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Prix Ars Electronica
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Prix-Jury

 
 
Veranstalter
ORF Oberösterreich

... Wo sind sie geblieben?

John Markoff


Die .net-Kategorie des Prix Ars Electronica soll einem breiten Querschnitt durch die künstlerischen und kulturellen Internet-Aktivitäten offen stehen – von World Wide Web-Sites zu neuen und innovativen Protokollen, die die Gemeinschaft und die Kommunikation vorantreiben.

In diesem Jahr begann die Sitzung der .net-Jury des Prix Ars Electronica mit einer Diskussion der Kriterien, die uns bei der Betrachtung der Einreichungen als Richtschnur dienen sollten. Die .net-Kategorie kann mittlerweile auf eine fünfjährige Tradition in der Suche nach Werken zurückblicken, die den Zeitgeist von Web- und Netz-Entwicklung darstellen sollen. Das Web ändert sich weiterhin mit rasanter Geschwindigkeit, aber dahinter liegt eine essenzielle Grundeigenschaft, die die Jury als "Web-ness" ("Webgemäßheit") bezeichnete. Aus der Erfahrung vergangener Jahre ergab sich, dass "Webgemäßheit" in der Kombination jener Elemente besteht, die ein Projekt inhärent vernetzt machen. Wenn das Werk in einem anderen Medium genauso effizient dargeboten werden könnte, dann ist es als nur wenig "webgemäß" anzusehen. Und dass Webgemäßheit tatsächlich existiert, zeigen einige prosperierende Communities oder selbstreplizierende Technologien und Modelle, es zeigt sich aber auch in einer distribuierten Autorschaft. In Übereinstimmung mit der Tradition des Prix Ars Electronica wurden rein kommerzielle Websites dieses Jahr außer Betracht gelassen.

Insgesamt war es ein ungewöhnliches Jahr für die Prix Ars Electronica .net-Jury. Enttäuschend war unter anderem der Rückgang der Einreichungen in unserer Kategorie von rund 500 auf 250.

Die Jury verbrachte einige Zeit damit, Gründe für diesen Rückgang zu finden, und obwohl sich mehrere Erklärungen anboten, scheint doch die wahrscheinlichste Ursache das beispiellose Anwachsen der E-Commerce-Aktivitäten im Internet zu sein. Einfach gesagt hat dank der enormen Menge an Risikokapital, die für die Gründung von Internet-Unternehmen zur Verfügung steht, so gut wie jeder, der nur etwas Geschick und Interesse am Netz hatte, seine Zeit eher mit der Verfolgung von kommerziellen als von künstlerischen Zielen verbracht.

Die Originalität des Konzepts war ein wichtiger Faktor bei der Auswahl des Preisträgers. Bei der Betrachtung der heurigen Einreichungen kam die Jury schnell zur Ansicht, dass viele der präsentierten Arbeiten Ableger früherer wohl bekannter Netz-Projekte sind. Und wenn auch viele davon gut designed und stabiler als ihrer Vorläufer waren, kamen wir doch zur Ansicht, dass der Gewinner der Goldenen Nica eine Vision widerspiegeln sollte, die an vorderster Front der Internet-Entwicklung steht.

In früheren Web-Jahren gab es so viele neu- und großartige Ideen, dass es für vorangegangene .net-Jurys oft schwer war, aus der Vielzahl der Kandidaten einen Preisträger auszuwählen. Heuer scheint das kommerzielle Web zu dominieren, und so waren die kreativsten Projekte an den Extremen von Kommerz und Anti-Kommerz zu finden.

Es soll noch festgehalten werden, dass nicht alle Entscheidungen der diesjährigen Jury einstimmig getroffen wurden.


Goldene Nica 2000

Neal Stephenson

In einem Postscriptum zu seinem bahnbrechenden Science-Fiction-Roman "Snow Crash" von 1992 beschreibt der Autor Neal Stephenson, dass er dafür nicht ganz freiwillig die Form eines traditionellen Roman gewählt hatte, doch musste er feststellen, dass die damalige interaktive CD-Technologie noch nicht leistungsfähig genug war, um seine Vision einer neuen Art von Cyber-Universum zu tragen.

