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Prix Ars Electronica
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Prix-Jury

 
 
Veranstalter
ORF Oberösterreich

Ver-bindungen schaffen!

Es gibt eine immerwährende Debatte um die Kunst ­ um ihre Definition, Grenzen, Funktion, Ziele und Mittel, um Zugänglichkeit, Politik und Status, um Hochkultur versus "Populär-Kultur", um Einbeziehung und Ausgrenzung, um Finanzierung und Unterstützung, um Kunst und Anti-Kunst.

Es gibt mehr als genug unterschiedliche Lager in diesen Diskussionen, und sie neigen dazu, einander heftig zu bekämpfen.
Aber solche Auseinandersetzungen sind keineswegs Sache der Netz-Jury: Wir sind bisher viel zu sehr damit beschäftigt, eine Definition für das zu finden, was Netz-Kunst sein könnte.

Netz-Kunst bedeutet nicht, einfach alles, was an Kunst in der eigenen Galerie herumhängt, in irgendetwas zu konvertieren, das der Computer verdauen kann, und das Ergebnis über das Netz zugänglich zu machen. Netz-Kunst beschäftigt sich mit den Konsequenzen dessen, was es bedeutet, im Netz zu sein und welche Implikationen es hat, sich ausgerechnet dieser Technologie als Medium zu bedienen. Der Film beispielsweise hat seine eigenen Regeln und Grenzen: Er arbeitet innerhalb bestimmter technischer Möglichkeiten (Montage, Schnitt, Kameraposition) und kann sich nicht mit anderen auseinandersetzen (man kann ihn nicht zurückspielen, das Publikum kann weder die Story noch die Einstellungen aussuchen), er entspricht bestimmten ästhetischen Konventionen, er ist Teil einer Geschichte der visuellen Darstellung (eine Großaufnahme dient immer dazu, einen Charakter hervorzuheben, schwarz-weiß-Material signalisiert "historische Aufnahme") und einer narrativen Rezeption. Kurzum: Das Medium bestimmt die Kunst, in ihrer Form wie in ihrem Inhalt. Das gleiche gilt für andere Medien ­ Romane, Gemälde, Photographien usw. haben alle ihre eigenen Regeln, ihre Vor- und Nachteile. Wenn man ein Kunstwerk gemacht hat, dann kann man es natürlich in ein digitales Format konvertieren und ins Netz stellen. Aber diese Transformation und wir geben zu, daß sie bisweilen recht kompliziert werden kann ­macht daraus nicht a priori Netz-Kunst.

Museen oder Galerien, in denen Kunst gezeigt wird, sind auch nicht per se Kunst, sofern nicht das Gebäude eine ganz spezielle Architektur hat, aber dann wäre es eben auch das Gebäude, dem diese Definition zukäme. Und die Dokumentation eines Projektes ist nur in den seltensten Fällen selbst ein Kunstwerk. Dennoch, das Mißverständnis, daß die Reproduktion oder Ausstellung analoger Kunst im Netz wie von Zauberhand Netzwerk-Kunst erzeugt, ist weit verbreitet, und viele Einreicher bestehen darauf, Homepages einzusenden, die nur Kunst "enthalten". Nach kurzer Durchsicht haben wir sie ohne Ausnahme ausgeschieden. (Ab einem gewissen Zeitpunkt wurden wir da schon richtig bösartig: "Ach, schon wieder eine Galerie!", wobei der Begriff "Galerie" eben als Sammelbegriff für alle Homepages stand, die im wesentlichen Kunstausstellungen waren.)

Nachdem jedes Medium seine eigenen Regeln hat, werden wir versuchen, die Ästhetik und Strukturen zu beschreiben, die das Netz mit sich bringt, um Künstler auf seine Besonderheiten aufmerksam zu machen. Und ­ genauso wichtig ­ wir zielen darauf ab, neue Entwicklungsgebiete zu identifizieren und etwas Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Wir wollen Künstler auf diese neuen, oft noch jungfräulichen Regionen der Kreativität hinweisen und sie auffordern, diese doch zu erforschen.

