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Prix Ars Electronica
Archive

Prix-Jury

 
 
Veranstalter
ORF Oberösterreich

Bilanz des Jahres

Florian Hecker, Tony Herrington, Naut Humon

„Die einzelnen Bereiche der Musik – klassische, zeitgenössische, Pop, Folk, traditionelle, Avantgarde usw. – scheinen Einheiten für sich zu bilden, manchmal voneinander abgeschottet, manchmal einander gegenseitig durchdringend. Sie weisen erstaunliche Unterschiede auf, sind reich an neuen Schöpfungen, aber auch an Versteinerungen, Ruinen, Verschwendung, und das alles in ständiger Formung und Umformung wie die Wolken, so differenziert und so ephemer.“

Iannis Xenakis „Music Composition Treks“, in: „Composers and the Computer“. Los Altos: William Kaufmann Inc., 1985.

Die in der alljährlichen Digital-Musics-Kategorie eingereichten Werke unterstreichen einmal mehr, dass die elektronischen Musiker ihre Werke mehr und mehr auf den unterschiedlichsten Plattformen vorstellen – von Installationsarbeiten zu Mixed-Media-Stücken, von Galerie-Präsentationen zu Videos, von Klangkunstausstellungen zu Internet-Domains, ganz zu schweigen von den fast schon „traditionellen“ Präsentationsräumen CD, Clubs, Rundfunk, Klanglabor und Konzertsaal. Diese vielfältigen Kontexte bieten den Musikern in Kombination mit der ständig wachsenden Zahl billiger Hard- und Software, egal ob handelsüblich oder eigens konstruiert, die Gelegenheit, ihr Werk ständig zu erneuern und auszuweiten, ein Faktor, der sich auch in den diversifizierten Einreichungen zum Musikforum des Prix Ars Electronica niederschlägt.

Wie nun die jeweilige Jury dieses Spektrum zeitgenössischer digitaler Klangproduktion aufnimmt, wird sich wohl von Jahr zu Jahr ändern. Aber ändert es sich genug? Wie schnell scheint dieses Feld selbst immer mehr Innovationen hervorzubringen, die – egal ob veröffentlicht oder nicht – immer mehr Konsumenten mit mehr und mehr Produkten überschwemmen? In wie weit kümmern sich die meisten Leute, die Musik kaufen, tatsächlich um den Inhalt, den sie erwerben? Wie stark beeinflussen Marketing, soziales Umfeld und das, was auf der Party bei Freunden zu spielen gerade cool ist, wohin der Unterhaltungsrubel rollt?

Zum Glück hat unsere Jury solch kommerziellen Überlegungen nur selten anzustellen. Die Mehrzahl der Preisträger aus all den Jahren des Prix beantwortet die Frage, wer den gegenwärtigen elektronischen Underground zu neuen Zielen vorantreibt und wie diese Pioniere handwerklich mit ihrer Audiowissenschaft umgehen. Als Jury für das doch recht kontroversielle Format eines „Musikwettbewerbs“ haben wir den Auftrag, Hunderte von Einreichungen zu sichten, um auf irgendeine Weise jene fünfzehn Spitzenwerke herauszufinden, die für das „Wachstum“ oder den „ästhetischen Wert“ dieses Gebiets stehen. Das Einzige, was dabei mit ökonomischen Faktoren zu tun hat, ist der Anreiz des Geldpreises, zumindest für die drei Hauptpreisträger, und die internationale Anerkennung für die verbleibenden. Die Herausforderung einer jeden Jurysitzung besteht darin, bei fünf sehr unterschiedlichen Juroren einen gemeinsamen Nenner hinsichtlich dessen zu finden, was unter gut, schlecht, Denkanstoß oder kontraproduktiv zu verstehen ist.