Im daraus resultierenden text-basierten Roman bezeichnete er diese computer- und netzwerkgenerierte Welt als "Metaverse". Diese Idee fügte William Gibsons ursprünglicher Ansicht von Cyberspace eine Geografie hinzu, und obwohl Stephenson seinen ursprünglichen Plan eines interaktiven Computerromans aufgegeben hatte, wurden doch viele seiner Leser von dieser Vision inspiriert.

Die Vorstellung, dass dem Cyberspace eine Struktur zu Eigen sei und dass diese mehr sei als nur die Summe der über IP-Adressen verbundenen Maschinen, entspricht durchaus der heutigen Wirklichkeit. VRML ist ein im Web wohletabliertes Protokoll und wird mittlerweile von einem breiten Spektrum dreidimensionaler Navigationsprotokolle ergänzt.

Neal Stephenson ist ein äußerst passender Gewinner der Goldenen Nica 2000 – und nicht nur wegen "Snow Crash". Während viele Autoren zu einer einzigen Vision gelangen und dort stecken bleiben, fährt Stephenson fort, sich selbst neu zu erfinden, eine Abfolge von Technologien und ihren Einfluss auf die Welt zu erforschen.

In "Diamond Age" führt er seine Leser auf eine erschreckende Tour durch die Welt der Nanotechnologie, eine Welt, die die Gültigkeit von Arthur C. Clarkes Diktum "Jede ausreichend fortgeschrittene Technologie ist von Zauberei nicht zu unterscheiden" unterstreicht.

Es ist besonders bemerkenswert, dass Stephenson im vergangenen Jahr Stephenson in seinem Bestseller "Cryptonomicon" die Welt der Science-Fiction wieder verlassen hat. Als fesselnder erster Band einer voraussichtlichen Trilogie spinnt "Cryptonomicon" eine Geschichte, die mit der zentralen Rolle, die die Kryptografie im Zweiten Weltkrieg spielte, beginnt und bis hin zu einem asiatischen Internet-Datenspeicher in einer nicht allzu fernen Zukunft reicht. Der Protagonist des Romans, Randy Waterhouse, ein Programmierer, ist ein Unix-Hacker und der Roman berührt viele der vordringlichsten politischen, sozialen und kulturellen Fragen, die durch das globale Wachstum des Internet aufgeworfen werden.


Auszeichnungen

Exquisite Corpse

Sharon Denning


"Exquisite Corpse" ist ein elegantes Interface für jenes surrealistische Schreibspiel, bei dem eine Person eine Erzählung startet und andere Teile hinzufügen. Es ist ein schön designetes Werkzeug zum Geschichtenerzählen. Das einzigartige Interface macht es leicht, etwas zur nicht-linearen Erzählung beizutragen, und man merkt, dass viel Zeit und Sorgfalt für dessen Entwicklung aufgewandt wurde. Text-basierte Hyperverknüpfungen waren der erste Durchbruch als Alternative zur gedruckten linearen Erzählung. Dieses Interface erforscht die sich dadurch bietenden Möglichkeiten, Geschichten mittels des Webs zu erzählen, und es ist typisch für die Experimente auf der Suche nach einer neuen Generation sozialer Narration.


TeleZone

Das TeleZone –Team: Erich Berger/Volker Christian/Ken Goldberg/Peter Purgathofer


"TeleZone" ist eine telerobotische Installation, die eine Parallele zwischen dem Physischen und dem Virtuellen herstellt. Das Projekt ist auch repräsentativ für den gegenwärtigen technischen Stand der Dinge in Sachen virtuelle Gemeinschaften. In der Nachfolge von Ken Goldbergs und Joseph Santarromanas "Telegarden", der sich mit einer ähnlichen Problematik an der Grenzlinie zwischen der physischen und der virtuellen Welt beschäftigte, ist hier eine richtige virtuelle Gemeinschaft entstanden. Ziel ist es, eine globale Gemeinschaft zu schaffen, zu planen, zu organisieren und weiterzuentwickeln, deren soziale Struktur ausschließlich über das Netz zugänglich ist, die aber dennoch eine physische Präsenz hat.