Das Neue am Netz ­ und seine wichtigste Eigenschaft ­ ist, daß es verbindet. Konnektivität macht seine Struktur und seine Mittel aus. Das Netz "verbindet Computer, Leute, Sensoren, Vehikel, Telephone und so ziemlich alles andere in einem globalen Netzwerk, das schnell und billig ist", wie Joichi Ito das ausgedrückt hat, und diese Verbindung ­ Vernetztsein ­ ist der "Kontext". "Das Unterhaltsame und das Wesentliche des [Netzes] liegt darin, wache Geister bei der Arbeit in den verschiedensten komplexen und sinnstiftenden Konfigurationen miteinander in Verbindung zu bringen", schrieb Derrick de Kerkhove im Buch zum Prix Ars Electronica 95. Und diese Konnektivität auszunützen, ein Bewußtsein für sie zu zeigen und all den in diesem Zusammenhang so zahlreichen archivierten und in Echtzeit verfügbaren Informationen einen Sinn abzugewinnen ­ damit sollte sich die Netz-Kunst beschäftigen. Alles Stabile ­ "stabil" im Sinne von fertig, beendet, nicht weiterwachsend ­, ist keine Netzkunst. Wir suchen Orte im Netz, die diese Konnektivität reflektieren, stimulieren, unterstreichen, die davon leben, sie hegen und pflegen. Die das Netz brauchen, um existieren zu können. Wir haben eine kurze Liste von Kriterien zusammengestellt, die wir für unabdingbar halten, um diese kaum greifbare und doch alles durchdringende "Konnektivität" zu definieren:

Grammatik Wie ein Romancier narrative Hilfsmittel benutzt, ein Bildhauer räumliche Arrangements erstellt und ein Regisseur aus den kinematographischen Konventionen schöpft, so arbeiten Leute im Netz daran, eine eigene Grammatik zu entwickeln. Solch eine Grammatik definiert das Grundlayout einer Homepage, ihre Zugänglichkeit und ihre Einbettung. Diese Grammatik kann daraufhin untersucht werden, wie Links eingesetzt werden, wie transparent die Navigationsregeln sind, welche Rahmen und Hintergründe verwendet werden und so fort.
Struktur Alle Medien, die wir vor dem Netz gekannt haben, waren linear, basierten auf der Zeit. Es gibt eine sequentielle Ausrichtung, eine schrittweise Chronologie, bei der jeder Schritt die (unabdingbare) Voraussetzung für den nächsten darstellt und wo der Autor der Kunst aus Gründen der Notwendigkeit eine ­ wie der kanadische Filmemacher David Cronenberg es ausdrückt ­ "gutwillige Diktatur" errichtet. Im Netz ist Linearität kein Thema: Man kann frühere Versionen der Arbeit online halten, man kann den Benutzern eine Vielzahl von Routen anbieten, auf denen sie durch die Story reisen können, man kann Archive einrichten und sie mit der gegenwärtigen Arbeit vermischen. Die Benutzer sollten immer in die Lage versetzt werden, ihre Spuren zurückverfolgen und auf unterschiedliche Weisen durch die Homepages wandern zu können, und keine davon ist "besser" oder bedeutsamer als eine andere.

Öffentliche Dienste und Netz-Bewusstsein Bietet eine Seite, ein Programm oder ein Interface dem Netz einen öffentlichen Dienst an, liefern sie irgendeine Art von für die Gemeinschaft relevanter Information?
Erhöht eine Seite oder ein Interface unser Bewußtsein (oder Gefühl), daß wir Teil eines gigantischen globalen Netzwerks sind? Erkennt sie an, was sonst noch im Netz vor sich geht, und benützt sie das als Schatz, als Scherz, als Metapher, als etwas Ironisches, als etwas, worüber man nachgrübeln oder phantasieren kann?

Kooperation Läßt ein Projekt erkennen, daß es in den Reichtum und die Weite des Netzes eingebunden ist, oder ist es isoliert?
Können verschiedene Leute daran oder damit arbeiten? Gibt es Verknüpfungen nach außen? Wird Material von anderen Orten im Netz eingebunden, kommentiert, mitbenützt? Stimuliert es die Mitarbeit, regt es zu eigenen Beiträgen an? Kann man mit ihm interagieren, oder wird von einem erwartet, daß man bloß ein paar Knöpfe drückt und konsumiert?