Auch wenn es immer schwerer wird, den Berg von Musik, der sorgfältig analysiert und bewertet wird, genau zu kategorisieren, scheint es doch wichtig, jene Werke zu honorieren, die den Horizont erweitern, ungeachtet der jeweiligen Etikettierung ihrer Einflusssphäre. In jeder Form von Kunst härten neue Ideen, sobald sie einmal Fuß gefasst haben, zu Genres mit allen sozialen, ästhetischen und politischen Dimensionen aus und erhalten eine Bezeichnung (Dada, Surrealismus, abstrakter Expressionismus, Elektroakustik, Drum’n’Bass, Electronica, was auch immer). So ist die Welt nun mal. In der Vergangenheit hat auch der Prix Ars Electronica seine Kategorie-Bezeichnungen von „Computergraphik“ oder „Computermusik“ in etwas schlankere Formulierungen geändert, die einem zeitgenössischen Publikum weniger rigide oder formalisiert erscheinen. Und selbst wenn sich zahlreiche Künstler selbst gefangen fühlen in den spezifischen Genre-Einteilungen des Publikums, der Presse oder einer Jury, so ist es doch an der Zeit, sich weniger den Kopf über die Unterschiede zwischen den neuesten „Clicks & Cut“ oder beliebigen akademischen Strukturen zu zerbrechen. Gerade weil dies alles Traditionen sind, deren wir uns bewusst sein sollten, müssen wir uns auf das konzentrieren, was die Musik als solche voranbringt, ungeachtet seiner augenscheinlichen Herkunft.

Zum Glück für unsere Runde scheint der diesjährige Stapel an Klangwundern heterogener zu sein als je zuvor. In dem Maße, in dem gewisse musikalische Trends von Zeit zu Zeit einen Sättigungspunkt erreichen - mit großen Mengen von Glitch, Breakbeat, Akusmatik und Variationen über das Geräusch -, wird es schwierig, über solche Trends hinauszublicken. Aber eine Gruppe von Individuen hebt dennoch den Kopf aus der Masse heraus – in einigen Fällen, weil eine Jahrzehnte zurückreichende Audio-Tradition gewahrt und weiterentwickelt wurde oder weil ihr Werk bewiesen hat, in seiner Ausformung des zeitgenössischen digitalen Musikdiskurses höchst konsequent zu sein. Die hier ausgewählte jüngere Generation mag von diesen sichtbaren Meistern beeinflusst sein oder nicht, jedenfalls steht auch sie fest verwurzelt auf ihrem eigenen Boden im Zentrum des radikalen Experimentalismus von heute.


Goldene Nica

Yasunao Tone: „Man’Yo Wounded 2001“


Yasunao Tones mit der Goldenen Nica bedachtes Stück „Man’Yo Wounded 2001“ ist eine der jüngsten Ausformungen seines Projekts „Musica Simulacra“. Das Projekt selbst basiert auf einem Konzept der „Verklanglichung“ von Bildern und Text, an dem er seit den 1970er-Jahren arbeitet. Sein Beitrag zu den Methoden, digitale Daten mithilfe der CD zu manipulieren, geht auf die Mitte der 80er-Jahre zurück. Für die geplagten Ohren der Jury jedenfalls enthüllte die 2001er-Version seiner selektiven „Verwundungen“ von CDs mithilfe eines gelochten Klebestreifens auf der Oberfläche hörbare Ergebnisse, die ebenso weit reichen wie jene einer beliebigen digitalen Signalbearbeitungssoftware, wie sie von der Desktop-Elite verwendet wird.

Kern von Tones Arbeitsprozess ist die grundlegende Technik, das Abbild von Textformen in pixelförmige Klangfragmente umzuwandeln, die mit verschiedenen DSP-Methoden ausgebaut werden. Im Mittelpunkt des Juryprozesses stand jedenfalls die fast magnetische Anziehungskraft von Yasunaos Wirbelwind aus seltsam verfremdeten Klangtexturen, der einfach hervorstach und jeden an unserem Tisch in seinen Bann zog. Tone erklärt seine Methode folgendermaßen:

„Warum ich meine eigene Arbeit verwundet habe? Ein reproduzierendes Medium ist eine Technik zur Gravierung oder Stabilisierung von Klängen, die von Luftvibrationen erzeugt werden und die aus der Natur in ein Magnetband oder Plastik verschwinden, damit man das Werk nach Lust und Laune wiedergeben und hören kann. Das hat die Rezeption der Musik von den zeitlichen und räumlichen Beschränkungen des Konzertsaals emanzipiert. Aber die Aufzeichnung ist nicht gerade ein ideales Medium für Komponisten, die Werke einer Form schreiben, die ohne die Aufführung und ohne das Rezeptionserlebnis als aktiver Teil der Musik nicht vollständig sind.“

