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Prix Ars Electronica
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Prix-Jury

 
 
Veranstalter
ORF Oberösterreich

Interaktion - neue Wege, neue Welten
Christiane Paul

Selbst wenn man die frühen künstlerischen Experimente, die nun vor bald einem Jahrhundert stattgefunden haben, außer Acht lässt, blickt die interaktive Kunst nun schon auf eine Jahrzehnte lange Geschichte zurück. In dem Maße, in dem Kunstinstitutionen auf der ganzen Welt dieser Form künstlerischer Praxis mehr Aufmerksamkeit widmen, findet sie auch in weiteren Kreisen Anerkennung. Deswegen ist es auch nicht überraschend, dass die Anzahl der Einreichungen in der Kategorie Interaktive Kunst des Prix Ars Electronica ständig wächst und eine immer größere Vielfalt aufweist. Von Natur aus ist die interaktive Kunst ein hybrider Bereich, und so wiesen auch die heurigen Einreichungen eine große Bandbreite auf — von interaktiven Installationen und immersiven Environments mit und ohne Netzwerkkomponenten über Bildschirm-Arbeiten, Musik- und Performance-Projekten sowie Interface-Mechanismen, die für unterschiedlichste Zwecke adaptiert werden können, bis hin zu interaktiven Systemen zur Darstellung von Inhalten im musealen oder öffentlichen Bereich.

Der Begriff "interaktiv" ist dabei inzwischen schon beinahe bedeutungslos geworden, da er auf geradezu inflationäre Weise für Austausch auf den unterschiedlichste Ebenen verwendet wird. Die Interaktionsmodelle, die diesen Austauschmechanismen zugrunde liegen, unterscheiden sich stark hinsichtlich ihres konzeptuellen und technischen Entwicklungsstandes, und ein Wettbewerb wie der Prix Ars Electronica bietet einen idealen Rahmen, um die Vielfalt der Ansätze auf diesem Gebiet näher zu betrachten. Ein erheblicher Teil der interaktiven Kunst ließe sich wohl auch als "reaktive" oder "responsive Kunst" bezeichnen, nämlich all jene Arbeiten, bei denen ein Input – wie etwa die Bewegungen und Handlungen des Publikums, sich ändernde Beleuchtungsverhältnisse, Temperaturen oder Klänge – eine Reaktion der Umgebung auslöst. Bei vielen anderen Werken wiederum basiert die Interaktion darauf, dass dem Publikum die Gelegenheit geboten wird, "Datenbanken" mit vorkonfiguriertem Material in scheinbar unendlich vielen Kombinationsmöglichkeiten zu erforschen. Ein weiteres Modell ist die "Systeminteraktion", bei der Elemente von Software-Systemen bei unterschiedlicher Publikumsbeteiligung miteinander interagieren. Die Schaffung von technischen Werkzeugen und "Instrumenten", die vom Publikum benützt und gespielt werden, ist ein weiteres, stark wachsendes Anwendungsfeld. Auch das "Re-Engineering" existierender kommerzieller Systeme (wie etwa Game-Engines) und deren In- oder Subversion hat zugenommen, auch wenn man dieses Feld noch immer als zu wenig erforscht bezeichnen kann. Betrachtet man das Potenzial des digitalen Mediums, so gibt es noch immer relativ wenige Werke, die offene Systeme schaffen, indem sie den Benutzern erlauben, das System selbst auf ausgefeilte Weise neu zu konfigurieren oder umzuschreiben oder sich auf anspruchsvolle Weise auf Kommunikationsprozesse in Netzwerken einzulassen.

Da akademische Institutionen ihr Angebot an Programmen zu den "Neuen Medien" ständig ausbauen, gibt es auch immer mehr Praktiker, die mit diesen Medien arbeiten und von denen einiges zu erwarten ist. Dazu kommt, dass Künstler nach wie vor die seit über einem Jahrzehnt bewährten Methoden der Interaktion anwenden, wobei sie sie aber nicht unbedingt weiterentwickeln. Das heißt nicht, dass neuartige Formen der Kommunikation mit dem Anwender nicht auch mit bestehenden Technologien und herkömmlicher Software möglich wären, aber wir mussten doch feststellen, dass es eine ganze Menge Redundanz in den Ansätzen gibt. Bei der Durchsicht von über 350 Einreichungen wurde uns auch deutlich vor Augen geführt, dass vielen mit Sensor- oder Motion-Tracking-Techniken arbeitenden Installationen leider noch einiges an Feinschliff und Sensibilität fehlt. Ein weiterer problematischer Aspekt bei zahlreichen Einreichungen war, dass die verwendete Technologie ganz offensichtlich nicht hinlänglich ausgereizt wurde – so gab es etwa einige CAVE-Anwendungen, die genauso gut als Projektion funktioniert hätten. Die Immersion wurde dabei eher als "netter Effekt" denn als notwendige Voraussetzung für die Erforschung neuer Interaktionsparadigmen behandelt.