Die Site ist inhaltlich auf das Thema Stadtplanung/Raumordnung ausgelegt. Mitwirkende können entweder als Besucher oder aktiv an dem gemeinschaftlichen Prozess teilnehmen. Alle Entscheidungen werden von den Teilnehmern selbst getroffen, wobei es auch ihnen überlassen bleibt, wie sie sich organisieren. Online wird das Projekt über ein dreidimensionales VRML-Interface dargestellt, in der realen Welt existiert es als Installation im Ars Electronica Center Linz.

Ein Roboter im Ars Electronica Center bildet die Schnittstelle zwischen Wirklichkeit und Virtualität. Als Avatar für die Benutzer der Gemeinschaft bildet er mit Bausteinen die gemeinschaftlich beschlossenen Strukturen der "TeleZone"-Website ab. Die Handlungen und Entscheidungen der Gemeinschaft werden so in der virtuellen wie in der physischen Welt sichtbar.


Anerkennungen

@2000

Ichiro Aikawa


Die Reaktion der Jury schwankte zwischen "kreativem Einsatz von Fenstern" bis "ergötzlichem Schnickschnack fürs Auge im Spiel mit Frames". Wie dem auch sei - die Kaskaden von Fenstern bewegen sich, formen sich um und bilden neue Kaskaden. Manchmal enthalten sie Bilder und erzählen Geschichten, bisweilen führen sie die Surfer sogar auf eine kurze urbane Reise.


Intruder

Natalie Bookchin


Wo liegt die Grenzlinie zwischen Videospiel und Literatur? Der einzigartige Ansatz von "Intruder" besteht darin, eine Erzählung von Jorge Luis Borges zu lesen und anzuzeigen und sie auf zehn simple Videospiele abzubilden. Es ist nicht klar geworden, ob die Spiele etwas zur Erzählung beitragen, aber das ist jedenfalls eine einzigartige Annäherung an die Form der Geschichte.


Reconnoitre 2.0

Tom Corby / Gavin Baily


Corby und Baily geben selbst zu, dass "Reconnoitre" am besten als "dysfunktionaler Browser" beschrieben werden kann. Das Werk versucht, eine spielerische Leichtigkeit in die Erforschung des Web zu bringen, indem es eine "Reise der Überraschungen" anbietet. Der Grundgedanke ist es, auf fragmentarische, unvollständige und ziellose Weise durch Texte zu wandern. Ihre Versuche, Text mit einem 3D-Browser zu sehen und zu kombinieren, werden als dreidimensionales Array dargestellt, wobei die "Treffer" der Suchfunktion mit Eigenschaften einer surrealen physischen Welt – wie Entropie, Anziehung und Abstoßung – ausgestattet werden.


Discoder

Exonemo [Kensuke Sembo, Yae Aikawa]


Was ist ein "Discoder"? Ein "Discoder" ist nach Ansicht seines Designers ein Gerät, "das HTML-Code und dessen Verhaltenscodes zerstört, ein Widerspruchsprovider fürs Web". Bei diesem Projekt wird mit der HTML-Struktur des Web herumgespielt, oder, wie ein Jurymitglied das ausgedrückt hat: "Ein kleiner cooler Hack. Aus Sicht eines Programmierers kommt dem besondere Bedeutung zu: Als Schöpfer von Codes bemühen wir uns, unsere Produkte klar, gut geformt und leicht leserlich zu machen. Dieser Hack tut das genaue Gegenteil: Er ist ein ganz einfacher (und klarer und gut geformter) Weg, unseren durchaus ordentlichen Code zu verwursten."


