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Prix Ars Electronica
Archive

Prix-Jury

 
 
Veranstalter
Ars Electronica Linz & ORF Oberösterreich

Interaktive Kunst: Strategien des Zuseher-Seins

Andi Cameron, Sonia Cillari, Stephen Kovats, Tomoe Moriyama, Joachim Sauter

Die interaktive Kunst ist seit etlichen Jahrzehnten nun schon eine etablierte Form der Kunstpraxis, und dennoch bleibt der Begriff instabil und in seinen Bedeutungen umstritten. Die über 400 Einreichungen in der Kategorie „Interaktive Kunst“ des Prix 2008 belegen diese ständigen Auseinandersetzungen um Kunstpraktiken, die (unter anderem) Technologie, Geschichte, Aktivismus, Biologie, Beziehungsästhetik, Repräsentation, Spiel, Wettkampf, Tradition und Geschlechterpolitik ansprechen. Aufgabe der Jury war es einmal mehr, diese große Zahl scheinbar heterogener Stücke zu evaluieren und sie in sinnvoller Weise an einem kohärenten Set kritischer Prinzipien zu messen. In gewissem Sinn ist das natürlich eine unmögliche Aufgabe – die zu bewertenden Kunstwerke unterschieden sich enorm nicht nur hinsichtlich ihrer Themen und Inhalte, sondern auch in ihrer physischen Umsetzung und ihren Strategien zu Mitwirkung und zum Betrachter-Sein. Die Herausforderung an die Jury war also ebenso groß wie stimulierend und hat uns alle auf eine höchst lohnende Reise durch eine sich verändernde kritische Landschaft geführt. Auch auf eine ausgewogene Auswahl möglichst unterschiedlicher Preisträger wurde Wert gelegt als Abbild der Diversität unter den Einreichungen. Soweit diese Jury damit befasst war, bleibt Interaktivität in der Kunst jedenfalls eine Art synthetischer Domäne mit vielerlei Elementen und Einflüssen und mit einer reichen Vielfalt in der Ausführung.

Die Jury zögerte, „interaktiv“ von vornherein klar zu definieren, vielmehr zog sie es vor, den Begriff aus der großen Breite von zu bewertenden Werken selbst auftauchen zu lassen. Das heißt nun nicht, dass wir „interaktiv“ als schwammig oder beliebig verstanden hätten, als Begriff, der jeweils das bedeutet, was der einzelne Künstler in jedem einzelnen Fall darunter verstehen will; vielmehr sollte dies anerkennen, dass Interaktivität innerhalb einer breiteren ästhetischen Strategie rigoros oder verschwommen ebenso sein kann wie fordernd, provokant und pervers. Dennoch standen wir natürlich einer ganzen Gruppe verschwimmender Grenzen gegenüber, besonders in der Frage, wie denn nun die „interaktive“ gegenüber der „hybriden“ Kunst abzugrenzen sei angesichts der inhärenten technologischen, konzeptuellen und materiellen Hybridität der interaktiven Kunst als disziplinenübergreifende Praxis. Wir haben auch damit argumentiert, dass das Verständnis von „Interaktivität“ jene Komplexität berücksichtigt, die sich aus der Behandlung von soziopolitischen Anliegen, von menschlichen Lebensumständen und ästhetischer Auswahl ergibt, und nicht übermäßig vereinfacht werde auf mit technologischen Gerätschaften umgesetzte Ideen. In diesem Jahr hat eine weiter zunehmende Anzahl von Werken asiatischen Ursprungs unsere Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, was einen Dialog mit einem bestimmten – und noch instabileren – Feld kultureller Bedeutungsträger erforderte, welche technologische Kunst mit sehr unterschiedlichen Feldern zeitgenössischen Ausdrucks wie Kalligrafie, Literatur und einigen sehr unwestlichen künstlerischen Gesichtspunkten verbanden.