Zur spezifischen Anwendung seiner Theorie auf seine aufgenommenen Werke sagt Yasunao: „Ich arbeite seit 1997 am CD-ROM-Projekt „Musica Simulacra“. Dass ich jahrelang an einem Stück arbeite, liegt an seiner großen Länge und daran, dass ich das Klangwörterbuch, auf dem es aufbaut, ständig aktualisieren muss. Auch meine Performance nimmt diese Work-in-Progress-CD-ROM als Quelle. Das interaktive Programm erlaubt es dem Publikum, 4516 verschiedene Musikstücke auf der Scheibe auszuwählen, und ein jedes wird exakt aus einem der ebenso vielen Gedichte der japanischen Anthologie „Man’yoshu“ in digitales Geräusch übertragen. Die Gedichte stammen aus dem 8. Jahrhundert und wurden in chinesischen Schriftzeichen geschrieben; es würde rund 3000 Stunden dauern, die CD in voller Länge abzuspielen. Das CD-ROM-Projekt verwendet die gleiche Methode, die ich für mein erstes Album „Musica Iconologos“ verwendet habe. Da es sich dabei um ein einziges Stück handelt, gibt es keine Auswahl für den Zuhörer, deswegen habe ich, nachdem ich ein Stück aus „Musica Simulacra“ auf CDR gebrannt hatte, diese Scheibe mit einem Stück Klebeband präpariert (also ‚verwundet‘) – eine Methode, die ich seit 1985 verwende. Und dann führe ich die CD mit meinem Player aus dem Jahr 1984 auf … Auf diese Weise wird das ‚verwundete Man’yo‘-Stück ein ferner Nachhall des Originals und gleichzeitig ein völlig neues Werk.“

Yasunao schließt: „… „Aufzeichnung“ geht davon aus, dass auch bei der Wiederholung jede Kopie des Bandes oder der Platte identisch ist, egal wie viele davon hergestellt und wie oft sie abgespielt werden. Aber eine Aufzeichnung ist nicht das ideale Medium für Komponisten, die Musik schreiben … eine Komposition ist nur vollständig durch ihre Aufführung und Rezeption als aktive Intervention in der Musik. Deswegen würde ich gerne eine Aufnahme schaffen, die nicht bei jedem Abspielen das Gehörte wiederholt. Ich arbeite seit Jahren und mit unterschiedlichen Methoden an diesem Konzept.“

So wie wir seine Arbeit verstehen, ist klar, dass Yasunaos Produktionen dem theoretischen Ziel, das er sich gesetzt hat, schon recht nahe kommen. Sie bieten nicht nur ein fesselndes Hörerlebnis, sonder auch ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wie sich kompositorische Arbeit, die sich der Aufführungsmedien ebenso wie der Massenproduktion bewusst ist, erfolgreich eine neue Kompositionsmethodologie umsetzen kann, die sowohl künstlerisch gültig wie intellektuell herausfordernd ist.


Auszeichnung

Curtis Roads: „Point, Line, Cloud“


In den letzten Jahren wurde in der Jury und in den Jurybegründungen immer wieder darüber diskutiert, welcher Herausforderung sich elektroakustische Komponisten zu stellen haben, wenn sie neue Werke beim Wettbewerb der vergangenen Jahre einreichten. Akusmatische Kritiker des Prix hatten das Gefühl, dass ihre Kategorie seit 1988 Gefahr laufe, unterbewertet zu werden, und einige unter den bekannteren akademischen Institutionen haben überhaupt aufgehört einzureichen, nachdem sie seit der Einführung des Prix 1987 eine Unmenge von Preisen gewonnen hatten. In genau jenem Jahr saß ein gewisser Curtis Roads in der Jury; fünfzehn Jahre später wählte die diesjährige Jury sein Stück „Point, Line, Cloud“ für eine Auszeichnung aus.

Hat sich der Kreis geschlossen, wenn wir jetzt ein neues elektro-akusmatisches Werk gefunden haben, dem es tatsächlich gelungen ist, viele der Jurymitglieder zu erstaunen, weil es höchst relevant für die nächste elektronische Generation ist? Die Situation ist sicherlich noch verbesserungsfähig, aber vielleicht kann Curtis’ aufgeladene musikalische Erfahrung ja eine Art Messlatte sein für zukünftige akusmatische Einreichungen sein, die über jene üblichen Muster hinausgehen, wie sie in der Mehrzahl der anscheinend schon klischeehaften Kompositionen wiederholt werden. Uns jedenfalls hat dieser frühe Ahne des Microsounds bis an die nächste Schwelle einer Quantenakustik geführt, in der sich Klangpartikel von einer Zehntelsekunde (oder weniger) zusammenballen, auflösen und zu anderen Audio-Texturen verschmelzen. Durch die Ausweitung der Grenzen zwischen Zeitskalen und Frequenzintensitäten hat Curtis ein seltsam dichtes Gewebe aus unvorhersehbaren Formen und Gefühlen erzeugt, die unterschiedliche Modi der Kontinuität heraufbeschwören.