Gemeinschaft und Identität Das Netz erlaubt den Menschen, sich auf neuartige Weise zu treffen, über Grenzen jeder Art hinweg: Leute mit dem unterschiedlichsten Hintergrund, die an weit voneinander entfernten Orten leben, können einander begegnen, Gemeinschaften bilden, Welten erschaffen und ein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln. Unterstützt ein Programm, ein Interface oder eine Homepage dieses Gemeinschaftsgefühl?
Erlaubt es Informationsaustausch? Hat diese Gemeinschaft irgendeinen Einfluß auf das (analoge) Leben ihrer Mitwirkenden? Erlaubt sie den Menschen, mehrere (virtuelle) Identitäten anzunehmen? Erlaubt sie den Menschen, zumindest einige der Nachteile zu überwinden, denen sie im analogen Leben ausgesetzt sein könnten ­ Geschlecht, Alter, Hautfarbe, Behinderung, fehlender sozialer Status?

Offenheit Ist das eingesetzte Protokoll oder die verwendete Programmiersprache für andere transparent und offen oder handelt es sich um eine geschützte Software? Können die Mitwirkenden oder Benutzer daran teilhaben oder sie modifizieren? Wir suchen nach Leuten, die mit Memen arbeiten mit Ideen, deren Struktur auf Überleben eingerichtet ist. "Überleben" im Netz bedeutet häufig, kopiert zu werden: Eine Kopie einer Web-Page in den Zwischenspeicher des Browsers laden, Freeware oder Shareware anbieten (d. h. Kopien des eigenen Programms), anderen die Möglichkeit zum Kopieren, Speichern, Ausschneiden und Weiterverwerten von Informationen, Bildern, Programmen oder in anderer Form Anteil an den eigenen destillierten Ideen, an der eigenen Kreativität einräumen. Kopiert zu werden ist im Netz tatsächlich ein Gradmesser für den Erfolg: Je öfter auf die eigene Seite zugegriffen wird, je öfter ein Programm oder Interface von anderen benutzt wird, umso mehr Leute unterstützen die eigenen Meme durch Replikation und umso eingängiger und verbreiteter wird das Mem, umso besser angepaßt ist es an das Medium. Klammert sich der Erzeuger an die Originalform und bewacht er sein memetisches Baby eifersüchtig, oder erlaubt er, daß Mutationen und Variationen stattfinden? Ist er bereit loszulassen und zu beobachten, wohin sich diese spezielle Idee entwickelt? (Interessanterweise haben beim Künstlerforum des vergangenen Jahres alle Preisträger das ausgedrückt, was wir als "Wunsch und Wille, kopiert zu werden" bezeichnet haben.)

Während wir jede eingereichte Homepage und jedes Interface mit den oben angeführten Kriterien verglichen und unsere eigenen Beziehungen zum Netz diskutierten, ist uns aufgefallen, daß Virtuelle Siedlungen (Virtual Homesteads) offenbar immer prominenter werden. Zu unserer Überraschung sind aber kaum solche Siedlungen eingereicht worden ­ wahrscheinlich, so haben wir gefolgert, weil die meisten ihrer Erzeuger und Bewohner diese Siedlungen fälschlicherweise nicht als Netz-Kunst betrachten.

Virtuelle Siedlungen sind kommunale "Welten". Man kann sie durchwandern und die unterschiedlichsten Personen und Objekte treffen (oder sehen bzw. von ihnen lesen). Es gibt Dinge zu tun, zu sehen oder zu lesen, Abenteuer zu genießen. Wer eine solche Welt besucht, wird häufig zum Stammgast und hilft selbst mit, die Welt auf- und auszubauen.

Diese Welten und Siedlungen entwickeln ein Eigenleben: Unvorhersehbare Dinge passieren, die selbst ihre Schöpfer erstaunen, sie entwicklen eine Geschichte, "Geschichten" werden über sie erzählt, "urban legends" tauchen zuhauf auf, und die konzertierte Anstrengung ihrer Bewohner reicht bis in die Zukunft (wofür sonst sollte man bauen, wenn nicht für die Zukunft?). Diese virtuellen Gemeinschaften lassen aber nicht nur diesen bindungsstiftenden Gemeinsinn entstehen, sondern lassen den Menschen auch Raum zum Atmen: Man kann mit Charaktereigenschaften herumspielen, die normalerweise als invariabel und Teil der Kernpersönlichkeit angesehen werden: Geschlecht, Hautfarbe, Alter, soziale Schicht.

