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Prix Ars Electronica
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Prix-Jury

 
 
Veranstalter
ORF Oberösterreich

Die Jury des Prix Ars Electronica 92 in den Kategorien Computergraphik (ca. 880 Werke von 350 Künstlern) und Computeranimation (ca. 140 Werke von 114 Künstlern) sah sich vor eine Reihe von Dilemmas gestellt.
Erstens: Trotz der zahlreichen Einsendungen aus 43 Nationen gab es kaum wirklich hervorragende, geschweige denn atemberaubende Einzelwerke. So gab es die erste Entscheidung, sich mehr für Richtungen und Kriterien als für Personen einzusetzen.

Zweitens standen einer großen Zahl industriell (gleichsam taylorisiert) hergestellter Animationen von hohem technischen Standard wenige personallsierte Produktionsformen der Computeranimation gegenüber. Hier wurde versucht, durch klare Entscheidungen für Personen bzw. kleine Teams den Kunstcharakter des Prix zu betonen. Dies führte dazu, daß das beste Beispiel für industriell gefertigte Animation, nämlich "Terminator II" von Industrial Light & Magic, nicht in die Wertung genommen wurde, sondern als optimale Demonstration des state of the art in computererzeugten visuellen Effekten einen Spezialpreis der Jury erhielt. Kein Geldpreis im Bewußtsein,
daß das hochqualifizierte Wissen aller Beteiligten ohne die etlichen Millionen Dollar für Maschinen- und Manpower, die die Industrie zur Verfügung stellen kann, nicht hinreichend gewesen wäre, diese Arbeit hervorzubringen. Insoferne können bestimmte Hochleistungen der Computersimulation im persönlichen Operationsbereich, dem historischen Feld der künstlerischen Kreativität, gar nicht geleistet werden, sondern nur im staatlich ungleich und unmäßig höher subventionierten Bereich der militärischen oder wissenschaftlichen Forschung oder in der Unterhaltungsindustrie wegen der potentiellen Massenverwertung ihrer Produkte und des dadurch zu erwartenden Profites hergestellt werden. Die Verwendung von Computergraphik und -animation in industriellen Gebrauchsfilmen aus Hollywood und für Freizeitparks (wie in "Suboceanic Shuttle") popularisiert daher nicht nur die Computeranimation, sondern führt auch deren Möglichkeiten maximal vor und treibt somit die Computeranimation voran. Insoferne kann die Jury ihre Augen nicht davor verschließen und muß das beste Beispiel dieser Kategorie auszeichnen, allerdings außer Konkurrenz, um dem Namen Ars Electronica, also der künstlerischen Dimension des Preises, gerecht zu werden.

Diese Einstellung hat drittens dazu geführt, von den drei die Einsendung dominierenden Gruppen, nämlich kommerzielle Computercartoons, wissenschaftliche Visualisation und persönliche Computerkunst, nur zwei Gruppen für die Preisträger auszuwählen und die dritte Gruppe, nämlich die Cartoons, in die Auszeichnungen zu verbannen. Dies ist ein Novum in der Geschichte des Prix Ars Electronica, der lange Zeit gerade computerfabrizierte Zeichentrickfilme als Preisträger besonders belohnt hat. Die Jury wollte auch hier Zeichen und Direktiven setzen. Auch wenn weltweit große Firmen ganze Serien von computererzeugten Zeichentrickfilmen, insbesondere für das Fernsehen, herstellen, will die Jury nicht sagen, dies sei die Zukunft der Computeranwendung im bewegten Bild, sie will auch nicht dazu anregen, weiterhin mit dem Computer Cartoons herzustellen. Erstmals wurde aIso ein sehr populärer Zweig der Computeranimation, nämlich der Zeichentrickfilm, von der Preiswürdigkeit ausgeschlossen, um eben die Richtung auf ein computerspezifisches Kunstwerk hin zu verstärken.

Hiermit ist das Grundkriterium benannt, dem die Jury folgte, die Computerspezifität. Wir suchten besonders nach Werken, die wirklich vom Konzept bis zur Technik ausschließlich vom Computer hergestellt werden konnten und daher Bilder von Welten liefern, die vor der Erfindung des Computers nicht herstellbar und im besten Falle nicht einmal vorstellbar waren. Diesen Kriterien genügten klarerweise die Cartoons nicht, denn deren Effekte sind uns schon seit Jahrzehnten aus der großartigen Geschichte des Zeichentrickfilms vertraut. "Not Knot" ("Knoten ohne Knoten"), unter der Regie von Charlie Gunn und Delle Maxwell (University of Minnesota) hergestellt, ist hingegen so ein Beispiel für das Unvorstellbare, das uns der Computer erstmals sichtbar und vorstellbar macht. Erst in zweiter Linie ist es wichtig, daß "Not Knot" ein hervorragendes Beispiel für wissenschaftliche Visualisation abstrakter Theorien ist und daß auch hier die Jury einen Impuls geben möchte, dieser Richtung der Forschung und Anwendung der Computeranimation mehr Aufmerksamkeit zu schenken und Tribut zu zollen.

