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Prix Ars Electronica
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Prix-Jury

 
 
Veranstalter
ORF Oberösterreich

Diaspora der Digital Musics

The Digital Musics Jury


Es ist nicht zu leugnen: Zu Beginn dieses einundzwanzigsten Jahrhunderts kommen die innovativsten, fesselndsten und erstaunlichsten Arbeiten, die im sagenhaft weiten Feld der Digital Musics produziert werden, ausgerechnet von Musikern, deren Werdegang größtenteils außerhalb der akademischen Bildungsgänge und der üblichen Karrieren verlaufen ist. Stattdessen erzählt ihr Werk von einem intensiven autodidaktischen Engagement in den vernetzten Welten postindustrieller Kulturen: Konzeptuelle und Performance-Kunst, Installationen und Video-Arbeiten, improvisierte Musik, Öko-Aktivismus, Post-Kolonialismus und nicht zuletzt die Post-Techno/Hiphop/Dub-Grassroots-Diaspora abgestumpfter Beatnuts und der Wohnzimmer-Tüftler.

Ein Teil dieser sozial und kulturell lebendigen offenen Aktivitäten hat die elektronische Musik an die vorderste Front der gegenwärtigen kreativen Anstrengungen katapultiert. Und dies wurde in vielen der Einreichungen zum diesjährigen Prix Ars Electronica deutlich – die drei Preisträger sind ebenso wie die Anerkennungen hervorragende Beispiele für den Kern einer vielfältigen Landschaft voller Ausdruck und voller Suche, die vielleicht noch nie zuvor so vibrierend war. Aber die Tradition und Kultur solcher Preise für elektronische Musik (und eben auch des Prix Ars Electronica) wirkt sich dämpfend aus auf die Art von Werken, die im Wettbewerb gehört und prämiert werden. Außerdem hatte die Jury den Eindruck, dass einige der Künstler, die von sich aus eingereicht haben oder die zur Einreichung eingeladen wurden, nicht ihre besten Werke eingesandt haben.

Ein Problem, vor dem die vielschichtige Digital-Musics-Kategorie des Prix Ars Electronica noch immer steht, ist, dass für allzu viele Musiker und Klangkünstler ein "Wettbewerb" als solcher entweder unbekannt oder nachgerade der Inbegriff des Bösen ist. Sofern sie überhaupt einer breiteren Öffentlichkeit innerhalb der Musikerschaft bekannt sind, werden die größeren Musikpreise noch immer als das Reservat einer musikalischen Elite betrachtet, die ihre hermetische Kunst innerhalb der hohen Mauern der universitären Musikfakultäten und –institute dieser Welt ausübt. Trotz der tapferen Versuche der vergangenen Jahren, die Musikkategorie auszuweiten, ist diese Ansicht noch immer zutreffend. Vielleicht stellen auch viele Klangkünstler und Musikleute die Relevanz so genannter "Wettbewerbe" und ihren Einfluss auf den klanglichen Schöpfungsakt in Frage. Als die Laptop-Pioniere Autechre 1999 im Hinblick auf eine eventuelle Einreichung angesprochen wurden, lehnten sie respektvoll ab mit der Bemerkung: "Ich glaube, wir sind nicht besser als irgendwer anderer." Kurioserweise haben sie diesen Standpunkt im folgenden Jahr überdacht, als das andere Projekt dieses Duos, "Gescom", tatsächlich eine Auszeichnung erhielt, auch teilweise deswegen, weil die Jury die so unterschiedlichen Leistungen des Duos, das in der Öffentlichkeit unter mehreren Identitäten firmiert, anerkannt hat.

Wenn der Prix Ars Electronica weiterhin als eines der wichtigsten und als egalitärer Barometer des gegenwärtigen Zustandes der digitalen Musik im weitesten Sinne anerkannt werden soll, brauchen wir zusätzliche konzertierte Anstrengungen, diesen Anspruch allseits bekannt zu machen – nicht nur in den und über die Akademien, sondern über alle verfügbaren Kommunikationskanäle, von der Musikpresse zur Online-Community. Die meisten Musiker operieren in einem Umfeld, in dem finanzielle Gegebenheiten eine entscheidende Rolle spielen – und wenn schon nichts anderes, so sollte wenigstens der vom Prix Ars Electronica angebotene Geldpreis Anreiz genug sein, um sicherzustellen, dass es sich viele der "elektronischen Außenseiter" doch noch überlegen, zum ersten oder zweiten Mal einzureichen.