Eine weitere Debatte drehte sich um den Begriff „electronica“ und darum, auf welche Weise Technologie sich mit kulturellen Formen und einer breiteren zeitgenössischen Kunstpraxis überschneidet. Wenn wir auch die Bedeutung der elektronischen und der Medienkunst innerhalb des historischen Kontexts der Ars Electronica anerkannten, so sieht es die Jury dennoch als gegeben an, dass interaktive Kunst nicht durch eine spezifische Technologie oder ein Set von Techniken beschränkt ist und dass ein einfaches, effizientes und stark erzählerisches Werk nicht einfach wegen einer zu schmalen technischen Basis abgewertet werden sollte. Die Auswahl der drei Preisträger spiegelt dieses Anliegen getreulich wider. Bei der Liste der Sieger und Anerkennungen folgten wir einem weiter gefassten kritischen Gedankengang, der sich auf die Strategien der Künstler bezieht beim Versuch, die Beziehung zwischen physischem und sozialem Ort radikal zu durchbrechen, wodurch der tatsächliche Ort des Geschehens für unsere sozialen Beziehungen immer unbedeutender wird. Eines der vielen Elemente von Interaktion, um die es in der Debatte immer wieder ging, war die Interaktion von Prozess und System. Jener Dialog, der ein interaktives Stück über die bloße „Reaktion“ hinaushebt, kann – so darf und muss man argumentieren – auch abseits einer direkten Interaktion mit dem Nutzer existieren und in der Technologie selbst angesiedelt sein, kann als Interaktion zwischen Systemen und Prozessen oder als Dialog des Kunstwerks mit seiner eigenen Umwelt stattfinden; kurzum, er kann auf eine eigene Art lebend, generativ oder kognitiv sein. In diesem Sinne waren wir auch an den Nuancen interessiert, die sich durch die Manipulation komplexer Umgebungen ergeben, an der Interaktion zwischen Künstler und Kunstwerk, zwischen Maschine und Natur, zwischen Wahrnehmung und Erfahrung.

Goldene Nica: Image Fulgurator von Julius von
Bismarck


Einer künstlerischen Arbeit Genialität zuzuschreiben ist äußerst selten. Dieses Projekt verdient zweifelsohne diese Zuschreibung.

Mit einem genialen Konzept, basierend auf einer Kombination von existierenden einfachen Komponenten, schafft Julius von Bismarck mit seinem Image Fulgurator ein ungeheures künstlerisch aufklärendes Potenzial. DerImage Fulgurator ermöglicht es, Nachrichten in Fotos anderer einzustanzen, ohne dass es vom Fotografierenden während der Aufnahme bemerkt wird. Technisch funktioniert der Fulgurator (lat: Blitzschleuderer) wie eine normale Kamera – nur eben rückwärts. Hierbei montiert Julius von Bismarck einen Blitz auf die Rückseite einer analogen Spiegelreflexkamera und legt in diese einen mit Nachrichten belichteten Film ein. Wird der Blitz ausgelöst, so wird die auf dem vorbelichteten Film befindliche Nachricht, für das menschliche Auge nicht sichtbar, durch das Objektiv auf ein Objekt projiziert. Auf der Kamera selbst ist ein handelsüblicher Blitzsensor (Slave), wie er aus der Studiofotografie bekannt ist, montiert. Der Fulgurator wird somit automatisch von jedem Blitz in seiner Nähe ausgelöst. Wird er beispielsweise im öffentlichen Stadtraum vor einem Motiv aufgestellt, wird jedes Foto, das von Dritten per Blitz gemacht wird, unweigerlich sein Nachricht erhalten. Julius von Bismarck hat mit dieser Apparatur schon mehrere Orte inhaltlich mit seinen Nachrichten bespielt und für Irritation und Nachdenklichkeit gesorgt. Einige weitere Guerillakonzepte sind ausformuliert und harren der Realisierung.

In der Arbeit steckt noch großes, teilweise nicht vorhersehbares, teils auch gefährliches Potenzial. Das Prinzip ist formuliert, und die Blaupause wird als „open source“ veröffentlicht werden. Deren Missbrauch ist einkalkuliert und vorhersehbar. Es wird nicht lange dauern, bis ein Werber auf die Idee kommt, Produktinformationen in Fotos einzuschmuggeln, oder politisch anders als der Künstler denkende Interessengruppen diese Technologie für ihre Zwecke einsetzen werden. Die künstlerische Praxis erlaubt eine solche Ambivalenz und muss die Konsequenzen auch notfalls aushalten. Die besten Ideen sind die, bei denen man sich fragt, warum es so lange gedauert hat, bis sie von jemandem gedacht und realisiert wurden. Die Jury vergibt die Goldene Nica an den Image Fulgurator nicht primär deshalb, weil er eine geniale technische Idee darstellt, sondern da ihm ein hohes künstlerisches Potenzial inhärent ist, das durch die von Julius von Bismarck realisierten Einsätze überzeugend nachgewiesen wurde.