Bis vor kurzem waren die Unterschiede zwischen diesen verschiedenen Typen von Welten noch groß, aber das ändert sich gerade. Ebene um Ebene wird hinzugefügt, neue Protokolle und Programme werden entwickelt. IRC (Internet Relay Chat) ist ein textgestütztes Medium, seit der Erfindung von "Palace" verfügen wir aber auch über eine Art graphisches IRC. MUDs und MOOs experimentieren mit graphischen Anhängseln, Active Worlds erlauben dieselben Bau-Eigenschaften wie MUDs und MOOs, aber basieren auf graphischen Grundstrukturen und verwenden den Text nur für die Konversation. Und es gibt mittlerweile einige VRML-Welten, die Bewohner aufnehmen und zu denen man aktiv beitragen kann.

Jede dieser Welten hat ihre Besonderheiten und Vorteile. MUDs und MOOs brauchen keine fetten Computer, weil sie text-orientiert sind: Sie laufen auf so ziemlich jeder Art von Rechner, und die Programme gibt`s umsonst. Einige behaupten, daß die Text-Welten ­ ähnlich wie ein Roman ­ der Phantasie mehr Raum lassen und einem erlauben, sich seine Vorstellung von den Mitbewohnern und seiner Umwelt zu machen. "Palace" und "Active Worlds" wiederum sind geschützte Software und benötigen einen Lizenz-Schlüssel, eigene Server und riesige Speicher. Auf der Haben-Seite liefern diese Welten ihren Bewohnern gemeinsame Bilder ­man kann bauen, was man gerade im Kopf hat, kann es anderen präsentieren und es ihnen zur Verfügung stellen. Außerdem können einige Menschen und Kulturen mit Bildern besser umgehen als mit Texten. Wie also sollte man solch unterschiedliche Interfaces und Programme bewerten, die alle Welten schaffen? Sind Text-Welten und Graphik-Welten zwei verschiedene Ausprägungen desselben Phänomens, oder sollten wir sie eher als zwei verschiedene "Medien" betrachten, wie ja auch Bücher und Fernsehen zwei verschiedene Medien sind?

Das Interessante an diesen Welten ist ihre Dauerhaftigkeit. Die Einwohner tendieren stark dazu, Permanenz zu konstruieren: Sie listen ihre Vergangenheit auf, archivieren sie, sie bauen und erweitern (und was in diesen Welten gebaut wird, kann nicht rückgängig gemacht werden), sie investieren Zeit und Energie, erwerben Fähigkeiten, erstellen neue Ebenen, entwickeln Freundschaften und Zuneigung ­ kurzum, die Bewohner setzen auf ihre Welten.

Wir freuen uns auf mehr offene Protokolle und Plattformen, um Welten wie diese zu erschaffen. Bisher sind MUDs/MOOs, IRC; WebChats, VRML und einige wenige Spiele (Doom, Quake, Diablo) die einzigen offenen Plattformen. Wir hoffen, in Zukunft mehr davon zu sehen, und wir prophezeihen, daß zukünftige Virtuelle Siedlungen Text, VRML, Avatars, Spiele, Klang und Graphik in multimediale Umgebungen einbauen werden. Er scheint, daß die Medien und Technologien, auf denen die Virtuellen Siedlungen aufbauen, sich aufeinander zu entwickeln, während ihre Originale weiter bestehen bleiben. Wenn diese unterschiedlichen Präsentationsmodi verschmelzen, werden die Virtuellen Siedlungen einen tiefgehenden Eindruck hinterlassen. Denn schließlich kam ja auch das World Wide Web erst zustande, als Text und Bilder durch ein offenes Protokoll kombiniert wurden und man sehe sich nur an, was das für Folgen hatte!

Die Preisträger Die Problematik des Sinnenlebens ist ­ kurz ausgedrückt ­ das Anliegen des Gewinners der Goldenen Nica, "sensorium"(www.sensorium.org). Wenn es auch ein wenig unter einem ziemlich nüchternen, ja, geradezu
"fleischlosen" Stil leidet, so versucht es doch, uns das Gefühl zu geben, in Echtzeit mit dem Leben im Netz verknüpft zu sein, gerade wenn es den Fluß der ausgetauschten Packets in Umweltklänge übersetzt. Entscheidend an dem Werk ist, daß es ein wenig von jenem reflektiert, was William Butler Yeats "die Emotion der Vielfalt" genannt hat, ein Gefühl des Erstaunens und Respekts im Moment der Erkenntnis, daß es so viele gleichzeitige Präsenzen im Netz gibt. Mit seinem zwar spröden, aber dennoch effizienten Design legt "sensorium" Zeugnis ab vom vernetzten Leben auf dieser Welt und ist so ein Sinnesorgan dieser Welt selbst. Ein Teil dieser sich entwickelnden Kunst (und Psychologie) wird vom Satelliten inspiriert. Selbst der Name "sensorium" ist als solcher erwähnenswert ­ er trägt die Konnotation "gemeinsamer Sinn" in sich und muß auch deswegen nicht persönlich an einen von uns gebunden sein, obwohl auch das nett sein könnte.