"Not Knot" entführt uns in den vom Computer zum Leben erweckten hyperbolischen Raum. Wir lernen die Welt der Knoten und der sie umgebenden komplementären Räume kennen. Grundlegende Sätze der jüngeren Mathematik belegen, daß die meisten Knotenkomplemente die Struktur der hyperbolischen Geometrie aufweisen, einer Geometrie, in der die Winkelsumme im Dreieck stets kleiner als 180 Grad ist und in der so viel Platz ist, daß ein halbkugelförmiger Swimmingpool von 25 Metern Durchmesser das 23fache des gewöhnlichen Volumens unseres Erdplaneten enthält.
Das Video zeigt, wie die Geometrie des Knotenkomplexes, d.h. des Raumes um den Knoten herum, in den hyperbolischen Raum übergeht, und dann erleben wir, wie es ist, wenn man durch den hyperbolischen Raum "fliegt". Das Video geht über die euklidische Geometrie aus den Schultagen weit hinaus. Wir sehen einen gekrümmten Raum, wie er manchmal in der modernen Theorie der Entstehung des Weltalls untersucht wird.

Das Video Not Knot paßt aber auch hervorragend zum Thema der diesjährigen Ars Electronica, nämlich "Die Welt von innen - Endophysik und Nanotechnologie". Es zeigt nämlich den Unterschied zwischen dem "Outsider's View", der Sicht des äußeren Beobachters, der, wenn er von außen auf eine Szene schaut, ein unverändertes Bild sieht, und dem Bild der Bewegung, das ein "lnsider", ein innerer Beobachter, sieht. Für den inneren Beobachter eines Kegels bewegen sich Lichtstrahlen in geraden Linien, während der externe Beobachter diese Linien um den Konuspunkt herum gekrümmt sieht.

Auch andere Animationen, z.B. "Liquid Television" von Linda Jones, Xoas, 1991 und "Untitled" (aus Memory Palace", 1992) von Karl Sims, dem Gewinner des Prix Ars Electronica 92, zeigen Aspekte der Welt der inneren Beobachtung, z.B. die perspektivische Verzerrung.
Auch für den Preisträger Karl Sims gelten die schon angeführten Richtlinien der Jury, erstens Computerspezifität und zweitens die Auszeichnung einer Richtung. Karl Sims gewinnt zum zweiten Mal die Goldene Nica des Prix Ars Electronica (1991 zum ersten Mal) vor allem deshalb, weil uns weniger die konkreten Werke selbst als der von ihnen eingeschlagene Weg preiswürdig scheinen. Denn seine Bilder sind nicht nur vom Computer erzeugt, sondern können gar nicht anders als vom Computer hergestellt werden und sind sogar teilweise ohne Computer gar nicht vorstellbar. Auch wenn "Memory Palace" (1992) verblüffende Passagen enthält, schien der Jury insbesondere "Primordial Dance" (1991) wegweisend, weil es eine neue Dimension der Computerkunst eröffnet, wo neue Programm-Typen direkt die Bilder kreieren, sodaß der Prozeß des Programms selbst die Kreation des Werkes ist.

Diese "genetische Kunst", wo das Programm gleichsam die Rolle des Künstlers übernimmt und selbständige Entscheidungen fällt, täuscht eine künstliche Lebendigkeit vor. Aristid Lindenmaver, ein theoretischen Biologe, entwickelte in den 60er Jahren die "L-Systeme" (bzw. "Lindenmayer-Systeme"), mit denen die Entwicklung von Pflanzen in der Sprache der Mathematik beschrieben werden konnte. Mathematische Modelle und Formeln von Wachstumsprozessen lagen auch der Computeranimation von Karl Sims zugrunde. Die Formen, Texturen, Bewegungen innerhalb der Computerbilder unterliegen einer ständigen Entwicklung, die von den mathematischen Wachstumsprozessen der Formeln beeinflußt wird. Die algorithmische Schönheit von Pflanzen und ihrer Wachstumsprozesse wird abstrahiert simuliert. "Primordial Dance" ist ein virtuelles Labor, wo genetische Algorithmen ein ständiges Spiel von Farben und Formen erzeugen. Auch diese Arbeit zeugt eher von Schönheit der wissenschaftlichen Simulation und ist als solche "Not Knot" verwandt.

