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Prix Ars Electronica
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Prix-Jury

 
 
Veranstalter
Ars Electronica Linz & ORF Oberösterreich

2007: Die Rückkehr des Interaktors

Erkki Huhtamo, Söke Dinkla, Geetha Narayanan, Hiroshi Ishii, Shu-Min Lin

Die Kunst verändert sich, und mit ihr Definitionen und Kategorien. Die interaktive Kunst ist dabei keine Ausnahme. Seit ihren Anfängen in den 1970er und 1980er Jahren haben sich interaktive Projekte viele unterschiedliche Technologien, Medien und Zusammenhänge angeeignet: von Installationen in Innenräumen bis zur Kunst im öffentlichen Raum, Performances, Kleingeräten, Klangumgebungen, Netzwerkprojekte und nicht zuletzt hybride, aus mehreren verschiedenen Formen bestehende Arbeiten. Diese Entwicklung wird auch durch die Entscheidungen der Jurys des Prix Ars Electronica im Lauf der Jahre reflektiert. Aber man könnte mit Recht behaupten, anstatt nur einfach die externen Entwicklungen widerzuspiegeln, haben diese Jurys ebenso sehr die interaktive Kunst selbst beeinflusst, haben ihren Fingerabdruck auf dem „Genre“, seinen Formen und Definitionen hinterlassen.

Dies ist nicht immer ohne Kontroversen abgelaufen. In der Tat haben einige Juryentscheidungen mehr Konfusion geschaffen denn Klarheit. Es wurde behauptet, dass einige der in der Kategorie Interaktive Kunst ausgezeichneten Werke streng genommen eigentlich gar nicht „interaktiv“ gewesen seien. Solche Statements schreien geradezu nach Definitionen: Was würde denn „interaktive Kunst“ in ihren Myriaden von Formen charakterisieren (sofern so ein allgemeines Charakteristikum überhaupt denkbar ist)? Diese Frage stellte sich der Jury für Interaktive Kunst 2007. Erleichtert wurde die Antwort dadurch, dass die neue Kategorie Hybrid Art eingeführt worden war. Man kann nämlich durchaus mit Berechtigung sagen, dass zumindest einige der in den letzten paar Jahren ausgezeichneten Werke deswegen gewählt wurden, weil sie ganz klar einen Preis verdienten, es aber keine andere Kategorie gab, in die sie hineingepasst hätten. Neologismen wie „Interaktivität des Systems“ oder gar „passive Interaktivität“ (ein Widerspruch in sich selbst) wurden erfunden, um die Preisvergabe zu rechtfertigen.

Das Problem lag nicht in der künstlerischen Qualität, im Anspruch oder in der Komplexität dieser Projekte – viele von ihnen waren wunderbar und erinnernswert. Die Schwierigkeit war vielmehr, dass sie häufig das Publikum in nichts anderes als eine „geistige Interaktion“ einbanden. Die Arbeiten existierten, und ihre internen Prozesse entfalteten sich unabhängig von den Betrachtern, denen somit keine wesentlich andere Rolle zukam als den Besuchern einer Galerie oder einem Kinopublikum. Die interaktive Kunst jedoch wurde aus einer Zusammenballung sehr unterschiedlicher Impulse geboren – von den prozessorientierten Kunstpraktiken der 1960er Jahre bis zur Inspiration, die von interaktivem Computing, von der Vernetzung und der virtuellen Realität ausging. Partizipation, Destruktion, Dekonstruktion, Rekonstruktion, Verschiebung, Ersetzung, Interaktion – welche Form auch immer der Prozess angenommen haben mag, der Betrachter war eingeladen mitzuwirken, zu kommunizieren, zu konstruieren, mitzuschaffen: Er sollte zum Interaktor werden.