Der Krieg mag vorbei sein, aber noch gibt es einige, die die Schlacht nicht verloren geben. Als wir die 380 Einreichungen aus allen erdenklichen Sektoren der kybernetischen Klanglandschaft durchforsteten, sorgten einige der in vergangenen Jahren aufgetauchten Fragen erneut für Kontroversen. Im Jury-Statement des letzten Jahres, "Weiterleiten an die Welt", erging ein Ruf an die vormals dominierenden Einflüsse im Wettbewerb, uns "entweder zu erstaunen oder zu verschwinden". Auch in den diesjährigen Diskussionen wurde auf die historische Hierarchie der Einflüsse von elektroakustischer und akusmatischer Musik auf die Entwicklung der Musiksektion des Prix Ars Electronica Bezug genommen. Wir würden jeden musikalischen Stil dazu zwingen, uns aufhorchen zu lassen, oder dies zumindest zu versuchen. Sich einfach nur auszublenden, zu verschwinden, erscheint uns zu simpel – so, als würde man zurückschrecken vor dem, was nachgefragt wird, anstatt sich kopfüber hineinzustürzen und es von einem anderen Blickpunkt aus neu zu versuchen. Und genau nach dieser Herausforderung hielten wir unsere kollektiven Ohren gespitzt.

Es gab einige Diskussion darüber, ob man das elektroakustische Genre in Hinblick auf seine historische Bedeutung vielleicht gesondert betrachten sollte. Es wurde aber beschlossen, diesen Bereich nicht anders zu behandeln. Auch wenn sie die Mehrheit der Einreichungen zum Wettbewerb ausmachten, blieben die meisten elektroakustischen Stücke in seit langem erprobten kompositorischen Strukturen verankert. Die Jury hatte Mühe, frische, unerwartete Ansätze in diesem Gebiet zu finden. Vielleicht ist dieser Mangel an Erneuerung ja auch teilweise auf den Boykott zurückzuführen, der von einigen einflussreichen Mitgliedern dieser Gemeinschaft verhängt wurde. Falls dem so wäre, so sollt ihr wissen, dass dieser Wettbewerb für jedermann offen ist, einschließlich der scholastisch Angehauchten! Natürlich versucht die Jury nicht nur, Innovation zu belohnen, sie wird sicherlich herausragend aufregende Werke auszeichnen, auch wenn sie mit traditionellen Techniken konzipiert wurden. Die Jury hatte auch den Eindruck, der Wettbewerb sollte seine Fühler nach anderen Klangpraktikern ausstrecken, wie etwa nach den Klangdesignern des Kinos, den Softwareprogrammierern und vor allem natürlich nach den Menschen aus so vielen Ländern wie möglich. Uns geht es um wirkliche Bandbreite, nicht um Zufälligkeiten und Alibihandlungen.

Stellt man alle Musikpraktiker auf die gleiche Ebene, so erstaunt es zu sehen, wie viel Musiker und Klangkünstler aus unterschiedlichen Generationen doch gemeinsam haben. Manch einer wendet moderne Laptop-Techniken an, die die langsamere methodische Kompositionsweise der Musique Concrète wieder entdecken. Und indem diese früheren Grenzen verwischt werden, wird die neue Schule früher oder später diese Trennung hinwegfegen. Und wer jetzt etwa glaubt, der Prix sei sozusagen den kommerziellen Bach hinunter gegangen oder sonst wie verramscht worden, der wird überrascht sein, wie wenig Mainstream-Zugänglichkeit jedem einzelnen der ausgewählten 15 Werke innewohnt!

Wir wollen andererseits hier auch nicht die gesamte Szene über einen Kamm scheren. Es gilt aufpassen, denn die neue Elite könnte nach der Übernahme früherer Eliten in die gleichen Fallen stolpern. Sicherlich werden uns einige angesichts der heurigen Gewinner und Anerkennungen – etwa des US-Western-Aufgebots rund um Kid606 und seine Freunde, J. Lesser, bLecktum from bLechdom und das TigerBeat6-Kollektiv – der Bevorzugung einer elektronischen "Clique" zeihen. Aber jetzt ist nun einmal deren Zeit angebrochen, und die Jury reagierte eher auf die "Unterschiede" zwischen diesen Individuen, wobei sie die musikalische und klangliche Wirksamkeit als Kriterium hernahm, und weniger darauf, dass sie einander kennen. Die Tatsache, dass sie eine lose Allianz bilden und dass dies nach einem politischen Ungleichgewicht in der Repräsentation der einzelnen Genres aussähe, wurde sehr wohl in die Diskussion geworfen. Das mag seine Richtigkeit haben, allein, jeder hat von unterschiedlichen Labels aus eingereicht, und Aufgabe der Jury war es, das zu Gehör Gebrachte unter musikalischen Gesichtspunkten zu beurteilen, ohne Ansehen der involvierten Personen. Wir haben die Gefahr, eine besonders bekannte Gruppe im Ergebnis auszusondern, erörtert, und dies hat uns erlaubt, auch Produzenten und Kuratoren zu berücksichtigen, die Kompilationen von zahlreichen verschiedenen Künstlern zum Bewerb eingesandt haben.