Ein ähnlicher Abstraktionsgrad und eine vergleichbare Konzeptuallsierung zeichnet übrigens auch die Preisträger der Computergraphik aus. Auch hier haben wir es mit Wissenschaftlerkünstlern zu tun, die ihre eigenen Programme entwickeln, mit denen allein sie ihre Bilder erzeugen können. Die Sichtbarmachung dessen, was ohne den Computer nicht sichtbar bzw. nicht imaginierbar wäre, die gemeinsame Grundlinie der bisherigen Ars Electronica Preistäger 1992, ist auch das Verdienst der weiteren Preisträger.

"Digitaline" (Beriou, 1991) ist eine Art kammermusikalischer Etude bzw. Parodie zu Not Knot" und anderen wissenschaftlichen Visualisationen. Daher auch der leicht ironische Ton der Kapitelüberschriften und Zwischentitel, deren Konzepten die Bilder Folge leisten. Das Wort "Digit" bedeutet im Englischen nicht nur Ziffer, sondern auch Finger. Die Animation nimmt diese Doppelbedeutung wörtlich und behandelt Finger wie Ziffern, digitale Finger eben. Sie zeigt gleichsam die algorithmische Schönheit von Fingern, die sich zu Knoten, zu gekrümmten Linien und anderen perplexen Figuren verformen. Die Finger ziehen und bilden eine digitale Linie. Die absolut realistische, wirklichkeitsgetreue Darstellung der Finger und die real unmögliche, transreale, irreale Verformung der Finger (eben weil sie wie Ziffern, wie Ziffernlinien behandelt werden) erzeugen eine verblüffende Bildwelt, die nur aus dem Computer kommen kann, die aber auch die Funktion des Körpers in der technotransformierten telematischen Welt von heute offenbart.

Die ausgezeichnete Animation über Arp aus der Serie "L'Art en jeu" von Cécile Babiole (1991) spielt ebenfalls im telematischen, schwerelosen Raum und zeigt die Veränderungen, die der Körper dort erfährt. Sehr klar wird herausgearbeitet, wie sehr die Arpsche Ästhetik organischer Formen der Wechselbeziehung von zweidimensionalen Figuren und Zeichen einerseits und dreidimensionalen Körpern und Objekten andererseits verpflichtet ist. Das fast labyrinthische Vexierspiel zwischen 2D und 3D, zwischen Fläche und Raum, durch welche die Körper fallen, nutzt die Möglichkeiten des Computers ideal, um uns in das Wesen einer modernen Ästhetik und ihrer Herkunft, dem Übergang vom zweidimensionalen Darstellungsproblem zum dreidimensionalen, einzuführen. Bedenken, daß die Computerkunst dazu dient, eine andere historische Kunstform zu erklären und sich damit selbst als sekundär deklariert, wurden deswegen vernachlässigt. Auch weil Cécile Babiole sich mit einer anderen Arbeit, "Les Xons" (1991), als kommendes Talent empfahl.

Die Auswahl der Preisträger setzte also neue Schwerpunkte. Bisher erfolgreiche populistische Anwendungen des Computers im visuellen Bereich, wie z.B. Computercartoons, wurden aus den ersten Rängen verdrängt.

Die Jury konzentrierte sich hingegen auf personallsierte Computerexpressionen in einem explizit künstlerischen oder wissenschaftlichen Referenzrahmen und favorisierte Schritte in neue Computerdimensionen. Übrigens gelang es auch, die nationalen Verhältnisse widerzuspiegeln. Wie zu erwarten, ist die Beschäftigung mit Computern in den USA am intensivsten, und offenbar wurde, daß die jenigen Nation, die sich in Europa am meisten um Computertechnologie kümmert, Frankreich ist. So ist zu hoffen, daß die Jury nicht nur ein adäquates Bild des status quo der Computeranimation bzw. -graphik reproduzierte, sondern neue technische, wissenschaftliche und künstlerische Entwicklungen bei der Erzeugung von Bildern, neue konzeptuelle Ideen und neue Ausdruckstechniken durch ihre Entscheidungen aktiv unterstützte.

 
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