Auszeichnung

Aeron Bergman / Alejandra Salinas / Lucky Kitchen: „Revisionland + The Tale of Pip“


„Revisionland“ von Lucky Kitchen war für die Jury sozusagen der Katalysator für das zweite ausgezeichnete Werk, das vom in Spanien beheimateten Duo Alejandra Salinas und Aeron Bergman eingereicht wurde. Es handelt sich um die CD-Wiedergabe eines Installations-Stückes. Eingeladen, eine Installation für eine Galerie in Stirling (Schottland) – einem eng mit der Geschichte des schottischen Kampfes um die Unabhängigkeit von England verbundenen Ort – zu erarbeiten, haben die beiden als Teil des konzeptuellen Hintergrunds für das Werk Episoden aus der schottischen Frühgeschichte verwendet, besonders die Namen und Charakteristiken einiger der seltsamen Monstren und Wesen, die sich in Legende, Folklore und Mythologie des Landes herumtreiben.

Diese Bedachtnahme auf ortsbezogene Geschichte in der Vorbereitung eines Installationsstücks unterscheidet das Lucky-Kitchen-Stück wesentlich von der Vielzahl anderer Einreichungen, die in die lose Kategorie „Klangkunst“ fielen und die alle nur wenig Bezug auf jenen Ort zu nehmen schienen, an dem sie präsentiert wurden. Entscheidend kommt dazu, dass auch die Manipulation des Klangmaterials durch das Duo ebenso gefühlvoll wie provozierend war, wobei sie die digitale Synthese zur Organisation der Lo-Fi-Bandarbeiten und Außenaufnahmen nutzten und daraus ein Widerhall erweckendes Stück machten, das sowohl als Archivprojekt wie als Prozess der Erneuerung längst vergessener Bräuche und Glauben diente. Egal ob als CD oder mittels eines Installationswerks präsentiert, „Revisionland“ hat die Jury als einzigartig evokative Umsetzung digitaler Musik tief beeindruckt.

Wegen der Intimität und narrativen Verunsicherung, die sie erzeugt, ist auch ihre andere Einreichung „The Tale of Pip“ bemerkenswert. Diese entwickelt sich als eine Art Märchen, illustriert im CD-Begleitheft, und erzählt die exzentrische Geschichte von Pips Suche nach dem Baum der Glückseligkeit. Die zugehörigen Klanglandschaften kombinieren Abertausende von gefundenen Umweltklängen mit einer akustischen Instrumentation durch Harmonikas, Akkordeons und dergleichen, die digital bearbeitet wurden, um die Stimmung und Atmosphäre der Geschichte wiederzugeben. Diese körnigen Audio-Aretfakte verwischen sozusagen die analogen Komponenten digital, wobei aber das Geheimnisvolle daran erhalten bleibt.


Anerkennungen

Stephen Wittwer: „Streams“


Der schweizerische Gitarrist Stephan Wittwer ist seit langem eine – leider unterbewertete – Kraftgestalt am Schnittpunkt zwischen Avantgarde-Jazz, freier Improvisation und den Post-Hendrix’schen Gitarren-Freak-outs. Seine CD „Streams“ war ein fesselndes Beispiel für die Art und Weise, in der viele Musiker, die aus der Improvisation und dem Jazz kommen, jetzt digitale Bearbeitung und Modulation einsetzen, um für ihre Kunst neue Zusammenhänge zu schaffen. Wittwers vielschichtige und abstrakte Klang-Environments, seine Ein- und Verarbeitung der eigenen verstimmten oder rückgekoppelten Gitarre erwiesen sich als frisch, komplex und klischeefrei. In den meisten Fällen blieb die Linearität der zugrunde liegenden Improvisation erhalten und die gestische Information äußerst lebhaft.