Durch die Gewährung einer Auszeichnung an Norimichi Hirakawas a plaything for the great observers at Rest („Ein Spielzeug für die ruhenden großen Beobachter“) anerkennt die Jury ein künstlerisch kraftvolles Werk, das poetisch und ausdrucksvoll starke visuelle und auditive Interaktion mit Benutzerinteraktion verbindet. Die Arbeit hinterfragt unsere Stellung und unseren Glauben, und zwar sowohl physisch wie psychologisch innerhalb des wissenschaftlich vorgegebenen Systems des Universums. Es erhöht die Position des Betrachters zu jener des Bezugsbestimmenden – eben zu einem „großen Beobachter“, der mit den fundamentalen Theorien eines heliozentrischen oder geozentrischen Weltbildes spielt, das uns auf einen einen Stern umkreisenden Planeten stellt. Was wäre, wenn wir die Macht hätten, diese Beziehung zu ändern und folglich über Raum, Zeit und Ort spekulieren könnten in Form einer persönlichen Reise, auf der wir unser eigenes subjektives Verständnis der Welt steuern könnten? Hirakawa hat ein spezielles Gerät und den kontemplativen Ort gebaut, die uns genau dies erlauben, ganz unbeschwert und mit einer Anmutung, die an die alten mechanischen Planetenmodelle unserer Volksschulzeit erinnert.

Absolut Quartet von Jeff Lieberman und Dan Paluska sitzt fest im Sattel der jahrhundertealten Tradition musikalischer Automaten. Es handelt sich um ein Improvisationsgerät, das eine einfache, über die Tastatur eingegebene Melodie nimmt und daraus eine dreiminütige Komposition macht, samt harmonischen Variationen, Kontrapunkt, Inversionen und dergleichen. Dies wird dann von einem „Quartett“ von Robotergeräten gespielt, die Bälle in die Luft schießen, welche dann auf ein Xylophon fallen oder auf gestimmten Weingläsern „spielen“ oder aber mit Roboterarmen auf Perkussionsinstrumenten einen Rhythmus schlagen. Es ist ein beeindruckender Anblick, nicht wegen seines innovativen Konzepts, sondern wegen der außerordentlichen Qualität seiner technischen Umsetzung. Mit sechs Meter Länge erstaunt Absolut Quartet sowohl vom Maßstab als auch von der Komplexität seines Ansatzes her und brilliert mit der Überfülle seiner superben Umsetzung. Manchmal sind solide Handwerkskunst und Spektakel tatsächlich genug.

Mit einer Anerkennung bedacht stellt sich Appeel so low-tech, interaktiv und relational vor, wie etwas nur sein kann. Mit einem Kreis aus runden orangen Aufklebern an einer Wand laden die Appeel-Künstler TheGreenEyl (alias Richard The, Gunnar Green, Frédéric Eyl und Willy Sengewald) das Publikum ein, diese Aufkleber abzuziehen und anderswo im Ausstellungsraum anzukleben. Jedes abgezogene Pickerl hinterlässt einen weißen Kreis, der seinerseits ein Element in einem sich entwickelnden Design wird. Die orangen und weißen Flecken werden vom Publikum verwendet, um in der Galerie Bilder und Nachrichten füreinander zu schaffen. Appeel präsentiert sich sozusagen als analoge Form von Pixel-Kunst, die durch die grundlegenden Elemente Papier, Leim und Wand dargestellt wird, und lädt uns als solche ein, über die Beziehung zwischen einer bildschirmgestützten Medienkunst und jenen breiteren interaktiven Praktiken nachzudenken, die häufig unter „relationaler Ästhetik“ zusammengefasst werden.