Ohne nostalgisch zu sein, wollte die diesjährige Jury für Interaktive Kunst „zu den Wurzeln zurückkehren“ und den im Mittelpunkt des Werkes stehenden aktiven Benutzer zum entscheidenden Kennzeichen der Interaktivität machen. Welches Medium es verwenden und welche Form es auch immer haben mag – ein interaktives Werk wendet sich an die Menschen und fordert sie auf oder verführt sie dazu, ihren üblichen Standpunkt zu verlassen. Das reduziert die Komplexität und das „Innenleben“ des Werks in keiner Weise. Ein interaktives Kunstwerk kann spielerisch und spielähnlich sein, aber sollte gleichzeitig auch die Wahrnehmungs- und Erfahrungsmodi hinterfragen und erneuern, den Geist (und den Körper) anregen und die vorherrschende Hierarchie der Sinne herausfordern. Besonders das Taktile bekommt eine größere Bedeutung und nimmt neben Sehen und Hören eine gleichwertige Stellung als Kanal zur Erfahrung ein und erfüllt so Marshall McLuhans Intuition.

An dieser Stelle müssen jedoch noch einige Ergänzungen gemacht werden, um das Entstehen eines normativen Kanons oder neuer Orthodoxien hintanzuhalten. Es gibt Werke, die man „interaktiv“ nennen kann, obwohl das Publikum dabei überhaupt keine „Handson“-Rolle spielt – das unmittelbare Eingreifen ist hier professionellen Mitwirkenden übertragen, die sozusagen als „Interaktoren-Surrogat“ funktionieren. Auch gibt es „meta-interaktive“ Werke, deren eigentliche Interaktivität beschränkt sein kann. Der Schlüssel zu diesen Werken liegt anderswo: imDiskurs über Interaktivität, den sie auslösen. In beiden Fällen ist der Zuseher integraler Bestandteil des Konzepts, auch wenn die Interaktion mit dem Publikum keine direkte ist. Ob solche Werke als „interaktive Kunst“ einzustufen sind oder als Nebenform zu behandeln sind, wurde bewusst offen gelassen.

Was die diesjährige Auswahl betrifft, so beweisen fast 400 Einreichungen wohl deutlich, dass alle Vorhersagen über den Untergang der interaktiven Kunst verfrüht waren. Auch wenn es wenige wirkliche Offenbarungen gab, so ließ sich doch eine große Vielfalt von Gedanken und Ansätzen entdecken. Und abgesehen von Arbeiten, die durch Spiele und Spiel-Maschinen inspiriert wurden, ließ sich aus der Vielzahl der Einreichungen auch nicht wirklich ein Trend herauslesen. Anstatt irgendeiner speziellen Art der Interaktion, einer technologischen Richtung oder einer künstlerischen Philosophie zu huldigen, suchte die Jury letztlich nach anderen Dingen: nach originellen Ideen, innovativen technischen Anwendungen, kluger Interaktion mit dem Nutzer, sozialem Engagement und künstlerischer Qualität. Wie zu erwarten stand, fanden sich diese Kriterien nur selten in einem Werk vereint.

Goldene Nica

Ashok Sukumarans Park View Hotel, Gewinner der Goldenen Nica, vereint am besten all diese Kriterien. Unter Anwendung der SunSPOT-Programmable-Object-Technologie hat Sukumaran eine Situation geschaffen, in der der Benutzer mit einem speziellen Zeigegerät von außen in die Innenräume eines Hotels linsen und sie optisch „pingen“ kann. Sobald ein Raum getroffen wird, beginnt die Farbe des Raums auf die Fassade des Gebäudes hinauszusickern, als würde sie über die Straße springen wollen. Technologische Innovationen wurden eingesetzt, um eine originelle Idee umzusetzen, die zahlreiche Fragen über das Verhältnis zwischen öffentlich und privat aufwirft, über die Schnittstelle zwischen Architektur und Medien, das Sehen und Gesehenwerden, über die Rolle des Individuums in einer mediengesättigten Neo-Panoptikum-Gesellschaft. Sukumarans Werk zeigt, dass ein Künstler, der mit interaktiver Technologie arbeitet, gleichzeitig ästhetischer Erneuerer, Anreger von Erfahrungen, Schöpfer eines Systems und Erzeuger eines Diskurses sein kann.