Wittwer hat eine neue musikalische Verbindung geknüpft, die nicht so klingt wie das, was man von ihm erwartet, und die eine Menge von dem ausdrückt, woran er sich in den letzten Jahren gearbeitet hat. Er bietet uns zwar die Dichte und Dauer, die man von seinen härtesten Produktionen kennt, aber garniert sie mit einer Menge von Spurenelementen und eingebetteten Kristallen – Bezüge auf frühere Forschungen. Gespeist aus unterschiedlichen Quellen hat „Streams“ alle Qualitäten eines großen, vielfältigen, schimmernden Stroms.

Raz Mesinai (Badawi): „Soldier of Midian“

Das Ausgangsmaterial für Raz Mesinais „Soldier of Midian“ besteht in Aufnahmen, auf denen Mesinai traditionelle nahöstliche Instrumente wie Darabuka, Bendir und Zarb spielt, die zu wilden, ausdauernden Stücke verarbeitet werden, die einen an die rhythmischen Verzückung der tanzenden Derwische erinnern. Verglichen mit so vielen digital vermittelten ethno-exotischen Fusions klingt Mesinais nahöstlicher Kammer-Dub plus Mizrahi-Busbahnhof-Pop eher roh und blutig als zu lange im Ofen einer kulturell imperialistischen Festplatte gedünstet …

Im gegenwärtigen politischen Klima beschwört dieses vom israelisch-amerikanischen Künstler geschaffene gewalttätige, beeindruckende Gemisch diverser nahöstlicher Klangquellen eine bemerkenswert utopische Metapher herauf, weil seine klassisch-abendländische Fusion eine Zukunft suggeriert, in der jüdische und muslimische Kulturen im Wortsinne harmonisch miteinander leben. Mesinais Pseudonym „Badawi“ – arabisch für „Beduine“ – zeigt ja auch in diese Richtung.

Marina Rosenfeld: „Delusional Situation“

Mesinai ist mit der New-Yorker Komponistin und Klangkünstlerin Marina Rosenfeld verheiratet, deren Einreichung „Delusional Situation“ auch bei der heurigen Whitney Biennale in New York vertreten war. Ausgelegt für Play-back auf einem Mehrkanal-DVD-Audiosystem setzt das Stück das Multi-Speaker-System mit großem Erfolg ein. Die Elemente der Musik – viel davon entstammt Aufnahmen von Rosenfelds Sheer Frost Orchestra – waren unruhig und bewegten sich rund um das Klangfeld, um ein gleichsam mit Querschlägern gespicktes Audio-Drama zu entfalten.

Das Stück bezieht sich auf das Gedicht „Ich kenne dich“ von Paul Celan und verwendet Samples von Gitarren-Licks, die auf Vinyl abgemischt und anschließend mit ProTools wieder zusammengesetzt wurden. Rosenfeld sagt, dass ihr Stück – ähnlich wie das Celan-Gedicht, in dem es um Wirklichkeit und Illusion geht – zu erklären versucht, dass der Ort des Hörens auf dieser Welt niemals etwas Feststehendes ist und auch das Gehörte keineswegs klar kommuniziert wird. „Delusional Situation“ - keineswegs nur ein Stück über die Bedeutung des Hörens – hinterfragt auf kraftvolle Weise, wie Menschen die konstruierte Wirklichkeit des Klanges erleben.

Francisco Lopez: „Buildings [New York]“

„Buildings [New York]“ des spanischen Komponisten Francisco Lopez besteht aus reinen, unbearbeiteten O-Tönen, aufgenommen in den Kellern und Eingeweiden New-Yorker Wohnblocks und Wolkenkratzer, die die mysteriösen Klänge der verborgenen Verkabelung einer Stadt einfangen, ihrer unterirdischen Heizungssysteme, Rohrleitungen, Motoren und Generatoren. Zunächst erscheint die „Musik“ als ein undifferenziertes „Drone“-Werk, aber näheres Hinhören enthüllte mehrfache Ebenen von mikrokosmischem Klang, die sich im Grenzbereich des Hörbaren entfalten und das Stück zu einer höchst erfolgreichen Episode in Lopez’ Dauerprojekt der Präsentation dieser Welt als ihrem eigenen höchst leistungsfähigen Breitband-Klang- und Geräusch-Generator macht. Eine Tour-de-Force des genauen Hinhörens, wobei jeder Hörer sich der eigenen Freiheit stellen und somit selbst schöpferisch tätig sein muss.

