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Prix Ars Electronica
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Prix-Jury

 
 
Veranstalter
ORF Oberösterreich

Genießen wir noch immer die Interaktivität?
Machiko Kusahara


Ist die interaktive Kunst noch zu jung? Möglicherweise, denn die Pinsel und die Farben, die wir in diesem Genre der Kunst verwenden, ändern sich noch von Jahr zu Jahr – aber das ist auch ein Teil des Spaßes daran.

Sicherlich ist die technische Entwicklung eng mit dem verknüpft, was Künstler in der interaktiven Kunst realisieren können, wie John Markoff im letztjährigen Jury-Statement unter Bezug auf das Moore’sche Gesetz festgestellt hat. Und tatsächlich ist der CAVE mittlerweile zu einem Standard-Environment für virtuelle Realität geworden. CD-ROM und WWW sind weitere Standardumgebungen für beinahe jeden interaktiven Künstler. Die Geschichte der technischen Verbesserungen und ihre Reflexion in der Kunst lassen sich an der Geschichte dieser noch jungen Kategorie des Prix Ars Electronica ablesen.

Einer der Haupttrends in dieser Kategorie der Jahre 1997 und 1998 war die Entwicklung immer überzeugenderer und umfassenderer virtueller Umgebungen. Mit "Music Plays Images x Images Play Music" schufen Toshio Iwai und Ryuichi Sakamoto 1997 eine Interaktion zwischen Bildern und Musik und damit eine ebenso künstlerische wie unterhaltsame Erfahrung für das Publikum, während gleichzeitig auch eine Interaktion zwischen den Mitwirkenden im Netz und dem berühmten Musiker-Komponisten auf der Bühne stattfand. Dieses Werk eröffnete uns neue Perspektiven einer multimedialen interaktiven Kunst. Paul Garrin und David Rokeby nahmen sich mit "Border Patrol" eines völlig anderen Themas an, aber integrierten ebenfalls Bild und Klang. Der Vorjahressieger "World Skin" von Maurice Benayoun und Jean-Baptiste Barrière war eine kraftvolle virtuelle Erfahrung, entstanden aus der Zusammenarbeit zwischen einem visuellen Künstler und einem Klangkünstler. Die Besucher bewegen sich in einem CAVE zwischen ausgeschnittenen Figuren von Soldaten, Leidtragenden und Kriegsmaschinen – die alle aus Fotos aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Bosnienkrieg stammen – über ein scheinbar endloses Schlachtfeld. Die Geräusche der Kameraverschlüsse verwandeln sich langsam in erschütternde Schreie und in den Klang von Schüssen, wenn die Besucher auf den Auslöser des Fotoapparats drücken. Christian Möllers "Audio Grove" wiederum bot den Besuchern eine friedlichere Erfahrung: Ein mit Stahlrundstäben gefüllter Raum schafft eine sich ständig ändernde Symphonie von Klang, Licht und Schatten, wenn die Besucher diese Pfähle angreifen oder streicheln.

Insgesamt war ein vorherrschendes Element die Realisierung multimedialer bzw. multimodaler Interaktion für User. Die Erweiterung der virtuellen Realität und die Entwicklung von natürlichen, einfach zu bedienenden Interfaces – eine Hauptherausforderung der Technologie – schien dabei auch in der interaktiven Kunst die Rolle des Basso continuo zu übernehmen.

In diesem Jahr war eine Änderung zu beobachten. Es war nicht einfach, eine Auswahl unter über 360 eingereichten Arbeiten zu treffen, aber die stärksten Werke waren dabei nicht jene, die versuchten, ein virtuelles Environment in der Integration von visuellen und klanglichen Erfahrungen mit einem Maximum an Interaktivität zu kombinieren. Und obwohl etliche CAVE-Stücke eingereicht wurden, hat es letztlich doch keines bis zu einem Preis geschafft. Bei den von uns ausgewählten Werken wird die Interaktivität vorwiegend zur Hinterfragung der Beziehung zwischen dem realen Raum (in dem sich die Benutzer befinden) und einem anderen – nicht unbedingt virtuellen – Raum eingesetzt. Diese Beziehung ist nicht linear wie früher, und sie verwendet häufig mehrere Ebenen.