Die Technik der Überlagerung von realen Objekten mit projizierter virtueller Information scheint momentan ein für viele Künstler und Gestalter interessanter Prozess zu sein. Viele Projekte in dieser Richtung wurden in letzter Zeit gezeigt, die alle dem gleichen technischen Ansatz folgen. Hierbei wird eine Skulptur im Rechner nachmodelliert, diese mit Bewegtbild texturiert und gerendert. Der dabei entstandene Film wird dann von einem Projektor präzise auf das physische Objekt projiziert.

Pablo Valbuenas Augmented Sculpture Series wurde von der Jury ausgezeichnet, da sie in ihrer formal ästhetischen Qualität und ihrem experimentellen Ansatz weit über das sonst zu sehende herausragt. Bei der Skulptur Conde Duque überlagert Valbuena eine Anordnung von Kuben auf überzeugende Art und Weise mit Bewegtbild und darauf reagierendem Sound. Die Projektion tastet die Skulptur ab, überlagert sie, bemächtigt sich ihrer und geht mit ihr eine Symbiose ein. Ähnlich geht Pablo Valbuena auch bei der Arbeit entramado auf dem Plaza de las Letras in Madrid vor. Hier überlagert er einen öffentlichen Platz mit Projektionen, die diesen abtasten, Bezüge schaffen und sich seiner bemächtigen. Im Besonderen hat die Jury die dramaturgische Qualität, die durch die Projektion über einen Zeitraum entsteht, überzeugt. Die Räume und Skulpturen bekommen eine Zeitlichkeit und gehen mit ihr eine Symbiose ein.

Constraint City / the pain of everyday life („Die Stadt der Beschränkung und die Pein des Alltagslebens“) von Gordan Savicic, dem die Jury ebenfalls eine Anerkennung zugesprochen hat, ist eine kritische urbane Performance, die sich mit unserer Art der Wahrnehmung der Stadtlandschaften der Gegenwart auseinander setzt. Durch Ausnützung der elektromagnetischen Wellen, die von den über das ganze urbane Gebiet verteilten drahtlosen Netzwerken ausgehen, bildet der Künstler Letztere auf seinen eigenen Körper mithilfe eines selbstgebauten Brustkorsetts ab. Je stärker das drahtlose Signal eines geschlossenen verschlüsselten Netzwerks, umso enger wird das Korsett. Die vom System entdeckten Werte werden über ein GIS (Geographic Information System) aufgezeichnet, das die alltäglichen Wege notiert und je nach der aufgezeichneten Signalstärke Alternativrouten vorschlägt – Wege des geringeren Alltagsschmerzes. Der Versuch, ein Interface für eine unsichtbare Stadt durch Verwendung einer körperlichen und schmerzvollen Strategie zu erstellen, konfrontiert uns mit einem neuen Bewusstsein der urbanen Szenerie, eine Forschungsreise, die uns an eine zeitgenössische „Psycho-Geografie“ erinnert, die die Handlungen des Einzelnen bei der Übersendung von Information beeinflussen kann.

Extended Cognitive Tools von Jun Fujiki ist ein Set expressiver Software-Tools, die mit der Erweiterung der menschlichen Wahrnehmung spielen, und ist auf drei Module aufgebaut: „Incompatible BLOCK“, „OLE Coordinate System“ und „Constellation“. Das als studentische Arbeit entwickelte OLE Coordinate System errang einen Preis beim Japan Media Arts Festival, durch welches die Software jetzt auch als „Infinite Corridor“ herausgebracht wird, und zwar für Sony PlayStation Portable. Der erste Teil ist eine auf Blöcken aufgebaute 3D-Modellier-Software mit einem Interface samt „Wunder“ oder physischer Unmöglichkeiten, in der die User diese Blöcke durch Ziehen editieren und zu optisch verzerrten Konstrukten formen können. Der zweite Teil taucht noch tiefer in interaktive Illusionen ein, die einer Gestalt erlauben, unmögliche Bewegungen auf den und entlang der Blöcke und Stiegen in einer virtuellen 3D-Welt zu vollbringen. Das dritte Segment ist ein koordinatenbasiertes Animationssystem, das die anderen Interaktionsmechanismen kombiniert. In dieser virtuellen Welt versucht die Figur, nicht zusammenhängende Blöcke durch eine wie von Escher geschaffene Welt zu manövrieren, und spielt gleichzeitig mit unserer Wahrnehmung von Raum und Bewegung.

