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Ars Electronica 1980
Festival-Programm 1980
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Festival 1979-2007
 

 

Elektronik in der Musik


'Klaus Hashagen Klaus Hashagen

Ferruccio Busoni machte bereits 1906 (im gleichen Jahr, in dem die Elektronenröhre von R. von Lieben und L. de Forest erfunden wurde) in seinem "Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst" erste Voraussagen auf eine "elektrische Musik". Wenige Jahre später (1909) verfaßte der italienische Dichter Marinetti sein erstes futuristisches Manifest mit der Prophezeiung des Untergangs der traditionellen Kultur. Der Maler und Musiker Luigi Russolo und der Komponist Ballila Pratella, die 1911 ihre Theorien der futuristischen Musik entwickelten, machten Vorschläge für sogenannte "comatische" Instrumente mit differenzierteren Tonskalen als die herkömmliche 12-Ton-Skala. Man experimentierte seinerzeit schon mit simultanen Formen verschiedener musikalischer Bewegungen und mit der Einbeziehung naturalistischer Geräusche in die musikalische Komposition. (Russolo: "… wir orchestrieren im Geiste die Geräusche der Metallrollos vor Ladenfenstern, von zuschlagenden Türen, das Schlürfen und Drängen der Menge, die Massenunruhe der Bahnhöfe, Stahlwerke, Fabriken, Druckpressen, Kraftwerke und Untergrundbahnen …). Russolo und Pratella bauten eigentümliche Lärmmaschinen ("Intonarumori"), die verschiedene Klanghöhen- und Klangfarbenbereiche umfaßten. Im Juni 1913 veranstalteten die beiden Italiener im Teatro Storchi in Modena ein erstes Konzert mit ihrem neuen Instrumentarium. Russolo baute später ein Tasten- und Hebelinstrument ("Rumorarmonio"). Die musikalische Stilrichtung "Bruitismus" geriet bald in Vergessenheit, Russolo starb 1947 enttäuscht. Die Ausläufer des Bruitismus erkennt man in den Arbeiten der Gebrüder Baschet in Paris, die noch in diesen Jahren mit ihren tönernen Strukturen an die Öffentlichkeit treten. Der Bruitismus hat die Verselbständigung des Geräusches in den Partituren der Neuen Musik veranlaßt (Varèse, Tomasi, Chavez u. a.). Die Schule der "Musique concrète" beruft sich auf diesen Stil und hat bereits heute eine etwa 30-jährige Geschichte, länger übrigens als die der elektronischen Musik, die erst Anfang der fünfziger Jahre an die Öffentlichkeit trat. – Der französische Komponist Pierre Schaeffer gilt als einer der ersten und exponiertesten Autoren der "Musique concrète" und gründete mit anderen französischen Komponisten (P. Henry, Ph. Arthuys, H. Sauget u. a.) die "Groupe des recherches musicales". Eines der ersten größeren künstlerischen Ergebnisse dieser Arbeiten war das Melodram "Orphée" von Schaeffer nach einem Vorwurf von Jean Cocteau.

Unabhängig von den musikalischen Experimenten während des ersten Weltkrieges und in den zwanziger Jahren ergaben sich aus den Entwicklungen der Tonträger (Schallplatte, Tonfilm und später Tonband) erste Ansätze und Ergebnisse neuer Klanggestaltungen. Paul Hindemith und Ernst Toch arbeiteten 1930 und später in der Rundfunkversuchsstelle der Berliner Musikhochschule mit damals zur Verfügung stehenden Modulationsmitteln wie mit der Veränderung der Plattenumlaufgeschwindigkeiten und den damit verbundenen Tonhöhentranspositionen und Klangspektrumveränderungen. Seit Bestehen des Rundfunks und des Tonfilms bemühten sich Regisseure und Komponisten um die künstlerische Formung der akustischen Illustration, also der Geräusche und der Musik.

Hierbei waren die Gesetzmäßigkeiten der elektroakustischen Übertragungstechnik maßgebend. Mit der Erfindung und Entwicklung spezieller elektrischer und später elektronischer Instrumente entstand in den zwanziger Jahren ein erster "Boom" der neuartigen Klangerzeugung (H. Bode, P. Lertes, Fr. Trautwein, O. Vierling, J. Mager u. a.) und den damit verbundenen kompositorischen Produktionen. Politische Zwangssituationen und der Krieg unterbrachen in Europa eine Weiterentwicklung, während in den USA einige interessante Einzelerscheinungen zu erkennen waren (O. Luening, V. Ursaschevsky, L. Hiller u. a.).

John Cage, als Erfinder des präparierten Klaviers bezeichnet, vermischte konkrete und elektronische Klänge, improvisierte mit Radiogeräuschen, wie ja überhaupt in den USA ungehindert von Tradition und ohne Kenntnis von Vorgängen ähnlicher Art in Europa Versuche mit neuartigen Klanggestaltungen gemacht wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg ergab sich in den USA eine sich rasch fortbewegende Entwicklung; an zahlreichen Universitäten entstanden Studios für experimentelle und elektronische Musik. In den Forschungslaboratorien experimentierte man mit Computermusik, mit Synthesizern, mit der Darstellung synthetischer Sprache (Vocoder) und der Sichtbarmachung von Sprachklängen (visible speech). Die ersten richtungweisenden Wege der elektronischen Klanggestaltung wurden Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre zunächst in Bonn und danach in Köln beschritten (W. Meyer-Eppier, H. Eimert). Der Rundfunk – in den beiden ersten Jahrzehnten des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwungs nach dem Kriege die Rolle des Mäzens der Neuen Musik ergreifend – bot der elektronischen Musik eine institutionelle und damit eine finanzielle Basis; so z. B. beim damaligen NWDR in Köln, später bei der RAI in Mailand, in Warschau, Stockholm usw. In den folgenden Jahren entstanden in Europa elektronische Musikstudios bei anderen öffentlichen Einrichtungen (an Universitäten, an Musikhochschulen) und bei der Industrie; erwähnt sei hier das Siemens-Studio in München, technisch entwickelt von A. Schaaf und weitgehend künstlerisch geprägt von J. A. Riedl.