Bei einigen Arbeiten ist der Begriff der Interaktivität selbst das Thema. Auch tauchten in den Titeln der interessanteren Werke häufig Begriffe wie Erinnerung, Spuren, Landschaft, Dispersion auf. Und ein weiteres Phänomen unter den diesjährigen Einreichungen war, daß viele mit kreisförmigen Leinwänden oder Projektionsflächen arbeiteten. Die Idee ist nicht neu – die Laterna magica warf runde Lichtflecken, und häufig wurden auch die zugehörigen Glasdias kreisförmig gestaltet. Erst nach einer gewissen technischen Entwicklung der Lichtquelle wurde eine rechteckige Projektion in voller Wandgröße populär. Das Kino übernahm die rechteckige Bildfläche, ebenso das Fernsehen und die Computerbildschirme. Jetzt scheinen runde Projektionen wieder die Aufmerksamkeit der interaktiven Künstler auf sich zu ziehen.

Was bedeuten diese Phänomene? Werden wir jetzt schon nostalgisch? Es scheint, daß die Künstler die nächste Ebene interaktiver Kunst auszuloten versuchen. Um sie noch interaktiver zu machen? Nicht unbedingt. Die interaktive Technologie muß sich selbst noch gehörig weiterentwickeln, bevor so etwas wie „der ubiquitäre Computer“ oder „das intelligente Heim“ in jedem Haushalt realisiert werden könnten – ganz abgesehen von der Frage, ob wir ein solches Leben überhaupt wollen. Aber die Natur der Kunst (und ihre Rolle unter sozialen wie historischen Aspekten) ist es nicht, technische Verbesserungen zu zeigen. Künstler sehen voraus – und blicken dabei gleichzeitig zurück –,was vor oder hinter dem technischen Anliegen steckt, sie visualisieren die wahre Bedeutung der Technologie. Das war bereits bei World Skin zu erkennen, und es war die bewußte Entscheidung der Künstler, den Realitätsgrad im virtuellen Raum oder in der Interaktion zu beschränken, was dem Werk die Umsetzung seines starken Konzeptes ermöglicht hat. Es hat auch früher schon Künstler gegeben, die solche Aspekte beachtet haben, aber sie waren eine kleine Minderheit, als die technologische Entwicklung noch nicht hinreichend weit gediehen war.

In diesem Jahr hat die Jury für Interaktive Kunst Lynn Hershmans "Difference Engine #3" als Gewinner der Goldenen Nica gekürt. Es ist nicht das spektakulärste Stück, das wir in den letzten Jahren in diesem Bereich gesehen haben, und es ist auch kein leicht zu genießendes. Das Werk verbindet den realen Raum und die virtuelle Welt und erlaubt den Netzbenutzern, mit Hilfe von Avataren virtuell durch den realen Raum zu fliegen und sich mit den Menschen im realen Raum zu unterhalten. Aber es ist dabei keineswegs ein fröhliches „Hallo, siehst du mich?“-Produkt, auch wenn die Besucher die Erfahrung genießen und miteinander in Verbindung treten können. Es artikuliert vielmehr die wachsende Besorgnis über die immer unschärfer werdende Grenzlinie zwischen der realen und der virtuellen Welt und über das – im wahrsten Sinne des Wortes – Leben im Cyberspace.