Mika Taanila: Fysikaalinen Rengas

„Fysikaalinen Rengas“ („Ein physikalischer Ring“) des finnischen Künstlers Mika Taanila war die einzige Installationsarbeit, die es bis in die Anerkennungen geschafft hat. Die Einreichung bestand aus einem Video mit körnigen Sschwarz-Weiß-Bildern in einer dreiminütigen Schleife, das eine Konstruktion aus zahlreichen sich drehenden und überlagernden Rädern zeigte. Der Soundtrack wurde von Mikka Vainio, einem Mitglied des finnischen Minimalismus-Duos Pan Sonic beigesteuert. Das einfache und originelle, aber sehr eindringliche visuelle Element des Stücks ist von einer hypnotisierenden Faszination, die perfekt von der minimalistischen Pulse-Pattern-Partitur mitgetragen wird.

Carl Michael von Hausswolff: „A Lecture on Disturbances in Architecture“

Carl Michael von Hausswolffs „A Lecture on Disturbances in Architecture“ (Firework Ed. Records, Stockholm 2002) präsentiert sich in Form eines Vortrags über Frequenzen in Wohngebäuden. Die Aufnahme stellt einige haushaltsorientierte Probleme vor, wobei Hausswolff diese Situation nicht von einem theoretischen Standpunkt aus betrachtet, sondern von einem assoziativen. Der Komponist wünscht sich, dass das Stück Architekten dazu veranlasst, mehr Interesse für die Bedeutung unserer auditiven Umgebung aufzubringen. Diese einzigartige Sicht der Dinge unterstreicht die große Bandbreite der Einreichungen dieses Jahres, demonstriert aber gleichzeitig auch, wie schwer es seit jeher ist, Hausswolffs bemerkenswert interdisziplinäres Werk als Künstler, Herausgeber und Kurator in eine Schublade zu pressen.

Russell Haswell: „Live Salvage 1997 – 2000„

Auch die außerhalb eines Studios entstandenen Audio-Präsentationen von Russell Haswell verlangten unsere Beachtung. Hier gibt es keine Kompromisse. Bei dieser atemberaubenden CD-Produktion und heftigen Live-Action kann man nur sagen, bei Russell geht es zur Sache. Knallende Salven von Klang reflektieren seine Positionen im Audio-Bereich am Ende des letzten Jahrzehnts und werden auf „Live Salvage 1997 – 2000“ dokumentiert. Wie dieses Projekt überhaupt ausgelöst und zusammengesetzt wurde, unterstreicht seine Unmittelbarkeit und die nackte Willenskraft dahinter. Russell, der auch für Kooperationen mit Merzbow, Yasunao Tone und anderen bekannt ist, schafft hier eine höchst persönliche Klangwelt, die sich von jenen seiner Zeitgenossen abhebt.

Iancu Dumitrescu: Oiseaux Célestes II

Ana-Maria Avram: Traces Sillons Sillages II


Für die Mehrheit der Juroren war die Entdeckung von Iancu Dumitrescu und Ana-Maria Avram ein unvergleichliches Ereignis. Ihre spektrale Breite von Klangfarben und Timbres erschien fesselnd, strukturreich und auf paradoxe Weise roh, ja, für ungewohnte Hörer sogar irritierend. Beide Werke negieren fast alles, was in der modernen Musik für Ablenkung, Banalisierung und den exzessiven Verlust des Zwecks symptomatisch ist. Ihre gemeinsame Arbeit ist wahrlich „ent-fremdet“. Dumitrescus und Avrams Werk bietet eine ungewöhnliche Sorte von unverschultem und explodierendem Klang – keine neue Schlinge im Knoten der zeitgenössischen Musik, vielmehr ein Abwickeln ihres Fluchs. Und das ist jedenfalls nicht (nur) eine Frage ihrer Philosophie und künstlerischen Motivation. Die psychologisch-aktustischen Wirklichkeiten, die sie porträtieren, sind fest in einer klaren Konzeption verwurzelt und erfrischend in ihrer Einfachheit und emotionalen Eindringlichkeit.