Globe Fire von Du Zhenjun ist eine interaktive Installation in einem Kuppelraum mit zwölf Meter Durchmesser, die von innerhalb aktiviert wird und von außerhalb wahrgenommen werden kann. In der Kuppel befinden sich zwölf Temperatursensoren, die auf metallenen Gestellen in der Höhe von 1,6 Metern angebracht sind. Jedem Sensor kommt eine zweifache Funktion zu – die eine zeigt die gegenwärtige Temperatur, während die andere auf jene Temperatur eingestellt ist, ab der ein Bild einer riesigen Flamme erscheinen kann. Von einem echten Flämmchen ausgelöst, brechen die Projektionen in ein Feuerinferno aus, in dem die Flaggen von gut zweihundert Staaten verbrennen. Jeder Sensor reagiert unabhängig auf sein eigenes Starterflämmchen, und wenn mehrere Besucher gleichzeitig mehrere von ihnen auslösen, ergibt sich ein geradezu apokalyptischer Feuerball, eine Explosion von Rauch, Staub und Feuer. Die Szenen selbst sind relativ kurz, mit einer Dynamik, die die Besucher in ein großangelegtes Spektakel einbindet und einen unheimlichen, aber wunderschönen Eindruck hinterlässt, der unser Gefühl für räumliche Grenzen über den Haufen wirft.

It’s fire, you can touch it von Yoko Ishii und Hiroshi Homura wandelt die als Ideogramme verstandenen chinesischen Schriftzeichen in grafische Elemente um und schafft so eine neue visuelle Sprache. Wir können eine Textzeile ergreifen, sie in die Handfläche gleiten lassen und sie an die andern Besucher weiterreichen, somit fast unmerklich ihren Inhalt mitteilen. Wenn der Text aus der Handfläche herausrinnt, tropft er auf einen Tisch und wandelt sich in eine sich frei bewegende Animation. Das Zeichen für Feuer beginnt zu brennen, während das Zeichen (Schönheit) in der Form eines Insekts vom User wegläuft. Die Texte als solche sind „Tanka“, traditionelle japanische Dichtkunst in der Form von 31-silbigen Versen. Die einzigartigen Tanka des zeitgenössischen japanischen Dichters Homura werden von den Künstlern in eine taktile Version umgewandelt, was den Gedichten eine fast körperliche Präsenz verleiht. Als eine Form haptischer Literatur, die die Imagination des Betrachters anregen soll, versuchen die Verse, tiefer in den Geist der Betrachter einzudringen.

Viele der Kunstwerke im Wettbewerb der interaktiven Kategorie fielen in etablierte Kategorien wie interaktiver Klang, reaktive Skulpturen oder Werke auf der Basis von Projektionen im öffentlichen Raum, aber LED Eyelash von Soomi Park gehört in eine ganz eigene Gruppe: Glitzernd und doch tiefgründig, unhandlich und doch außerordentlich schön und seltsam, beschäftigt es sich mit wichtigen Fragen nach Geschlecht und Identität mit einer entwaffnenden Verspieltheit. LED Eyelash bezieht sich auf die Vorliebe koreanischer Frauen für große Augen und darauf, dass häufig zur plastischen Chirurgie gegriffen wird, um die Augen runder und weniger asiatisch erscheinen zu lassen. Soomi Park schlägt eine technologische Lösung vor, in der die Wimpern mit reaktiven LEDs ausgestattet werden, die jedesmal, wenn die Benutzerin zwinkert oder ihre Pupillen bewegt, zu blinken beginnt. Das Ergebnis ist absurd, aber fesselnd, und transportiert erfolgreich ernsthafte Gedanken auf eine ebenso delikate wie perverse Weise.

