines Konzerts dem Festessen vorausgehende Primärereignisse, so verschmilzt Essen und Trinken in der futuristischen Küche mit dem Kulturerlebnis zu einem Gesamtkunstwerk, denn "der Mensch ist in gleicher Weise Gourmand wie er Künstler, Gelehrter oder Dichter ist" (Guy de Maupassant, 1850–1893). Dies eben um so mehr, als eine Hauptreaktion auf die Hochtechnologie der Zukunft "das Bedürfnis, zusammen zu sein" (John Naisbitt) werden dürfte.
Ob nun die Überlegungen zur futuristischen Küche von den eher verrückten Ansätzen eines Filippo Tommaso Marinetti, der frugalen Hellenen in der Antike oder den Wiederaufbereitungstheorien der Science-fiction-Autoren stammen – die Gaumenfreuden bestimmt letztlich auch noch 2019 der Koch.
Ausgehend von diesen Überlegungen kochen Günther Hager und sein Team mit der Zukunft um die Wette. Hager ist fest davon überzeugt, daß sich die (futuristische) Küche der Zukunft in zwei Tendenzen aufspalten wird: "In die Massenküche einerseits, wo alles fertig und vorbereitet ist; und in die Feinschmeckerküche anderseits, die jeweils frisch zubereitet wird…"
Filippo Tommaso Marinett: Die futuristische Küche: "Im allgemeinen haben die Schwierigkeiten, eine neue Ernährungsweise durchzusetzen, bei den Restaurantbesitzern zugenommen, die aus Uneinsichtigkeit oder Feigheit nicht auf die alte Küche verzichten wollen. All ihre Ängstlichkeit drückt sich darin aus, wie sie dem Kunden behilflich sind, wenn er wieder zum Mantel greift.
Wenn die Gastronomen indessen mitgeholfen hätten, die Notwendigkeit einer modernen Ernährung zu verkünden, hätten sie viel an Zweifel und Spott abbauen können, und die Restaurants würden das Grau des täglichen Einerleis verloren haben. Dem gewöhnlichen Kunden, der eintritt und einen Teller Spaghetti verlangt, müßte der Kellner folgende Ansprache halten: 'Seit heute hat unsere Küche die Pasta asciutta abgeschafft. Wir sind zu diesem Entschluß gekommen, weil die Pasta asciutta aus langen, archäologischen Würmern besteht, die wie ihre lebendigen Brüder in den unterirdischen Gängen der Geschichte den Magen schwer krank und unnütz machen. Weiße Würmer, die Sie nicht in Ihren Körper einführen dürfen, wenn Sie nicht wollen, daß er geschlossen, dunkel und unbeweglich wie ein Museum wird.' Der Italiener unserer schnellen Epoche muß einem solchen Argument zugänglich sein. Der Kellner wird ihm also diese Verjüngungsspeise servieren: gekochten und dann in Butter gebackenen Reis, zu kleinen Kugeln in rohem Salat zusammengedrückt, die mit Grappa bespritzt und auf einem Brei aus frischen Tomaten und gekochten Kartoffeln aufgetragen werden."
Rezept des futuristischen Luftmalers Fillia
"Die erste Köchin in mir – denn nur von Köchinnen kann ich erzählen, die in mir hocken und raus wollen – hieß Aua und hatte drei Brüste. Das war in der Steinzeit. Wir Männer hatten nicht viel zu sagen, weil Aua für uns das Feuer, drei Stückchen glühende Holzkohle dem himmlischen Wolf geklaut und irgendwo, womöglich unter der Zunge versteckt hatte. Danach hat Aua wie nebenbei den Bratspieß erfunden und uns gelehrt, das Rohe vom Gargekochten zu unterscheiden. Auas Herrschaft war milde: Die Steinzeitfrauen legten sich, nachdem sie ihre Säuglinge gestillt hatten, ihre Steinzeitmänner an die Brust, bis sie nicht mehr rumzappelten und fixe Ideen ausschwitzten, sondern still dösig wurden: brauchbar für allerlei.
So wurden wir allemann satt. Nie wieder, als später Zukunft anbrach, sind wir so satt geworden."
(Günter Grass, DER BUTT)
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