Kriterien für die Beurteilung eines so hybriden Feldes wie jenes der interaktiven Kunst festzulegen, ist zweifellos eine große Herausforderung, ja, vielleicht ist es tatsächlich unmöglich. Den ganzen Auswahlprozess hindurch diskutierten wir immer wieder, welchen Standards eine Arbeit entsprechen müsse, um als "herausragend" (auch wenn das ein bisschen prätentiös klingt) eingestuft werden zu können – wobei wir stets die oben erläuterten Interaktionsmodelle und Probleme im Auge behielten. Eines unserer Hauptkriterien war: ein starkes künstlerisches Konzept, das auf Technologien basiert und mit Technologien umgesetzt wird, die es in der angemessensten, bestmöglichen und ausgefeiltesten Weise vermitteln. Gleichzeitig aber haben wir auch neue Formen von Interfaces anerkannt, die die übliche Definition von Interaktion hinterfragen, neue das Konzept von Funktionalität erweitern und / oder den sozialen Einfluss der Technologie aufzeigen. Wir waren der Ansicht, dass Interaktion nicht als bloßer Effekt erforscht werden sollte, sondern als Intervention, die den Aktionsradius des Publikums erweitert — indem die Mitwirkenden Ereignisse auf relevante Weise auslösen, sie verändern oder beeinflussen können – oder die den ästhetischen und kulturellen Einfluss der Technologie widerspiegelt. Daneben ist natürlich auch die Originalität eines künstlerischen Konzepts ein wichtiges Kriterium, wozu keineswegs nur technische Zauberkünste notwendig sind.

Bei Hunderten von Einreichungen gibt es nie genug Geldpreise und Anerkennungen, um alles auszuzeichnen, was einem gefällt. Einige vielversprechende Projekte mussten unberücksichtigt bleiben, weil sie sich noch im Entwicklungsstadium befanden, der Prix Ars Electronica aber verlangt, dass sie zum Zeitpunkt der Einreichung schon vollständig umgesetzt sind. Bei der Auswahl der zwölf Anerkennungen haben wir uns bemüht, so umfassend wie möglich vorzugehen, das heißt, alle oben angeführten Kategorien zu berücksichtigen. Unter den Anerkennungen finden sich drei Musikprojekte und "Instrumente" (Block Jam, Hyperscratch und Instant City), die auf sehr unterschiedliche Weise die Möglichkeiten einer nicht-linearen Komposition und einer Ausweitung der dynamischen Struktur von Musik in der User-Interaktion untersuchen. Wir haben auch neue Formen von Interfaces ausgezeichnet, wie etwa Aegis Hyposurface und Justin Manors Cinéma Fabriqué (eine vom Künstler geschaffene DJing-Software). POL von Marcel-li Antúnez Roca stellt ein originelles Modell für eine Theater-Performance vor, Agnes Meyer-Brandis' Coral Reef (mit den Erweiterungen Earth Core Laboratory and Elf Scan) verleiht einer mit Low-Tech-Mitteln arbeitenden Augmented-Reality-Installation einen Fantasy-Touch, Iori Nakais Streetscape hingegen kondensiert eine ortsspezifische Erfahrung (die Klänge einer Stadt) in eine minimalistische, navigierbare Landkarte.

Zwei der ausgewählten Werke gehen vom Konzept einer mediatisierten Erinnerung aus: Während Scott Snibbes Deep Walls die Bewegungen der Schatten der Besucher vorübergehend bewahrt, funktioniert Last (von Ross Cooper & Jussi Angeslevä) als eine Art Uhr, die mit Live-Zuspielungen arbeitet und eine Aufzeichnung ihrer eigenen Geschichte darstellt. Bei Access von Marie Sester wird das Publikum zum Mittelpunkt und Subjekt der künstlerischen Arbeit – die es den Benutzern erlaubt, aus der Ferne Menschen im öffentlichen Raum mittels robotergesteuertem Scheinwerfer und akustischem Beamer zu verfolgen. Und George Legradys Pockets Full of Memories ist eine Kulturdatenbank samt selbstorganisiertender Landkarte, die die persönliche Habe des Publikums abbildet.
Es war keineswegs einfach, aus den in der letzten Entscheidungsrunde ausgewählten Arbeiten die Gewinner der drei Geldpreise zu bestimmen, aber nach ausgedehnten Diskussionen haben wir beschlossen, folgenden drei Projekten die Goldene Nica bzw. Auszeichnungen zu verleihen:

