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Prix Ars Electronica
Archive

Prix-Jury

 
 
Veranstalter
ORF Oberösterreich

Communities und Social Software
Steve Rogers


Es war faszinierend, Mitglied einer derart breit gefächerten Jury zu sein, wie sie die Kategorie Net Vision / Net Excellence des diesjährigen Prix Ars Electronica zu bieten hatte – mit renommierten digitalen Künstlern, Forschern und hoch angesehenen Profis aus der kommerziellen Welt. Schon das Niveau der Diskussion in der Jury machte klar, dass unser Beruf reift und wächst und den Ballast der Jahrtausendwende abgeworfen hat. Wir hatten alle Geschichten von Kämpfen zu erzählen und ein paar Narben zu vergleichen, aber wie unser Fachbereich haben auch wir uns weiterentwickelt. Und dies spiegelte sich auch in der Art und Weise wieder, in der wir eine unserer schwierigsten Aufgaben angingen – die Unterscheidung und Abgrenzung der beiden Kategorien "Net Vision" und "Net Excellence".

Wenn ein Projekt für die Nica der Kategorie "Net Excellence" in Frage kommen sollte, so musste es – nach den von uns festgelegten Kriterien – in jedem Aspekt herausragend sein. Natürlich waren visuelle und technische Brillanz eine Voraussetzung, aber auch das dahinterstehende Konzept musste konsequent durchgehalten sein, und das Werk sollte das absolut beste Beispiel seiner Art sein. Auch wurde festgelegt, dass ein Werk nicht unbedingt aus diesem Jahr stammen mußte, wenn es sich nur offensichtlich weiterentwickelt und seine Bedeutung für die entsprechende Usergruppe ausgebaut hat.

"Net Vision" hingegen ist eine ganz andere Sache – hier ging es nicht notwendigerweise um perfekte Umsetzung, diese Kategorie beschäftigt sich damit, wie wir das Netz erfahren, um unser Denken voranzubringen. In den allerbesten Fällen – etwa beim diesjährigen Nica-Preisträger und den beiden Auszeichnungen – bedeutete das, unsere Denkweise zu verändern, und zwar nicht nur innerhalb des Netzwerks, sondern als Herausforderung auch an unser Denken und unsere Perspektiven außerhalb des Netzes.

Ein erheblicher Teil unserer Diskussionen drehte sich um Fragen der Angemessenheit des Mediums, etwa darum, ob es ausreicht, das Netz als Publikationsmedium zu verwenden, oder ob für eine Anerkennung eine weitergehende Einbindung der anderen intrinsischen Qualitäten des Netzes erforderlich ist. Natürlich ist auch die jedem dargebotene Möglichkeit, im Netz etwas zu publizieren, eine der netztypischen Eigenschaften. Die Veröffentlichung im Netz erlaubt es dem Künstler, in einen direkten Dialog einzutreten und anderen die Möglichkeit zu bieten, zum Werk etwas beizutragen, es zu adaptieren und zu erweitern, oder alternativ jedem eine einzigartige und vergängliche Erfahrung zur Verfügung zu stellen. Wir haben ausgiebig über User-generierte Inhalte und über das generelle Wachstum von Social Software und Communities gesprochen.
Communities und Social Software waren tatsächlich eines unserer diesjährigen Hauptthemen, und die Möglichkeit, das Netz sozusagen zur Galvanisierung eines gesellschaftlichen Engagements einzusetzen, wird von beiden Goldenen Nicas dieses Jahr reflektiert. Echte Social Software erlaubt den Schöpfern, eine gleichberechtigte Beziehung mit ihren Beiträgern einzugehen, sodass die Grenzen zwischen diesen beiden Gruppen immer mehr verblassen. Dies verleiht den entstehenden Gemeinschaften sowohl Lebendigkeit wie Langlebigkeit und erlaubt ihnen auch, eine Relevanz in der physischen Welt zu erlangen.

Letztlich haben wir auch die wachsende Bedeutung berücksichtigt, die die Open-Source-Bewegung für unser aller Leben erlangt. Viele dieses Jahr eingereichte Arbeiten beschäftigen sich mit der Demokratisierung des Entwicklungsprozesses und der Neuformulierung der Frage nach geistigem Eigentum.

