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Ars Electronica 1980
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Auditive Poesie


'Gerhard Rühm Gerhard Rühm

mit dem terminus 'auditive poesie' – in entsprechung zur 'visuellen poesie' bezeichne ich als übergeordneten sammelbegriff alle jene poetischen produkte, in denen sprachklang und artikulation bewusst mitkomponiert wurden, konstituierende bestandteile des textes sind. nun wird der wortklang schon bei einer so altbekannten erscheinung wie dem reim mitkomponiert; es gibt gedichte (ich denke zum beispiel an baudelaire), wo eine überraschende thematische wendung durch ein passendes reimwort provoziert worden zu sein scheint. der reim kommt jedoch schon beim stummen lesen zur geltung; er hat, besonders als schlussform der strophenzeile, auch visuelle qualität. für 'auditive poesie' im engeren, in unserm sinn muss also noch ein kriterium hinzukommen, das die einführung dieses terminus als neuen gattungsbegriff erst rechtfertigt. ich meine, ein auditiver text muss über den mitkomponierten sprachklang hinaus eine information vermitteln, die überhaupt erst durch die akustische realisation des textes, sofern man hier nicht schon von einer partitur sprechen will, rezipierbar wird. das einfache wort "du" zum beispiel lässt sich durch verschiedene artikulation differenzieren, in seiner bedeutung verändern, je nachdem, ob es fragend, hinweisend, befehlend, zornig, zärtlich, erstaunt usw. ausgesprochen wird. diese differenzierungen sind solche des stimmklangs, des stimmausdrucks; es sind die musikalischen parameter der gesprochenen sprache wie lautstärke, klangfarbe, tonhöhe, tempo. der musikalische ausdrucksgestus der sprache vermittelt sich im emotionalen bereich so stark, dass es bereits auf dieser ebene, sogar zwischen menschen, die verschiedene sprachen sprechen, zu einer durchaus sprachlichen, wenn auch nonverbalen kommunikation kommen kann – und das umso unmissverständlicher, je emotionaler die inhalte sind, die mitgeteilt werden sollen. die reine lautdichtung, jene dichtung also, die vokale äusserungen nicht mehr in den begrenzten und, wo es sich nicht um onomatopoetische handelt, willkürlichen kombinationen verwendet, in denen sie begriffe bezeichnen, setzt nicht zuletzt bei diesem ausdrucksgestus der sprache an. die lautdichtung bildet inzwischen einen eigenen autonomen bereich innerhalb der 'auditiven poesie', man könnte sagen, sie sei 'auditive poesie' in reinster form.

der unterschied zwischen gegenständlicher und ungegenständlicher kunst, zwischen semantischer und asemantischer poesie ist kein prinzipieller, sondern ein gradueller, wenn auch der schritt vom "gerade noch" zum "nicht mehr" grösser erscheint, als der vom "noch" zum "kaum noch". was wir bei gegenständlicher wie bei ungegenständlicher kunst – und das gilt heute auch für die dichtung – verstehen oder nicht verstehen (wenn wir ein ästhetisches verstehen über das bloss registrierende wiedererkennen eines gegenstandes hinaus meinen), ist das, was uns daran berührt, unsere vorstellungen bewegt, ist der ausdruck, den etwas für uns hat. dieser ausdruck wird allerdings von uns in einem auf erfahrung vertrauenden interpretationsprozess in die bewegung, in die stellung des gegenstandes hineingelesen, oder, wie man glaubt, daraus "verstanden". so wird aus der bewegung ein gestus, aus der stellung eine haltung; der mensch fühlt verwandtes und ist befriedigt. es ist für den rezipienten nicht von prinzipiellem belang, höchstens ein problem der ästhetischen bildung, ob diese haltung durch eine "realistisch" gemalte menschliche figur oder bloss eine schmale linie repräsentiert wird.