Im vergangenen Jahr reichte Carsten Nicolai das Multi-CD-Set "20' to 2000" unter dem Label Raster-Noton ein, das eine Anzahl verschiedener Künstler repräsentierte, die zwar untereinander bekannt waren, aber an unterschiedlichen Orten in ganz Europa und Japan arbeiteten. Als Beiträger und Kurator hat Carsten Nicolai dieses Projekt unter ein gemeinsames Thema gestellt und damit eine Ästhetik zum Ausdruck gebracht, die einen Querschnitt durch wichtige Musik wie auch eine visuell beeindruckende Verpackung zustande brachte. Da diese Kombination einer Goldenen Nica würdig erachtet worden war, erreichte uns heuer eine beträchtliche Anzahl von Zusammenstellungen zur Begutachtung. Die Jury hat sich Zeit genommen, diesen Typ von Einreichung zu diskutieren, der vor allem thematische Einladungswerke und Genre-Querschnitte zu umfassen scheint.

Es ist für Digital Musics von entscheidender Bedeutung geworden, jetzt auch neue Ideen in der Organisation, Zusammenstellung und Produktion elektronischer Musik anzuerkennen. Wenn Labels, Galerien oder Individuen eine Serie oder einen Prozess ausbrüten, der grundlegende Methoden in der Verbreitung, Verteilung oder im Konsum neuer Musik umfasst, dann sollten wir die entscheidenden Leute hinter diesen Darbietungen auch zur Kenntnis nehmen. Ohne diese unabhängigen Anstrengungen wäre das Publikum wesentlich seltener mit ungewöhnlicher Klangkunst konfrontiert. Mit den vergangenen Verbeugungen vor den Kontingenten der Unabhängigen wie Mego und Raster-Noton und mit den diesjährigen Anerkennungen für Mille Plateaux, Lucky Kitchen und TierBeat 6 stellt die Jury des Prix Ars Electronica fest, dass die Bedeutung des Kurators durchaus jener der Komponisten oder Klang-Bildhauers gleichkommt.

Aber der Preis sollte natürlich nicht an jemanden vergeben werden, der beschlossen hat, die Tracks seiner besten Freunde als bequemen beliebigen Sampler zusammenzuleimen und diese Sammlungstheorie als signifikante Idee anzusehen, wenn kein Biss dahinter ist. Das künstlerische Konzept "vor" der Kompilation wird hier zum eigentlichen Bewertungskriterium. Manchmal scheint ein kollektiver Zusammenhang wegen der Verschiedenheit der Ansätze eine stärkere Sogwirkung auszuüben als die Anstrengungen Einzelner - was ihn andererseits aber schwerer zu beurteilen machen. Wird die Kompilation als eine bequeme Form für den Wettbewerb eingereicht oder steckt schon vor der Assemblage eine thematische Idee dahinter, die eine konsequente Substanz mit sich bringt? Nur dann kann das Ganze als eine singuläre Vision angesehen werden und mehr sein als eine der vielen bloß pluralistischen Aussagen, die wir oft erhalten haben.

Ein weiteres kompilationsbezogenes Dilemma tauchte auf, als wie die 2001-Retrospektive von John Oswalds "Plunderphonics"-Ära erhielten, komplett mit bisher unveröffentlichen Mixes und zahllosen Out-Takes. So sehr die Juroren die absolute Bedeutung dieser Werke zu schätzen wissen, die die Begriffe von Copyright, Sampling und Aneignung auf den Prüfstand stellen, wie sie in der gegenwärtigen MP3-Napster-Debatte vorherrschen – wir fanden dennoch, dass eine Auszeichnung für ein Lebenswerk nicht in den Rahmen der Richtlinien des Prix Ars Electronica passen, die jede neue Jury für sich neu evaluieren muss.