Goldene Nica / Net Vision
Carlos J. Gomez / Yury Gitman
: Node Runner
Unser Preisträger der Goldenen Nica in "Net Vision" vereint viele der oben angesprochenen Gedankenfäden. Dank einer starken Community, die mithilft, die Art unserer Kommunikation mit dem Netz zu verändern, verschmilzt dieses Projekt den physischen Raum mit dem Netz. Die Site selbst dokumentiert ein Ereignis, das in New York stattgefunden hat, in einem Stil, der durchaus TV-Game-Shows parodiert und Erinnerungen an frühe Computerspiele wachruft. Der Hauptgrund für die Zuerkennung der Goldenen Nica an dieses Projekt ist jedoch, dass es eine Bewegung zur Re-Demokratisierung der Internet darstellt, und dies auf eine sehr eingängliche Weise. Mit Node Runner hat das Team um Carlos J. Gomez und Yury Gitman einen Arbeits- und Interaktionsweg aufgezeigt, der erst durch die stark anwachsende Verbreitung von WiFi-Networks in Städten wie New York möglich wird.

Auszeichnung / Net Vision
David Crawford
: Stop Motion Studies
Stop Motion Studies hat uns in seinen Bann geschlagen. Dieses Projekt verwendet die Leistungsfähigkeit des Netzwerks, um den Anwendern zu ermöglichen, wunderbare Gegenüberstellungen von Menschen in U-Bahnen zu schaffen, die uns vor Augen führen, wie viel wir alle bei unseren alltäglichen Handlungen von unserem Inneren zum Ausdruck bringen. Crawford verwandelt auch die Bandbreiten-Beschränkungen in einen Vorzug: Er verwendet eine gewisse Anzahl von geloopten Standbildern, um einen Augenblick wiederzugeben, anstatt einen Video-Stream zu versuchen. So wird die Essenz eines jeden Ausdrucks eingefangen und dargestellt. Als User kann man entweder fast hypnotisch durch die U-Bahnen der Welt browsen oder jeweils vier Aufnahmen kombinieren, um damit eine eigenen Geschichte mit grenzenlosen Variationen zu erstellen.

Auszeichnung / Net Vision
Golan Levin:
The Secret Lives of Numbers
In The Secret Lives of Numbers lädt uns Levin Golan ein, die Frage nach dem Primat von Zahl und Wort neu zu untersuchen. In fast allen Aspekten des Lebens verwenden wir Wörter, um Dinge zu beschreiben, zu lokalisieren und zu klassifizieren. Hier aber betrachten wir die Welt durch die Sprache der Zahlen, was nur durch die enorme Menge von Daten im Netz möglich wird. Früher war der Einsatz von Zahlen auf ganz bestimmte Bereiche begrenzt – Postleitzahlen, Telephonnummern, geografische Koordinaten –, während Worte die Felder oder Bereiche des Wissens definierten und so erlaubten, diese gemeinsam zu verwenden. Hier sehen wir, wie unsere Welt aussieht, wenn wir die Dinge entlang dieser anderen Achse ansehen. Wie die Information präsentiert wird, ist wirklich hervorragend und bietet die Möglichkeit, enorme Datenfelder fokussiert zu betrachten, um die Signifikanz einzelner ganzer Zahlen zu erfassen, und das auf eine Weise, die für jedermann zugänglich und faszinierend ist.

Goldene Nica / Net Excellence
Sulake Labs:
Habbo Hotel
Es gibt wenige Projekte, die ihre Relevanz auf solche Weise aufrecht erhalten haben wie Habbo Hotel. Es ist zu einem derart bestimmenden Teil des Lebens seiner Mitglieder geworden, dass die Habbo-Community langsam mit der wirklichen Gemeinschaft zu verwachsen und verschmelzen beginnt. Mehr als irgend ein anderes Projekt hat uns Habbo Hotel vor Augen geführt, warum es inzwischen wichtig ist, Projekte unter einer längerfristigen Perspektive zu betrachten. Technisch wie visuell ist Habbo Hotel weiterhin herausragend und wächst als ein Environment weiter, das für Kinder ebenso sicher wie erlebnisreich und cool ist.
Vor allem das ständige Wachstum und die Weiterentwicklung ist Grund für die diesjährige Auszeichnung, und hier sind wieder zwei Aspekte besonders relevant: Die Einführung des "Yellow Bus" für die Community, der dem System der Gelben Busse nachempfunden ist, die vor den Schulen parken und Kindern erlauben, bei Beratern Unterstützung in Sachen Drogen oder Sex zu holen. Bei Habbo Hotel parkt ein gelber Bus mit einem Team von echten Beratern vor dem Hotel, und schnell bildet sich eine ordentliche Warteschlange von Kindern, die von dem Angebot, in einer sicheren, anonymen Umgebung Rat zu holen, Gebrauch machen. Außerdem wollten wir damit anerkennen, dass das Projekt in der Lage ist, sich an neue Umgebungen und Kulturen anzupassen: Dieses Jahr ist es z. B. in Japan mit anhaltendem Erfolg eingeführt worden.