Wir haben auch weiterhin nach Arbeiten mit "Gemeinsinn" oder "Allgemeinnutzen" Ausschau gehalten. Das Netz ist ein sozialer Dienst, es trägt soziale Verantwortung und kann viele kreative Dienstleistungen stimulieren, von denen jedermann profitieren kann. "Make Money Fast" (www.clark.net/pub/rolf/mmf/) entsprach diesem Kriterium perfekt, und dies war auch der Grund, warum die Jury einer Web-Site eine Auszeichnung zuerkannt hat, die auf den ersten Blick überhaupt nicht nach "Kunst" aussieht. Sie scheint auch zu spezialisiert zu sein, denn sie konzentriert sich auf eine eher exotische Variante der Netzkrankheiten. Das ist die eine Seite. Aber "Make Money Fast" ist einzigartig im Netz. Es handelt sich dabei um eine öffentlich zugängliche Plattform, die dem Benutzer erlaubt, die lästigen Kettenbriefe, die manchmal die eigene Mailbox verstopfen, bis zum Ursprung zurückzuverfolgen. Diese Kettenbriefe sind eine Seuche des Web, eine automatisierte, durch das Netzwerk beschleunigte Fehlfunktion der menschlichen Intelligenz. Ein Gegenmittel zu erfinden, das weder brutal ist noch auf der Rechtsstreit-Ebene funktioniert, ist ein Dienst an der Allgemeinheit. Außerdem besitzt "Make Money Fast" eine starke menschliche Dimension, es ist warm und fröhlich.

Der Humor kam auch nicht zu kurz, als wir "TechnoSphere" (www.technosphere.org.uk/) betrachteten, den Gewinner der zweiten Auszeichnung. "TechnoSphere" erlaubt einem, aus einer Vielzahl möglicher Köpfe, Körper und Glieder eine Kreatur zusammenzubasteln, ihr einen Namen zu geben und sie in den digitalen Raum loszulassen. Das Kleintier sieht anfänglich recht hübsch aus, aber dann sieht man es nie wieder. Allerdings kann man regelmäßig einen Bericht über sein Befinden erhalten, wenn man seine ID-Nummer aufruft: Eine Seite zeigt dann seinen Gesundheitszustand an, sein Alter und was es gerade tut. Man kann seinen derzeitigen Aufenthalt herausfinden und seinen Familienstammbaum. Ernsthaftere Ereignisse wie Herzinfarkt, Tod oder auch Schwangerschaft ­ werden über E-Mail angekündigt. Diese halb-zufällige, aber endlos rekursive Aktivität ermöglicht es, das Netz mit zahlreichen neuen Varianten von elektronischen Haus- oder besser gesagt "Netz-Tieren" zu bevölkern. Es ist ein interessantes Konzept, wenn auch vielleicht noch nicht genug aufgemotzt für den alles verschlingenden sensorischen Hunger mancher Web-Freaks.

Die Anerkennungen Hypererzählungen: Das Web ist voll von interessanten Geschichten, die unter geschicktem Einsatz der Technologie erzählt werden. Allerdings sind viele davon linear aufgebaut und lassen den Einsatz der tiefgehenden Ressourcen des Netzes vermissen ­ die sofortige Zugänglichkeit aller Teile in jeder beliebigen Reihenfolge. Andere wiederum sind zu kopflastig ­ es dauert zu lange, die einzelnen Teile zu laden, was den Fluß der narrativen Struktur unterbricht ­ oder aber zu disjunkt, als daß ein Benutzer hinter den Sinn kommen könnte. "Cyberpoetry" hat all diese Fallgruben vermieden und erzählt seine vielen Geschichten mit aufregender Stimme und erstklassigen Wahlmöglichkeiten.