Auszeichnungen

Die beiden Auszeichnungen unterstreichen zwei recht unterschiedliche Annäherungen an die interaktive Kunst. Bernie Lubells Conversation of Intimacy ist einzigartig insofern, als es ein hoch interaktives Werk ist, das überhaupt keine digitale Technologie einsetzt. Lubell hat eine große, vom Benutzer zu bedienende hölzerne Maschine gebaut, die die Bewegungen des Anwenders auf einer Papierrolle mit Hilfe einer Kombination aus physischen und pneumatischen Operationen aufzeichnet. Wie in allen von Lubells zahlreichen, aber viel zu wenig bekannten Werken versteckt die verspielte Erscheinung eine große Menge an künstlerischen, technischen, wissenschaftlichen und kulturellen Bezügen und Zitaten, von Étienne-Jules Mareys „grafischer Methode“ zur Aufzeichnung menschlicher und tierischer Bewegungen bis zu den Junggesellenmaschinen von Raymond Roussel, Marcel Duchamp oder Jean Tinguely und weiter bis zu verschiedenen Formen von Computerinteraktion – ja, Lubell hat sogar einen funktionierenden hölzernen Multi-User-Computer geschaffen. Für die Jury bot Lubells Werk die Möglichkeit, den technologischen Determinismus zu bekämpfen: Der Computer ist nicht „das Maß aller Dinge“, nicht einmal das Maß aller interaktiven Dinge!

Die zweite Auszeichnung geht an Leon Cmielewski und Josephine Starrs für Seeker, ein Projekt, das die User auffordert, die Spuren der eigenen Migration mit den globalen Migrationsbewegungen, Konflikten und menschlichen Wanderungen zu vergleichen. Indem man die Elemente der eigenen Ortswechsel und jene seiner Angehörigen in eine im Aufbau befindliche Datenbank eingibt, wird das Persönliche, Private und Lokale zu einem Teil der kollektiven und letztlich globalen Schicksale. Die Auseinandersetzung mit dem Interface führt zu einem Prozess, der das eigene Selbstverständnis erweitert; sie führt den Anwender zu Überlegungen über die Kräfte, die die Bildung der eigenen Identität in einer Wirklichkeit konditionieren, die zunehmend transnational und transethnisch, aber auch zerrissen von religiösen, politischen und ethnischen Grenzen ist. Für die Jury stellte Seeker ein herausragendes Beispiel einer interaktiven Arbeit dar, das auf gefühlvolle Weise zur Suche nach Lösungen für die vielen Probleme beiträgt, die unsere unruhige Welt plagen.

Die Anerkennungen

Die Anerkennungen umfassen eine breit gefächerte Auswahl von Ansätzen und in Entwicklung begriffenen Ideen. Nicht alle ausgewählten Werke sind absolute „Meisterwerke“, aber ein jedes von ihnen enthält bemerkenswerte Eigenschaften, die die Jury beeindruckt haben und Beweise für die noch immer aktuelle Relevanz der interaktiven Kunst sind.

Obwohl sie ästhetisch recht unterschiedlich sind, haben sich sowohl Sonia Cillaris Se mi sei vicino als auch Baba Tetsuakis Freqtric Project die Aufgabe gestellt, die Mensch-Maschine-Beziehung dadurch zu verbessern, dass der menschliche Körper als taktiles Interface neu definiert wird. Cillaris Lösung ist poetisch und erotisch, während Tetsuakis „menschliche Trommeln“ eher das Spielerische und die soziale Interaktion betonen. Auf eine Weise charakterisiert das Taktile auch Julie Maires Digit, das am besten als eine meta-interaktive Arbeit beschrieben werden kann: Der Finger des Mitwirkenden produziert gedruckten Text auf einem leeren Blatt Papier, und zwar scheinbar ohne technologische Intervention. Maire positioniert sich damit als moderner Magier, der die Geschichte der Technologie auf unerwartete und sehr individuelle Weise erforscht. Nichts ist das, was es scheint, aber alles ergibt letztlich doch eine Menge (Un-)Sinn.