Auszeichnung / Net Excellence
James Tindall:
Boards of Canada
Wunderbar, hier gibt es ein Irgendwo, das man durchwandern und in dem man sich verlaufen kann - oder wo man sich auch nur zurücklehnen und betrachten kann. Die Arbeit von James Tindall kombiniert ein großartiges 3D-Environment mit der Musik von Boards of Canada. Dank der speziellen Navigation durch das Environment kann jeder mit der Musik interagieren, was bedeutet, dass jede Reise eines jeden Besuchers einzigartig ist. Besonders erfrischend ist, dass zwei doch prominente Musikkünstler es dem Publikum anheimstellen, was und wie es sie zu hören bekommt, und nicht die Hörerfahrung selbst steuert. Hier funktioniert der Einsatz des Netzwerks als Publikationsumgebung hervorragend und bietet den Künstlern die Möglichkeit, auf einen Schlag eine unendliche Anzahl von Darbietungen zu veröffentlichen.

Auszeichnung / Net Excellence
Lia:
Re-move.org
Viele Künstler haben die Welt von Shockwave erforscht, um aufregende und berauschende Bilder zu schaffen. Lia hat uns mit re-move die fesselndste und professionellste davon geschenkt. Jedes der in re-move präsentierten zehn Werke wäre schon allein bemerkenswert, aber Kombination dieses Gesamtwerks ist wahrhaft beeindruckend. Was dieses Gesamtwerk aber vor allem auszeichnet, ist, dass uns Lia nicht nur die Werkzeuge bietet, mit denen man selbst faszinierende Arbeiten erstellen kann, sondern auch ihre Vision hinter den Arbeiten zeigt und ihre Erfahrungen in einem Portfolio präsentiert, das jeden Teil der Site begleitet. Dies ist ohne Zweifel das allerbeste Beispiel dieses künstlerischen Untersuchungsbereiches.

Bei der Vergabe von Anerkennungen haben wir beschlossen, nicht zwischen "Net Excellence" und "Net Vision" zu unterscheiden. Wir waren vom hohen Standard aller Werke beeindruckt, aber die folgenden verdienen besondere Anerkennung:

Christophe Bruno: The Google Adwords Happening
Christophe Bruno hat die von der Suchmaschine Google bereitgestellten kommerziell nutzbaren Schlüsselbegriffe verwendet, um ein Poesie-Event zu schaffen. Auch wenn das Projekt leider sehr kurzlebig war, weil Google es schnell abgestellt hat, war es äußerst inspiriert – immerhin brachte es durch Zufälligkeit generierte Poesie an mindestens 12.000 Leute …

ubermorgen: Injunction Generator
Injunction Generator zeigt die Internationalität des Netzwerks auf und damit auch die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn eine Nation versucht, es zu regulieren. Das Projekt erlaubt jedermann, eine Einstweilige Verfügung zu erzeugen, die genauso viel oder wenig rechtliche Wirksamkeit hat wie eine solche von einem ausländischen Gericht. Beeindruckend ist vor allem die Einfachheit und die extrem überzeugende Form des Ergebnisses.

LAN: SuPerVillainizer – Conspiracy Client
Dieses Projekt zeigt, welche Schwierigkeiten beim Versuch auftreten, den E-Mail-Verkehr analog zu einer ständigen Überwachung aller Telephongespräche zu überwachen und zu steuern. SuPerVillainizer führt "Nebengeräusche" in das System ein, indem es Software-Agents erlaubt, Dialoge und Verschwörungen zwischen fiktiven Charakteren zu generieren. Auch ermöglicht es, die Verschwörungen weiter zu beobachten, was häufig zu äußerst komischen Ergebnissen führt.

Agathe Jacquillat / Tomi Vollauschek: Bzzzpeek.com
Agathe Jacquillats und Tomi Vollauscheks Projekt ist sowohl faszinierend als auch unterhaltend - und nebenbei auch noch informativ. Es setzt die Internationalität des Internet ein und macht sich die Tatsache zu Nutze, dass User auf sehr einfache Weise selbst generierten Inhalt ins Netz stellen können und die Ubiquität von Klängen. Es vergleicht auf charmante und einladende Weise die in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlichen Kindergeräusche für eine Anzahl von Dingen des Alltags.

Amit Pitaru / James Paterson: Insertsilence
Diese Arbeit produziert dank einer Echtzeit-Technik eine wunderbar fließende Animation. Der Ansatz erlaubt es den Künstlern, das visuelle Medium ähnlich zu "spielen", wie ein Musiker eben Musik spielt. Das Ergebnis: Eine fesselnde Kombination aus beidem - und noch dazu gleichzeitig erzeugt.