Heute ist der Cyberspace nicht mehr eine Wunderwelt im Netz. Ernsthafte Fragen des Alltagslebens wie Transaktionen oder Identifikation beginnen, sich aufs Netz zu verlagern. Die Arbeit ist ein gut durchdachtes und stark konzeptionelles Stück, das wichtige Anliegen anspricht, mit denen wir im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen echter und scheinbarer Wirklichkeit konfrontiert sind. Es behandelt Themen wie Voyeurismus, den Begriff des Selbst und des Anderen, das „Leben“ von Avataren und die kodierte Identität im Netz. Es erübrigt sich fast, darauf hinzuweisen, daß Lynn Hershman zu den Pionieren der interaktiven Kunst gehört und sich schon zuvor mit Fragen des Voyeurismus und der virtuellen Identität auf interaktive Weise auseinandergesetzt hat. In ihrem bekannten Werk "Roberta" etwa wurde die Identität der virtuellen Gestalt über ein Sozialsystem definiert (was die Reaktion von Leuten auf von Hershman ausgegebene Informationen mit einschloß. Künstliche Daten der virtuellen Frau wurden verarbeitet und aus ihnen wurde virtuell eine reale Person in der Gesellschaft geschaffen). In "Difference Engine #3" wird die Information über eine reale Person in dem von ihr geschaffenen System verarbeitet und zur Grundlage eines Avatars, der seinen eigenen Lebenszyklus unabhängig von der realen Person lebt und – im Gesicht numeriert – auf ewig im Netz bleibt. Das Stück visualisiert auf elegante Weise die Beziehung zwischen der realen und der virtuellen Welt ebenso wie die Bedeutung von „virtuellem Leben im Netz“.

Die Beziehung zwischen realem und virtuellem Raum hat sich verändert. Spaß an der Erforschung einer virtuellen Umgebung und spontane Interaktion mit ihren Bewohnern zu haben ist nichts Neues mehr. Kreative Multimedia-Umgebungen können jetzt ebenso im Netz gefunden werden – die neuen effizienteren Bild- und Ton-Kompressionstechniken machen es möglich. Es ist vielleicht kein Zufall, daß alle drei Preisträger dieses Jahr bekannte Namen haben, etablierte Künstler sind, die mit individuellen Ansätzen schon länger im Bereich der interaktiven Kunst aktiv sind. (Es ist allerdings schade, daß die meisten der interessanten Arbeiten von bereits anerkannten Künstlern stammen – wir hätten gerne neue Talente entdeckt!) Dies ist allerdings insofern verständlich, als eine längerwährende Beschäftigung mit der Technologie natürlich die damit verbundenen Anliegen und Herausforderungen schneller erkennen läßt. Und der richtige Einsatz der Technologie zur Visualisierung solcher Themen verlangt einiges an Fertigkeiten.

Perry Hoberman wirft solch eine Frage auf und stellt sie in eine Situation, die keine Antwort zuläßt.Er hat uns vor eine chaotische, konfuse Situation gestellt, in der sich drei unterschiedliche Phasen von Realität und Virtualität überschneiden, während sie gleichzeitig auf einem Monitor dargestellt werden. Nur durch die Manipulation der Situation wird erkennbar, was hier manipuliert wird.„Es bleibt dem User überlassen, wie er damit umgehen will“, sagt der Künstler. Wie im Falle Lynn Hershmans reflektiert auch Hobermans Arbeit seine kontinuierliche Annäherung an die Beziehung zwischen Realem und Virtuellem ebenso wie an die Interaktivität. Schon seine ganz frühen Werke, in denen er Stereobilder oder Schatten einsetzte, spiegeln sein Interesse an diesem Thema wider – lange bevor er die virtuelle Realität dafür verwendete. Eine spielerische Ironie und visueller Spaß lassen sich auch in seinen anderen Arbeiten entdecken. Und wenn auch das Stück von einer relativ aufwendigen technischen Ebene ausgeht, unterscheidet sich Hobermans Einsatz der Technik doch wesentlich von einer Demonstration des Machbaren.