Blast Theory, Can you see me now? - Goldene Nica
Das mobile Spiel Can you see me now? von Blast Theory mag zwar nur die ganz bescheidenen Anfänge dessen einfangen, was uns unsere vernetzte Zukunft bringen kann, aber es weist auf eine sehr originelle Weise in eine neue Ära der Interaktion, wobei es grundlegende Fragen nach Körperlichkeit und Verkörperung aufwirft. Das Spiel, das gleichzeitig in der physischen und in der virtuellen Welt stattfindet, ähnelt einer Jagd, bei der die Online-Spieler ihren Avatar anhand eines Plans durch die Straßen der Stadt dirigieren, um den "Läufern" zu entgehen, die ihm in den Straßen der physischen Stadt nachjagen. Die Läufer – ausgerüstet mit einem Handheld-Computer samt GPS-Tracker, der ihre Position an die Online-Spieler via Wireless Network übermittelt – versuchen die Online-Spieler "einzufangen", deren Position ebenfalls per Netzwerk auf die Computer der Läufer übertragen wird. Die virtuellen Spieler können Nachrichten austauschen und bekommen Live-Ton von den Walkie-Talkies der Läufer zugespielt. Das Spiel ist zu Ende, wenn die Läufer ihre virtuellen Gegner "sichten" und von diesen ein Foto schießen (das klarerweise nur den leeren Raum einfängt). Auch wenn die Technologie etwas flüssiger und nahtloser eingebaut sein könnte – das Militär verwendet eine ausgereiftere Ausrüstung —, so erreicht das Spiel doch einen bemerkenswerten Grad an Verschmelzung zwischen virtuellem und realem Raum.

Im Vergleich zu Vorgängern wie Botfighters – das mittels Handies SMS-Nachrichten ein Shooter-Game entwickelte, das in der realen und in der virtuellen Welt gespielt wurde – gelingt es Can you see me now? vor allem, die Frage nach der "Präsenz" auf wesentlich substanziellere und erfinderischere Weise zu untersuchen. Künstlerische Experimente mit der Telepräsenz haben sich vor allem auf die Verschmelzung virtueller Abbilder von remoten Orten mit neuen, ebenfalls virtuellen "Bild-Orten" beschäftigt oder mit Remote-Interventionen im physischen Raum vermittels Robotern.

Das Projekt von Blast Theory ist im Grenzbereich zwischen Telepräsenz und -absenz angesiedelt: Durch die Vernetzung schafft die Absenz eine eigenständige Form von Präsenz, die auf absurde Weise in den "Sichtungs-Fotos" dokumentiert wird. Die Fotografie als etablierte Methode technologischer Darstellung wird angesichts einer Präsenz obsolet, die nur aus virtuellen Bewegungen besteht und keine Spuren hinterlässt. Wie der Titel schon besagt, hinterfragt das Projekt den Prozess des Sehens an sich, indem es eine Form der Wahrnehmung vorschlägt, die von der Körperlichkeit unabhängig ist. In einer Zeit, in der die GPS-Technologie und "vernetzte Zellen" überwiegend mit destruktivem oder negativem Potenzial verknüpft sind (Überwachung, Kriegsmaschinerie, Terrorismus), unterstreicht Blast Theory die kreativen Möglichkeiten des Mensch-Technologie-Netwerks.