Axel Heide, onesandzeros, Philip Pocock, Gregor Stehle: Unmovie
Thorsten Klöpfer bietet sowohl einen Kontext als auch ein Motiv, sich mit Poesie zu beschäftigen. Die User betreten sozusagen einen Fluss aus Gedichten, die teilweise von den Mitwirkenden, teilweise von Bots erzeugt werden, die ständig den Raum bewohnen. Das Ergebnis ist großartig – es nimmt das Konzept von Chat und Community als Kommunikation auf und bildet damit den Kontext, innerhalb dessen ein gemeinschaftliches Werk geschaffen werden kann.

Antoni Abad: Z
Antoni Abad geht von der menschlichen Eigenschaft aus, sich um ein "Haustier" anzunehmen, und baut daraus ein extrem ungewöhnliches und organisches Netzwerk auf. Dass als Symbol und Verkörperung des Netzwerks eine Fliege verwendet wird, macht das Projekt nur noch interessanter. Es liefert eine sehr originelle Gedankenstruktur, die durch hervorragende Umsetzung unterstützt wird. Besonders bemerkenswert ist, dass man auch die Gesamtaktivität des Netzwerks beobachten kann, die sehr deutlich – wenn auch nicht ausschließlich – dem Tageslicht um die Welt folgt.

Wiggle / Jan Hoogerbrugge: Flow
Flow ist eine hypnotische Erfahrung, die oberflächlich extrem simpel erscheint, aber dennoch mitreißt und fasziniert. Jan Hoogerbrugge und Wiggle haben eine Animationsform geschaffen, die einen simplen Interaktionsmodus für ein reichhaltiges Erlebnis bereitstellt. Das Bild eines Mannes in einem unendlich hohen Aufzug ist zugleich fesselnd und beunruhigend.

LeCielestbleu: PuppetTool
Die allerbesten Projekte sind jene, die nur eine Sache extrem gut umsetzen, und genau das ist hier der Fall. PuppetTool versucht nicht, fehlerfreie Modelle zu produzieren, wohl aber seinen simplen Modellen fehlerfreie Bewegung zu geben – und das Produkt ist flüssig und faszinierend. Dass man die Arbeit anderer User ebenfalls sehen kann, hilft, den Wert und die Gemeinschaft der Site aufzubauen.

Jared Tarbell: Levitated
Jared Tarbell hat eine hervorragende Open-Source-Grafikarbeit geschaffen, die eine schier unglaubliche Bandbreite aufweist. Das Projekt umfasst eine Fülle an bereits abgeschlossenen Arbeiten, die hier als reichhaltige Open-Source-Palette zur Weiterbe- und -verarbeitung angeboten werden. Die Qualität der Erfahrung und Interaktion ist ebenso hoch wie die Qualität der Arbeit, was insgesamt ein sehr komplettes und erfüllendes Werk schafft.

LAST: Last.Fm / Flast.Fm
Die Entstehung von Communities und das Anwachsen des Musiksharings waren dominante Faktoren für die Industrie der letzten Jahre. Last.FM bringt beide Faktoren in einem extrem fesselnden und gut ausgeführten Projekt zusammen. Es verwendet den Kontext von Musik und Musikgeschmack, um höchst lebendige Communities zu schaffen.

LAN: Tracenoizer
Wir haben alle unsere Namen durch Google gejagt, um herauszufinden, was über uns im Netz so alles existiert. Aber wir wollen auch nicht immer so leicht aufzufinden sein, deswegen erlaubt uns Tracenoizer, ein Alter Ego zu schaffen, das uns zwar ähnelt, aber völlig fiktiv ist. Das Ergebnis ist eine Site, die dann gehostet werden kann und viel von der realen Information über uns mit realer Information über Menschen mit ähnlichem Namen wie dem unseren kombiniert. Was diese Site so bestechend macht, ist die Qualität und die Glaubhaftigkeit des Ergebnisses.

Sourceforge.net
Open Source verändert die Funktionsweise der Wirtschaft – diese Bewegung verlangt, dass wir die Art und Weise, in der intellektuelles Kapital behandelt wird, überdenken, und Sourceforge ist die in diesem Bereich führende Organisation. Als Unternehmen hat sich Sourceforge der Open-Source-Bewegung verschrieben, was es mit seiner Kundschaft auf eine gleichberechtigte Ebene stellt. Dies wird mehr als jedes andere Ereignis unsere Arbeitsweise und die Entwicklung unserer Produkte verändern.

Shinya Yamamoto: Sinplex Show
Shinya Yamamoto erforscht die Welt der stillen Bilder in einer etwas schlichten, aber dennoch exquisiten Arbeit. Durch den bewussten Verzicht auf Sound wird der Eindruck der Bildwelt sogar noch verstärkt. Die faszinierende Interaktionsweise durch das "Einfangen fallender Droplets" lädt zu wiederholter Erforschung und Erfahrung ein.

 
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