Denn wir haben genug gefunden, was uns wertvoll erschien ... Es ist immer schwierig, ein elaboriert komponiertes Stück Musik mit einer Audio-Installation zu vergleichen und zu einem ausgewogenen Urteil zu kommen. Die Klänge, die von so einer Installation ausgehen, werden zumeist von den Parametern der Skulptur selbst determiniert und nicht so sehr von den musikalisch-kompositorischen Strukturen, die die "Komponisten" im Studio definieren. Ungeachtet des Formats mussten wir uns damit auseinandersetzen, wie man den Klang erlebt, ob er aus horizontal-linearer oder aus vertikaler Notenorientierter Entwicklung entsteht oder aus dem Einfluss vorgefundener Umweltquellen. Sobald diese Konzepte abgeklärt sind, tauchen weitere Fragen auf: Welche Art von musikalischer Sprache übersetzen wir und wie spricht sie den Geist an? Dies waren die Kriterien jenseits des reinen handwerklichen Geschicks. Und wenn etwas sehr einfach und mit rudimentären Mitteln realisiert wurde – wie "elektronisch" muss es dann eigentlich sein?

Als der Destillierprozess aus der enormen Fülle der Werke voranschritt, begann die Jury nach qualitativ besseren Einreichungen zu dürsten. Der Wunsch nach dem, was in dieser Runde nicht da war, löste einen lebhaften Austausch darüber aus, wie man effizienter gehaltvollere Werke anlocken könnte. Die Art und Weise, wie etwa die neuen MP3-Web-Label-Koalitionen arbeiten, bringt einen ganzen bisher in dieser Kategorie nicht beachteten Bereich ins Spiel und muss noch ein wenig stärker ins Blickfeld gerückt werden. Wenn auch einige Präsentationen durchaus noch etwas Feinschliff vertragen könnten, um das Interesse der Juroren schon innerhalb der ersten zwei bis drei Minuten des ersten Schnelldurchlaufes zu fesseln, so gaben uns doch die nach der ersten Runde verbleibenden Werke Vertrauen in das Ergebnis der sehr umfangreichen Anhörung.

Der Gewinner der Goldenen Nica ist ein brillantes, klares und exquisites Werk, das einstimmig gewählt wurde, während die beiden Auszeichnungen einige Kontroversen auslösten, sich letztlich aber durchgesetzt haben. Im Zirkel der besten drei: der Japaner Ryoji Ikeda, der mit seinem ultra-minimalistischen und kraftvollen Werk "Matrix" erforscht, wie wir Klang im Raum erleben, und uns dabei mehr von seinen raffinierten und pulsierenden Sinus-Ton-Ensembles bietet; Markus Popp (oval) aus Deutschland mit einer korrodierten Klangpalette, der aus seinen geräuschvollen Quellen eher melodische und harmonische Fragmente destilliert und seine Erforschung auf solider theoretischer Grundlage aufbaut; und das amerikanischen Laptop-Duo bLectum from bLechdom, die mit schrägem Humor, Pop-Bezügen und einem ausgeprägten Sinn für das Show-Frau-Sein in der DSP-Programmierung eine sowohl witzige wie belebende Musik schaffen. Dieses Trio von Siegern verbindet eine Achse, aus der zahlreiche fesselnde musikalische Ideen entspringen. Die zwölf Anerkennungen schließen eine Installation von Ted Apel ein, die Glühbirnen als Klangquellen verwendet; eine raffinierte Arbeit an den extremen Rändern der Frequenzwahrnehmung von Richard Chartier; die abrasiven Gesten und stripped Backbeats von Louis Dufort; einen Installations-Soundtrack von Orm Finnendahl; repetitive, kaum wahrzunehmende Klänge, von John Hudak aus ihrem natürlichen Umfeld herausgelöst und in verlockende Texturen umgeformt; virtuose aufregende Pop-Dekonstruktionen von Lesser und Kid606, die geradezu obsessiv die Verwendung und Beherrschung des Sound-Manglings in einen Livekontext stellen; Pan sonics detaillierte Klangformung, die eine Art reduziertes klangliches Bogenschießen schafft und in dieser Ausgabe ein wachsendes Interesse an der Verwendung von Hall und Echo beweist; Alejandra Salinas und Aeron Bergman / Lucky Kitchens originelle Verschmelzung von O-Tönen mit synthetisierten Quellen zu beinahe dokumentarischen Erzählungen; der musikalisch reiche Ansatz in Janek Schaefers Arbeit, der sich nur als "Musique Concrète Meets Vinyl Aberration" umschreiben lässt; und nicht zuletzt die beiden signifikanten Kompilationen von Mille Plateaux und TigerBeat6.


 
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