Die ästhetische Beurteilung der elektronischen Musik basiert zunächst und im allgemeinen auf den gleichen Grundlagen der "herkömmlichen" Musik. Tradierte ästhetische Überlegungen auf die moderne Klanggestaltung zu übertragen heißt zunächst die These zu akzeptieren, daß Musik die künstlerische Organisation aller hörbaren Vorgänge ist. Daraus ergibt sich, daß Musik nicht gebunden ist an ein ausschließlich dafür hergestelltes Instrumentarium im traditionellen Sinne, sondern daß ein rein auditives Geschehen, z. B. Naturklänge aller Art, Geräusche, ein bereits musikalisches Empfinden hervorbringen können ("das klingt wie Musik"). Russolos und Pratellas künstlerische Arbeiten sind nicht nur als eine Reaktion auf die Musik- und Kunstausübung ihrer Zeit zu werten, sondern realisierten seinerzeit schon solche ästhetischen Thesen. Wenn in der traditionellen abendländischen Tonsprache zwei wesentliche Komponenten wie Konsonanz und Dissonanz das Klangempfinden bestimmt haben, so haben sich in diesem Jahrhundert das Klangempfinden und die musikalische "Sehnsucht" über die Erweiterung der Tonalität bis zur Emanzipation des einzelnen Tons, des Klangs (und dessen Farbe) und des Geräusches entwickelt. Die Dispositionen der "klassischen" elektronischen Musik – gelegentlich auch der konkreten Musik – basierten auf ästhetischen und kompositionstechnischen Prinzipien der seriellen Kompositionstechnik, deren Grundlage die Verselbständigung des Einzeltons und seine Beziehung zu anderen selbständigen Tönen mit ihren vielfältigen Parametern ist. Die bei der seriellen Musik geforderte interpretatorische Präzision wurde bei der elektronischen Musik durch die technischen Möglichkeiten optimal erreicht. Der Eingriff in die Struktur eines Klangs, die autonome Klangbildung sind Voraussetzungen ästhetischer Dispositionen der elektronischen Musik.

Der Serialismus schränkte aber auch die Freiheit der elektronischen Klangerzeugungsmöglichkeiten ein. Die strengen Organisationen der parametrischen Strukturen wurden bald überwunden. Die Aleatorik, freie improvisatorische Aktionen und gleichermaßen die Erfindungen elektronischer Spielinstrumente wie Synthesizer provozierten eine stürmische Entwicklung der musikalischen Elektronik, die vor allem auch den Bereich der modernen Popularmusik ergriffen hat.

Elektronische Klang- und neuerdings Bilderzeugungen (Video-Synthesizer) bieten neue ästhetische und künstlerische Realitäten an. Die ästhetische These der künstlerischen Organisation aller akustischen Vorgänge initiierte in einem speziellen Bereich der elektronischen Medien den Begriff der "Radiofonie", etwa 1950 aufgekommen und vor allem in Frankreich, aber auch später in Deutschland für spezifische Rundfunkproduktionen angewendet. – Bereits in den zwanziger Jahren entstanden Hörspiele und Funkopern, die die seinerzeit existierenden technischen Möglichkeiten im Studio ausnützten und nur für das Medium Radio bestimmt und kaum oder gar nicht auf die Theater- oder Opernbühne zu übertragen waren. 1953 komponierte Hans Werner Henze nach einem Text von Wolfgang Hildesheimer sein radiofonisches Musikspiel, "Das Ende einer Welt". In den folgenden Jahren wurden zahlreiche radiofonische Hörspiele und Musiken produziert.

Seit mehreren Jahren erteilt der Bayerische Rundfunk mit einer gewissen Regelmäßigkeit Aufträge für radiofonische Kompositionen. Es wurden im Studio Nürnberg mehr als zwanzig solcher Musiken verschiedener deutscher Komponisten produziert. Das Spektrum der Inhalte und Erscheinungsformen reicht von naturalistischen Reflexionen, von der stereofonisierten Originalton-Reportage bis zu elektronischen Deformationen von Natur-, Instrumental- und Vokalklängen und surrealen Klangspielen.

Die Erscheinungsformen der musikalischen Elektronik erlebten nach einer stürmischen Entwicklung in den sechziger und siebziger Jahren eine scheinbare Regression, vielleicht eine gesunde Reaktion der kreativen Musiker, die sich nicht ausschließlich der elektronischen Apparatur unterwerfen wollen. Die Vermarktung der musikalischen Elektronik einerseits und das vielfältige Angebot des elektronischen Instrumentariums mit z. B. einfach spielbaren Preset-Synthesizern andererseits gefährden sensible Ausdrucksformen. Die Reduzierung der elektroakustischen und elektronischen Hypertrophie auf eine "kammermusikalische Elektronik" würde aktuelle künstlerische Sachverhalte wieder verdeutlichen. Dazu könnte die Linzer Ars Electronica einen Beitrag liefern; das 1. Workshop-Symposium während der AE soll Ausschnitte aus der Historie der musikalischen Elektronik und gleichzeitig Aspekte neuer Entwicklungen vermitteln.

Tagesmoderator für das Workshop-Symposium 1: Klaus Hashagen
Klaus Hashagen wird das Symposion unter dem Aspekt der RADIOPHONIE moderieren: MEDIENGERECHTE KOMPOSITIONEN UND REALISATIONEN IM RUNDFUNK.