levelHead von Julian Oliver ist ein räumliches Memory-Spiel, bei dem wir mit einem kleinen Würfel aus solidem Plastik konfrontiert werden. Beim Aufheben des Würfels zeigt sich ein rätselhafter dreidimensionaler Raum aus Zimmern, Türen, Treppen und Passagen in einer Projektion, wobei jeder Seite des Würfels ein eigenes Set dieser untereinander verbundenen Räume zugeordnet ist. Eine kleine Gestalt, eine Avatar-ähnliche Silhouette, die in einem der Räume des virtuellen Würfels eingefangen ist, erscheint und wandert in den Raum, scheinbar auf der Suche nach einem Ausgang. Durch Drehen und Kippen des Würfels können wir der Gestalt helfen, von Raum zu Raum zu wandern und von „Würfel“ zu „Würfel“ – aber können wir sie tatsächlich herauslassen, auf den Tisch, in die wirkliche Welt? Olivers Ansatz in die expandierende Praxis der Visualisierung von Mustererkennung verwendet ausschließlich „selbstgebastelte“ Open-Source-Software, die es jedermann erlaubt, das Spiel zu spielen, sobald die Software eben freigegeben ist. Mit der Anerkennung für levelHead unterstreicht die Jury die subtile, ästhetisch kompakte und erfrischend spielerische Präsenz des Werks, die viel eher mit der Findigkeit des Rubik-Würfels verwandt ist als mit der oftmals anmaßenden und überladenen Welt der aggressiven Computerspiele.

In den letzten Jahren wurden wir zunehmend mit „In-Game-interventions“ konfrontiert, bei denen Künstler versuchen, die Bedeutung des Spiels selbst umzukehren, wobei die Technik der 3D-Spielentwicklung annektiert und zweckentfremdet wird. Mit der Anerkennung für Moving Mario von Keith Lam ehrt die Jury den klaren und ästhetisch gelungenen Versuch, die Beziehung zwischen dem Spieler im physischen Raum und der Spieldynamik im digitalen Raum umzukehren. Wie der Künstler selbst schreibt, ist Moving Mario „keine Reproduktion von Super Mario Bros auf physische Weise“, aber es versucht, sich auf das physische Engagement des Mitspielers zu konzentrieren beim Versuch, dessen Bewegungsintentionen zu folgen. In der Tat steuert man bei „Scrolling Games“ nicht die Bewegung der Spielfigur, sondern man lässt nur den Hintergrund des Spiels auf- und abrollen. Dieses Werk wandelt physisch und mechanisch einige der TV-Spiel-Entwicklungselemente um, wobei der Spieler in seinen eigenen „realen“ Raum hineingestellt und sozusagen „hineingedacht“ wird.

Optical Tone von Tsutomu Mutoh ist ein räumliches dynamisches Spiel über Licht und Farbe, das nicht nur an die Geschichte der Farbtheorie und der kognitiven Wahrnehmung erinnert, sondern auch an zeitgenössische Experimente, die Zonen an der Schnittstelle natürlicher und künstlicher Umgebungen definieren. Das Stück ist ein interaktives Experiment, das damit spielt, wie unsere Sinne die RGB-Signale wahrnehmen, von denen wir immer mehr umgeben sind. Die Arbeit besteht aus einem kleinen Wald verankerter Pfosten mit lichtabstrahlenden Kugeln an der Spitze, die sich quer über Farbtöne, Farbschattierung und Intensität bewegen, wenn sie vom Publikum geschwungen und gedreht werden. Bei jeder Bewegung wird die Farbbalance des Raums verändert, ausgedrückt als Dialog zwischen der Flüchtigkeit der Beziehung der Kugeln untereinander und der festen Farbgebung der Wände. Dieses Werk, dem die Jury eine Anerkennung zugesprochen hat, erlaubt uns, aus unserer angenommenen Welt der vorgegebenen Lichtintensität hinauszutreten in eine, in der wir Licht als räumliche Geste zu steuern versuchen können.

The Replenishing Body von Ross Phillips von SHOW studio ist ein weiteres fundamental simples und sehr effektives Kunstwerk, das seinem Publikum die Gelegenheit gibt, ein Video-Grid über einen Touchscreen und ein Kamera-Interface zu schaffen und damit komplexe, kreative, höchst persönliche und bewegte Kompositionen zu konstruieren. Diese Arbeit muss in jene lange Traditionsreihe eingereiht werden, die mit Myron Kruegers „VideoSpace” begann, bei der das (Ab-)Bild des Publikums als Subjekt des Kunstwerks kooptiert wird, und dennoch erscheint The Replenishing Body reicher als viele seiner Vorgänger – wegen seiner absoluten Direktheit und Einfachheit und wegen des Raums für echte kreative Zusammenarbeit, den es seinem Publikum bietet. Sowohl Appeel als auch The Replenishing Body stellen exemplarisch dar, was man als kritische Theorie zu Ockhams Rasiermesser ansehen kann: Dass nämlich die reinsten Formen der Interaktion auch die ästhetisch befriedigendsten Ergebnisse zeitigen.