Maywa Denki, Tsukuba Series
Mit ihrer Tsukuba Series ist die "Kunsteinheit" Maywa Denki unter der Leitung ihres "Präsidenten" Nobumichi Tosa einen Schritt weiter in den Experimenten mit elektromechanischen Musikinstrumenten gegangen. Tsukuba Series besteht aus rund zwei Dutzend Instrumenten oder, besser gesagt, musikalischen Gerätschaften, die mechanisch oder computergesteuert über Motoren und Elektromagneten gespielt werden. Die höchst originellen Instrumente sind das Ergebnis einer einzigartigen Kombination aus Erfindungsgeist und handwerklichem Können und umfassen unter anderem Geräte wie "elektrische Schlägel" als Grundeinheit, die in zahlreichen Konfigurationen eingesetzt werden, eine ferngesteuerte Pedal-Orgel (samt eingebautem 100-Watt-Controller), die sechs Gitarren gleichzeitig spielt, ein saxophonförmiges Yankee-Horn aus Motorradhupen, das sechs Tonskalen spielen kann und bei dem jeder Ton von einem entsprechenden Lichtsignal begleitet wird, oder aber eine elektrische Singende Säge, die wie ein Bogen geformt ist und gespielt wird. Die Tsukuba Series steht gleichzeitig in der Tradition von George Antheils Ballet méchanique (1924) – das von traditionellen Instrumenten in Kombination mit 16 Pianolas, elektrischen Klingeln, einer Sirene und Flugzeugpropellern unterschiedlicher Größe ausgeführt wurde – und in jener des in Seattle beheimateten Klangbildhauers und Komponisten Trimpin, der Computer mit traditionellen Instrumenten verbunden hat. Maywa Denki haben das Konzept der elektromechanischen Instrumente hin zu wie Kleidungsstücken tragbaren Konfigurationen und Live-Auftritten ausgebaut und zeigen ein bemerkenswertes Talent beim Spielen dieser Instrumente, wobei sie sowohl im Pop als auch in der Avantgarde zu Hause sind. Sie stehen an der Spitze einer Bewegung, die Live-Performer mit Robotern oder robotischen Erweiterungen als Ersatz für die "vor-formatierten" Lautsprechersysteme ausstattet. Maywa Denki hat etwas, was man als "Volkskunst" im weitesten Sinne bezeichnen könnte, erfolgreich in eine Popkultur-Bewegung integriert, die die kreative Arbeit als "Produkt" behandelt und so ziemlich alles vom Video bis zu un-sinniger Maschinerie und Spielzeug umfasst.

Margarete Jahrmann / Max Moswitzer, nybble-engine-toolZ
nybble-engine-toolZ von Margarete Jahrmann und Max Moswitzer, das sich selbst als "radikalen Meta-Kunst-System-Schießstand" und "kollaboratives Werkzeug für Statements" definiert, erforscht Formen von Interaktion, die sich grundlegend von jenen der beiden anderen preisgekrönten Werke unterscheiden. Das Projekt mag zwar eher ein bewusst abstruses Experiment als eine transparente Implementation eines Werkzeugs sein — seine selbstironische Haltung wird keineswegs versteckt —, aber es erforscht wichtige Aspekte von vernetzten offenen Systemen und Echtzeit-Programmierwerkzeugen. nybble-engine-toolZ - der Name bezieht sich auf "Nybble", die ein halbes Byte (also vier Bit) große Einheit, die die Basis für digitale Umwandlung und Software-Logik bildet - ist ein Peer-to-Peer-Servernetzwerk und eine Abwandlung der Unreal-Game-Engine, die das Spiel selbstreflektierend aus den Netzwerkprozessen generiert. Die Spieler können sich von verschiedenen Orten – auch aus der Installation, einem 180-Grad-Schirm – in die Engine einloggen und durch das Environment navigieren, andere Spieler und Bots treffen (in diesem Fall Darstellungen von Serverprozessen) und mit ihnen kommunizieren. In dieses Environment abgegebene Schüsse lösen Anti-Kriegs-Mails oder Friedensaufrufe an Regierungsserver aus; beim Drücken von Knöpfen auf dem Gamepad werden Ping-Befehle an Regierungsserver geschickt. Die vom Netzwerktraffic selbst produzierten Logfiles werden zusammen mit Daten auf der Festplatte (Text, Bilder, Klänge) zum Rohmaterial für 3D-"Filme", aus denen letztlich die Spielumgebung konstruiert ist. So besteht das Environment aus den Netzwerkaktivitäten in Echtzeit.

Konzeptuell betrachtet, wirft nybble-engine-toolZ wichtige Fragen zu generativer Kunst und zu Möglichkeiten von Software und zu Engines als Werkzeugen auf. Spiel-Engines gehören zweifellos zu den wichtigsten (und viel zu wenig erforschten) Generatoren von Narration im weitesten Sinn. Das Projekt von Jahrmann / Moswitzer erschließt die Engine – sozusagen den Motor – als Werkzeug und als algorithmischen Rahmen für den Umgang mit der "Mechanik" des Spielens und lässt sie gleichzeitig den Prozess des Spielens als solchen reflektieren. nybble-engine-toolZ zeigt, dass das Spielen von Games auch darin bestehen kann, Code zu editieren und genau jenes Tool umzuschreiben, das das Spiel innerhalb eines offenen kollaborativen Systems erst hervorbringt.

 
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