der menschliche sprachlaut ist eine noch unmittelbarere, ursprünglichere ausdrucksform als die linie, die ja im fertigen bild – dem ästhetischen betrachtungsgegenstand also – nur noch die spur einer geste ist. jeder mensch bringt in verschiedenen emotionalen situationen unzählige differenzierteste laute hervor, die auch ganz unabhängig von ihnen aufgesetzten begriffen, einfach als "musikalische" ausdrucksgesten, unmittelbar verständlich wirken; jeder kennt sie aus eigener erfahrung, und sie sind in allen sprachkulturen gleich. die menschlichen sprachlaute bilden ein internationales ausdrucks-"vokabular", das buchstäblich für sich spricht. man kann aus diesen vielfältigen, weit über den jeweils von den nationalsprachen genutzten bereich hinaus sich anbietenden lauten künstlerische gebilde formen, man kann sie ver-dichten, vereinzeln, neu ordnen, man kann sie vervielfachen und schliesslich mit hilfe technischer mittel verlängern, verzerren, transformieren. die geräte, die man für diese manipulationen benötigt, bietet im günstigen fall der rundfunk an. solche im technischen studio angefertigten texte kann man, da sie sich den spezifischen möglichkeiten des rundfunks verdanken und zugleich diesem medium besonders adäquat sind, 'radiophone texte' oder um auf ihren kunstcharakter hinzuweisen – 'radiophone poesie' nennen. sie, wie überhaupt die 'auditive poesie', markiert nicht den "endpunkt" einer sprachkünstlerischen entwicklung, sondern signalisiert die erregende entdeckung eines weiten ergiebigen experimentierfeldes, dessen erschliessung eben erst begonnen hat.

vom lautgedicht zur radiophonen poesie
in signifikanten beispielen und kommentaren soll hier ein überblick über das phänomen lautdichtung in geschichte und gegenwart gegeben werden. das spektrum reicht von spontanen lautäusserungen – etwa im religiösen bereich (glossolalie) – über volkstümliche spielformen wie sinnlose liederrefrains (fideralala) und kinderabzählreime bis zu bewusst gestalteten kunstprodukten, die sich in einer vielzahl von formen und tendenzen präsentieren.

die lautpoesie, in vergangenen jahrhunderten nur als randerscheinung existent, hat sich in der zeitgenössischen dichtung zu einem eigenen beachtlichen zweig entwickelt. die vorboten des modernen lautgedichts entstanden vor allem in onomatopoetischer technik, als klangmalerei, das heisst, sie wollten naturlaute imitieren – ein kurioses und radikales beispiel geben die gedichte nach vogelstimmen des ornithologen johann matthäus bechstein aus dem anfang des vorigen jahrhunderts. die entwicklung des reinen lautgedichts, dessen klangbilder nichts über sich selbst hinaus bedeuten sollen, beginnt mit paul scheerbarts phantasiesprachlichem poem 'kikakoku ekoralaps!' von 1897. pseudosprachlichen charakter tragen auch noch die frühen expressionistischen und dadaistischen gedichte von rudolf blümner ('ango laina') und hugo ball. kurt schwitters' berühmte 'ursonate' lehnt sich an musikalische formen an; schwitters operiert mit einzelsilben, die keinen sprachcharakter mehr prätendieren. spontane artikulationen sind die lautgedichte des in wien geborenen dadaisten raoul hausmann, die nach dem ersten weltkrieg entstanden. hausmanns produkte erfassen erstmals die vorsprachlichen ausdrucksbezirke der menschlichen stimme wie stöhnen, wimmern, stammeln, kreischen usw. hausmann hat die totale auflösung der sprache bis zum isolierten phonem vollzogen. zur neuen 'phonetischen poesie' gehört sowohl die spontane artikulation – die heute alle äusserungen umfasst, welche sich mit den sprechwerkzeugen hervorbringen lassen – als auch die kalkulierte lautkomposition, die das lautmaterial der sprache nach musikalischen prinzipien organisiert. sie verwendet in steigendem masse auch technische mittel der klangmanipulation und hat damit eine neue art von dichtung hervorgebracht: die mit den spezifischen möglichkeiten des rundfunks arbeitende 'radiophone poesie'.