Eine andere Art von Zauberei findet in Yuichi Itos und Yoshimasa Katos White Lives on Speaker statt: Die Gehirnwellen des Interaktors lassen simple Kartoffelstärke, die auf einem Lautsprecher vibriert, zu erstaunlichen springenden „Skulpturen des Geistes“ werden. In Gabriel Barcia-Colombos Animalia Cordata interagiert der Besucher mit winzigen „menschlichen Samples“, die in Glasbehältern gesammelt werden – eine Metapher mit reichen Konnotationen von den Kuriositätenkabinetten und Taschenspielertricks bis hin zu Laborpraktiken und Theorien menschlicher Taxonomie. Beide Stücke sind ebenso überraschend wie humorvoll und erinnern im besten Sinne daran, dass Zugänglichkeit und Verständlichkeit nicht notwendigerweise mit Überflüssigkeit zu tun hat. Dasselbe ließe sich über Vincent Elkas SHO(U)T sagen, das den Interaktor dazu einlädt, die eigenen Emotionen durch Schreien auszudrücken, und darauf mit eindrucksvollen audiovisuellen Formen antwortet. Auch wenn die Idee nicht neu ist, fand die Jury die Umsetzung fesselnd.

Neben Seeker wurden die Möglichkeiten interaktiver Medien, sich mit kulturellen, sozialen und politischen Anliegen zu beschäftigen, in sehr unterschiedlicher Weise in Werken eingesetzt, denen die Jury ihre Anerkennung ausdrücken möchte. Agnes Meyer-Brandis hat eine SGM Iceberg Probe genannte Sonde entwickelt, die es dem Anwender erlaubt, in Eisschichten „einzudringen“ und so visuell Untergrundbereiche zu erforschen, die von der globalen Erwärmung und von multikulturellen Wirtschaftsinteressen bedroht werden. Ein spielerisches Interface, fast wie ein Taschenspielertrick, ermöglicht den Zugang zu „tief gehenden“ Anliegen. Brian Kneps Deep Wounds ist eine ehrgeizige ortsspezifische Installation, bei durch einfaches Gehen unterdrückte Ebenen aus der Geschichte der USA enthüllt werden. In der Installation in der Memorial Hall der Harvard University erscheinen die ansonsten verschwiegenen Daten jener Harvard-Absolventen auf dem Boden, die im amerikanischen Bürgerkrieg auf der „falschen“ Seite gekämpft haben. Das Werk beweist überzeugend, welchen Grad der Reife die interaktiven Medien als Vehikel für öffentliche Kunstzwecke bereits erreicht haben.

In Indien hat das von der Dokumentarfilmerin und Medienaktivistin Shaina Anand gegründete Chitrakarkhana-Workshop etliche innovative Projekte realisiert, die die Menschen vor Ort mit Hilfe von billiger, umfunktionierter CCTV- und CATV-Technik verlinkt haben. Diese Experimente, darunter auch KhirkeeYaan aus dem Jahr 2006, haben außerordentliche Ergebnisse erbracht und zu Dialogen zwischen Teilen der Gesellschaft geführt, die einander selten von Angesicht zu Angesicht begegnen. Aus der Sicht der westlichen Hochtechnologie mag das eingesetzte Equipment nichts Neues sein, aber der Kontext ist hier das Neuartige. Chitrakarkhanas Projekte zeigen, dass „Medien“ nicht nur die einer Gesellschaft sozusagen von oben her auferlegte unpersönliche Zuspielung sein müssen; die Medien können auch auf der alltäglichen Ebene umdefiniert werden und so den Bewohnern die Macht geben, sich mit ihrer Identität auseinanderzusetzen und die gemeinsame soziale Wirklichkeit besser zu verstehen.

Abschließend wird Interaktivität in enormem Maßstab – sowohl hinsichtlich der Anzahl der Mitwirkenden wie der Größe des Werks selbst – von Usman Haque in seinem Open Burble erforscht. Hier tragen die Mitwirkenden ebenso zum Design bei, wie sie eine riesige künstliche „Wolke“ aus modularen Einheiten steuern, die von Heliumballons getragen werden. Das sich so ergebende Werk ist ein Hybrid aus Kunst, Architektur, Performance und sozialem Event. Hier wird auch die interaktive Kunst mit den Traditionen der „Sky Art“ auf eine frische Weise verknüpft, die einerseits den öffentlichen Raum im Freien einbindet, andererseits eine große Gruppe von Menschen in eine physische Interaktion mit Fremden einbindet – eine willkommene und nützliche Erfahrung für die Handy-Generation.

Dieses Statement wurde von Erkki Huhtamo verfasst.

 
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