Goodiepal: Narc Beaon

Bis wir dazu kamen, uns auch Goodiepal anzuhören, waren unsere Köpfe schon überflutet von den wunderbaren und facettenreichen Produkten sämtlicher internationaler elektronischer Bereiche. Glaubten wir jedenfalls. Hier aber fand sich etwas recht Musikalisches, das nicht in die Bereiche der typischen experimentellen Laptop-Klänge oder IDM fiel, sondern einen ganz eigentümlichen Charakter aufwies. Diese Aufnahmen sprechen vom Leben, und zwar nicht als einfachem Scherz. Unglücklicherweise weiß man nicht, wovon Goodiepal spricht, wenn man nicht mit ihm befreundet ist, wohl aber kann man es fühlen. Es gibt so viele Leute dort draußen, die langweilige Arbeiten produzieren, und dennoch ist das Publikum noch immer „geschockt“ oder „erstaunt“ von dem, was es zu hören bekommt. Und wenn dann einer daherkommt und still und heimlich ein „wirklich“ seltsames Werk produziert, dann wird es meistens übersehen. „Seine Musik ist wie die Erklärung seiner Musik: ein wenig kurz, ein wenig lose, voller kleiner Klänge, witzig (auf eine Weise, wie sie nur jemand sein kann, der nicht witzig zu sein braucht) und kleine Bezüge auf Dinge, die nur ihm bekannt sind. Ein paar Augenblicke lang weiß ich genau, wovon er spricht – und dann ist es auch schon vorbei.“ (Alejandra Salinas auf der Lucky-Kitchen-Website).


Phoenicia: „Brownout“

Es gibt wenige Gruppen, die die motivischen Gemeinplätze urbaner Straßenmusik und künstlerische Raffinesse miteinander verbinden, aber diese in Miami beheimatete Gruppe schafft das mit einer Einzigartigkeit und Bravur, die sie zu Recht innerhalb der amerikanischen IDM-Gemeinschaft etabliert und kanonisiert hat. Die sich vom Miami Bass-inspirirten Overdrive hin zum freien elektronischen Improv bewegenden Label-Eigner (Schematic) und Astralwerk-Veteranen haben einen beeindruckenden Katalog von Klängen zusammengetragen, dessen immer im Fluss befindliche Experimente mit dem Subtilen und dem Offensichtlichen hinreichend klarstellen, dass sie auch in zukünftigen Jahren einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf ähnlich gesinnte Künstler und Juries wie jene des Prix Ars Electronica ausüben werden.


Anticon: „we aint fessin“

Was macht diese bizarre Crew eklektischer Bedroom-Beat-Zauberer auf dieser Liste der Prix-Ars-Electronica-Hoffnungsträger, wenn doch laut der alten Garde des Hip-Hop „...dieser Scheiß nicht einmal Hip-Hop ist“ – oder doch?

Nun, die Juroren waren einig in der Ansicht, dass diese Assemblage von Lo-Fi-Texturen, Worten und Pulsen in ein gänzlich anderes Universum passt, das sich erfrischend abhebt vom üblichen eingereichten musikalischen Einheitsbrei. Der Name „Anticon“ (Anti-Konformität, Anti-Ikone …) steht für eine loses Kollektiv von DJs, MCs und Tonverdrehern, das alle jene respektlosen Widersprüche einschließt, die diese kulturelle Bewegung ebenso aufrechterhalten wie komplizieren und verdrehen. Zunächst über einige der weniger glamorösen Lokalitäten Nordamerikas verteilt, hat sich diese zweifelhafte Kohorte 1999 in der konfusen Exaltiertheit der Seitenstraßen des kalifornischen Oakland zusammengefunden. Seit damals haben Sole, Dose, Alias, JEL, Why?, Odd Nosdom, DJ Mayonnaise, the pedestrian, passage, Sage Francis und ein Haufen weiterer signifikanter Compagnons dutzende von berüchtigten Alben und Online-Tracks herausgebracht. Ihre düsteren analogen Attacken auf eine oft missbrauchte digitale Domäne muss man einfach erlebt haben. (Die Jury)


Pxp

Der plötzliche Schock von pxp hat allen Versammelten die Ohren aufgerissen. Hier war eine hervorstechende Masse digitalisierter Störungen, die unser direktes Denken mit destabilisierter Mathematik gefüttert hat. Man stelle sich ein Gleichungssystem vor, das an Stelle von Ordnung nur Anarchie schafft – und selbst das ist nur ein blasser Abklatsch dessen, was die Hörerfahrung von pxp mit sich bringt. In dem Maße, in dem die nie nachlassende Punktbezogenheit voranschritt, wurde ihre Abweichung von pxp’s Farmers-Manual-ähnlicher Ausrichtung immer bösartiger. Spam-Daten-Missbildungen. Direkte Waveform-Bitsreams. Fesselung. Lösung. Beunruhigend.


 
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