In den letzten Jahren haben die Neuen Medien den öffentlichen Raum erobert. Meist erscheinen sie dort als überdimensionale Medienfassaden und nur selten in einer subtileren Form. Mit touched echo gelingt es Markus Kison auf sehr überzeugende Weise, brisante Inhalte auf unspektakuläre, stille Weise zu kommunizieren. Sein Projekt bedient sich Neuer Medien, um auf minimalistische Art und Weise eine Intervention im öffentlichen Raum von Dresden zu setzen. Besucher der Brühlschen Terrasse werden in die Vergangenheit versetzt, in die Nacht des Bombenangriffs der Alliierten am 13. Februar 1945, der 200.000 Menschen das Leben kostete.

Ein Icon auf dem Geländer lädt die Besucher ein, sich mit ihren Ellbogen abzustützen und ihre Hände über ihre Ohren zu legen. In dieser Körperhaltung hören sie den Lärm der B52-Bomber, wie sie über ihre Köpfe fliegen und Bomben auf die Stadt abwerfen. Ins Gelände integrierte Körperschallwandler erzeugen den Lärm und leiten ihn direkt ins Innenohr (Knochenschall), ohne dass er von anderen gehört werden könnte. In ihrer Rolle als Performer in diesem Stück nehmen die Besucher die Haltung jener Menschen ein, die damals vor dem Krach der Explosionen die Ohren verschlossen. Die Jury verlieh diesem Projekt eine Anerkennung, weil es exemplarisch zeigt, wie Neuen Medien im öffentlichen Raum eingesetzt werden können. Mit dieser Arbeit gelang es Markus Kison, ein unaufdringliches, aber eindringliches Mahnmal zu schaffen, das an die schrecklichen Bombardierungen des 13. Februar 1945 erinnert.

Besondere Anerkennung: openFrameworks Ein interaktives Kunstwerk ist zunächst einmal nur potenziell ein Kunstwerk, denn es ist angewiesen auf den Input seines Publikums, der allein das Werk zu einem tatsächlichen Kunstobjekt macht. In diesem Sinne ist ein interaktives Kunstwerk immer auch ein Werkzeug oder Instrument, dessen Autorenschaft geteilt wird zwischen jenen, die das Werkzeug erstellt haben, und jenen, die es benutzen. Die kritische Frage für die interaktiven Künstler – also für jene, die das Werkzeug machen – ist immer, wie weit denn das Werkzeug für den Input des Publikums geöffnet und wie weit die Interaktivität eingeschränkt, begrenzt oder gekapselt werden soll. Es gibt jede erdenkliche Zwischenstufe zwischen weit offenen Werken, bei denen das Publikum kaum Beschränkungen und Bedingungen unterworfen ist, und Werken, bei denen die Interaktion auf das Drücken von Knöpfen oder Anklicken von Feldern reduziert ist.

An diesem Punkt erscheint die Grenzlinie zwischen Kunstwerk und Werkzeugset eher dünn zu sein – und genau im Zusammenhang mit diesem Grenzbereich hat die Jury beschlossen, einen Sonderpreis für open-Frameworks zu vergeben, eine Initiative von Zach Lieberman und Theo Watson, die eine Plattform für Künstler bereitstellt, wo sie ihre Werke kreativ in C++ erforschen und implementieren können. openFrameworks ist nicht bloß ein gemeinsames Dach für diverse C++-Klassen – hier handelt es sich um eine wachsende Gemeinschaft, ein Forum, innerhalb dessen Probleme und Lösungen ausgetauscht werden können, eine unterstützende Struktur, in der unerfahrene Programmierer leistungsfähige interaktive Erfahrungen schaffen können, und um eine Bibliothek von Werken, die alle benützen, erweitern und ausbauen können.

 
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