Luc Courchesnes "Landscape One" stellt die Frage nach der Regiearbeit in der interaktiven Kunst. Das Stück kann als ein interaktives Kino verstanden werden, in dem vier Leinwände den Besucher auf allen Seiten umschließen. Die Anwender können mit den Menschen (und einem Hund) kommunizieren, die aus verschiedenen Richtungen kommen, indem sie aus einem Set von angebotenen Sätzen auswählen (wie schon in seinen früheren Arbeiten). Aber der Künstler versucht keineswegs, die User in die immersive Erfahrung der virtuellen Welt einzutauchen – das Werk unterscheidet sich wesentlich von der Erforschung einer Phantasiewelt im CAVE. Dem Besucher bleibt bewußt, daß er sich im realen Raum befindet und dennoch mit einer Figur des Films spricht, während er beobachtet, was daraufhin im Raum auf der anderen Seite der Leinwand passiert. Es ist eine beschränkte, vorgegebene Interaktivität, die in der kurzen Geschichte der interaktiven Kunst vielleicht auch schon als „ungenügend interaktiv“ hätte kritisiert werden können. Aber durch diese vorgegebene Interaktivität – es handelt sich hier um eine Art interaktives Kino – werden dennoch Erfahrungen von hoher Qualität im Stück möglich. Das Werk läßt uns über die Rolle der Interaktivität in narrativen Geschichten nachdenken.

Die für die Anerkennungen ausgewählten Werke stellen Beispiele unterschiedlichster Möglichkeiten der interaktiven Kunst oder aber originelle Ansätze zur Verbindung von Kunst, Wissenschaft und Technologie dar. "Robots & Avatars Dealing with Virtual Illusions" von F.A.B.R.I.CATORS ist ein weiteres Beispiel für den Umgang mit der Komplexität der Beziehung zwischen Schein und Wirklichkeit. Avatare in der virtuellen Welt können manipuliert werden, indem physische Roboter in der realen Welt gesteuert werden. Die zunehmenden Membranen der Kommunikation, die wir in unserer Welt sehen, werden auf einzigartige Weise visualisiert.

Im "Haze Express" von Christa Sommerer und Laurent Mignonneau hingegen wird eine Nachtexpreß- Situation in einer Umgebung dargestellt, die einem echten Zug entlehnt ist. Zahlreiche kristallähnliche Objekte schweben am Zugfenster vorbei wie die Lichter der Landschaft in einer nebeligen Nacht. Durch Handbewegungen am Fenster kann man die Geschwindigkeit und die Richtung des Zugs verändern. Eine virtuelle Berührung jener Elemente, die einem gefallen, läßt ähnliche Formen in größerer Zahl vorbeigleiten, weil ein genetischer Algorithmus dies steuert. Aber solche Features sind nicht die Essenz der traumgleichen Erfahrung eines nächtlichen Zugfahrt. Es geht mehr darum, zu den Kindheitserinnerungen zurückzukehren (mir fiel ein Satz von Saint-Exupéry dazu ein).Wenn wir daran denken, daß wir vor nur wenigen Jahren eine Menge von Werken sahen, die sich mit dem Konzept des Künstlichen Lebens in sehr direkter Weise beschäftigten – auch Werke der Künstler von "Haze Express", so ist es interessant zu beobachten, wie künstliches Leben sich mittlerweile fast hinter den Kulissen abspielt.

Auch das ist Teil dessen, was wir dieses Jahr zu sehen bekommen haben: Die Technologie scheint endlich reif genug zu sein, um weniger sichtbar zu werden, um hinter die künstlerischen Fragen und Ausdrucksweisen zurückzutreten. Sicherlich verändert sich die Art und Weise, wie Künstler die interaktive Technologie sehen. Vielleicht werden wir endlich skeptisch gegenüber dem Mythos der ständig voranschreitenden technischen Entwicklung. Oder wir sind zumindest an jenen Punkt gelangt, an dem die interaktive Technologie stabil genug ist, um uns einen Augenblick des Verharrens und einen Blick in die Runde zu gönnen. Was dieses Jahr gebracht hat – stärker konzeptuell orientierte Werke über Interaktivität und Virtualität –, reflektiert wohl auch teilweise die sich verlangsamende technische Entwicklung. Und was werden wir im Jahr 2000 zu sehen bekommen?

 
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