VRML: Eine eigene Kategorie mußte für diese im Web nun zunehmende Technologie geschaffen werden. Früher oder später war wohl jeder von uns in Versuchung, "Ocean Walk" ­dem schönsten und besten VRML-Stück, das die meisten von uns im Web gesehen haben ­ einen Preis zuzuerkennen. Abgehalten hat uns eine von uns aufgestellte Faustregel: Wenn eine Web-Site egal wie schön sie ist ­ ebenso gut und deswegen wesentlich schneller auf einer CD-ROM funktionieren würde (wie in diesem Fall), dann verdient
sie nicht mehr als eine Anerkennung. Dieses VRML-Werk lief bei uns nur auf einer schnellen Silicon-Graphics-Maschine wirklich zufriedenstellend."Container-City" wurde wegen seiner imaginativen und geradezu meisterlichen Verwendung von Gittern und Blökken gewählt. Beide Werke sind selbstverständlich erfreulich interaktiv.

Die CD-ROM-Faustregel gilt auch für dokumentarische Sites wie "Harappa". In diesem Fall aber haben uns die reine Schönheit und Einfachheit der Ausführung, die wunderbaren Farben und das Design überzeugt, die faszinierende und komplexe Informationen viel leichter zugänglich machen, als es eine spezialisierte Bibliothek könnte.

"Virtual Homesteads": Welten sind Online-Gemeinschaften, denen heute über 400.000 Mitglieder angehören (in den richtigen Kreisen auch "Immigranten" genannt), bevölkert von verschiedenen Avatars mit den unterschiedlichsten Fähigkeiten, die von der Live-Sprache und räumlichen Bezügen bis hin zu Bewegungen von Gliedern und Gesicht reichen. Welten wie "Sherwood
Forest"
und "Virtual Roof" liegen in ihrer Geschwindigkeit und Struktur schon fast jenseits des Web, sie residieren auf eigenen Servern und bieten jene Permanenz und Dauer an, die man normalerweise mit der Wirklichkeit assoziiert. Und tatsächlich kann man darin alles auf- und abbauen, was man will, aber das Eigentum eines anderen bleibt vor der eigenen Bauwut geschützt, wie auch die eigenen Schöpfungen vor der Demontage durch andere sicher sind.

Code als Medium: Eine derartige Kategorie wäre uns gar nicht in den Sinn gekommen, gäbe es nicht zwei ausgezeichnete Sites, die das Element des "L'art pour l'art" ins Web einbringen. "Form" ist ein Design, dessen einziger Inhalt Humor ist, "Jodi" hingegen ist äußerst elegant codiert (Versuchen Sie einmal, die Rakete zu finden!). Webcam: Seit wir das erste Mal in Mike's FishTank eingetaucht sind und mit der "Snowball Throwing Machine" Schneeballschlachten veranstaltet haben, hat es genug Experimente mit Webcams gegeben, um eine eigene Kategorie zu rechtfertigen. "Shooting Back"

n1nlf-1.media.mit.edu/shootingback.html schürt die Lust an der Technologie beim Anwender, indem es immer wieder je nach Lust des Künstlers geänderte Blickwinkel und Bedingungen bietet.

Collage/collider: "The Multi-Cultural Recycler" läßt Kulturen im Netz aufeinanderprallen, betreibt Kunst-Recycling und baut aus diesen Kollisionen etwas Neues auf.

Öffentliche Dienstleistung: "Energized Gaming Culture" erhielt eine Anerkennung für diese Gruppe von Sites, weil es eine wunderbar konzipierte, gut recherchierte und passabel interaktive Web-Site ist. Es zeichnet die Entwicklung von digitalen Spielen auf, wobei es deren Auftreten im Netz besonders berücksichtigt, es ist also ein lebendes Archiv. Und die Archivierung der Geschichte von spezifischen Online-Genres ist ohne Zweifel ein wertvoller Dienst an der Netzöffentlichkeit.

Am Ende der zweifellos längsten und möglicherweise schwierigsten Entscheidungsfindung einer Jury im diesjährigen Prix mußten wir feststellen, daß wir nur elf Anerkennungen statt der eigentlich vorgesehenen zwölf hatten. Wir beschlossen, es dabei zu belassen, auch um zu dokumentieren, daß die diesjährige Auswahl uns vielleicht nicht in allem das geboten hat, was wir erwartet hatten. Wir würden uns für die Zukunft wünschen, eindeutig weniger Technologie und "transportierte" Kunst zu sehen und dafür mehr Netz-Kunst.

 
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