Toywar.com

Reinhold Grether


Eine Protest-Website, die gegen den Rechtsstreit um einen Internet-Domain-Namen zwischen etoy.com und eToys.com auftritt. Toywar.com dokumentiert den Einbruch des Aktienpreises von eToys und heftet sich diesen auf seine Fahnen. "toywar.com" beschreibt sich selbst als "Widerstandsspiel", das gestartet wurde, um etoy vor einer feindlichen Übernahme zu schützen. Nach Angabe von "toywar.com" wirft der Spielzeughändler in seiner Klage etoy unlauteren Wettbewerb, Verstöße gegen den Schutz des Markennamens, Sicherheitsbetrug, illegale Börsenaktivitäten, Pornografie, Beleidigung und sogar terroristische Aktivitäten vor. Seit dem Beginn der Widerstandskampagne ist die Aktie von eToys Inc. von 67 USD auf 15 USD gefallen – ein Verlust von 4,5 Milliarden Dollar. "toywar.com" nennt dies die teuerste Performance in der Kunstgeschichte: Viereinhalb Milliarden verlorenes Kapital.


Silk Road

Jie Geng


"Silk Road" basiert auf den Erfahrungen, die die Künstlerin vor einem Jahrzehnt als Studentin an der Kunstakademie in China machte. Damals wurde jeder Student angehalten, die Grotten der Seidenstraße in Dunhuang zu besuchen und zu studieren. Auf dieser Site versucht die Autorin, die Legende von der Seidenstraße für die Welt des Internets aufzubereiten. Die Site verwendet mehrere Navigationsinterfaces, um durch Objekte und Orte zu reisen, und bietet auch eine Dokumentation an, die hilft, den Eindruck einer Reise entlang der Seidenstraße zu vermitteln.


Sinnzeug

Stephan Huber / Zelko Wiener


"Sinnzeug" verwendet Flash als Instrument für eine dynamische Suchmaschine, die mit der Idee der räumlichen Organisation von Information spielt. Punkte tauchen auf dem Bildschirm auf und stehen für Websites. Nach einem Doppelklick ins Fenster kann ein Suchbegriff eingegeben oder aus einem Menü ausgewählt werden. Jene Punkte, die sich vom Suchbegriff "angesprochen fühlen", werden von ihm angezogen und geben visuelle Hinweise auf ihre Relevanz.


Zeitgenossen Binary Art Site

Ursula Hentschläger / Zelko Wiener


Diese war eine von vielen heuer in der .net-Kategorie eingereichten Sites, die sich mit Macromedias Flash als künstlerischem Werkzeug beschäftigen. "Zeitgenossen" arbeitet am Zusammenfluss von Klang, Text, Farbe, künstlerischen Formen und Bewegung.


Grasping At Bits

Patrick Lichty


Als Hyper-Essay des Künstlers Patrick Lichty verwendet "Grasping At Bits" thebrain.com als Navigationswerkzeug. Lichty beschäftigt sich mit der Frage, welchen Einfluss und welche Kontrolle Unternehmen über geistiges Eigentum haben. Er spekuliert auch über die Konsequenzen, die aus der Durchdringung von Ästhetischem und Materiellem im Internetzeitalter folgen werden.


Electrica

Peter Mühlfriedel / Gundula Markeffsky


Diese interaktive Website verwendet die Terminologie altmodischer elektronische Geräte als Interface zur modernen Komposition von Musik, was einen netten Kontrast darstellt. "Electrica" ist ein fast süchtig machendes Set von Techno-Instrumenten, ein Online-Spielzeug in wunderschönem Design zur Schaffung von Techno-Mixes. Seine experimentellen Interfaces faszinieren und machen Spaß.


Network Communications Kaleidoscope

Kazushi Mukaiyama


"Network Communications Kaleidoscope" ist ein über Internet zugänglicher virtueller Raum. Benutzer gelangen als "Partikel" in diesen Raum und können dort mit anderen sprechen und interagieren. Auch nachdem sich der Benutzer ausgeloggt hat, verbleibt sein Partikel im Raum und interagiert individuell mit den anderen verwaisten Partikeln, wobei er das Gesamtverhalten aller jemals eingeloggter Benutzer widerspiegelt. Aus dieser Untersuchung des Kommunikationsverhaltens entsteht eine Art "Kaleidoskop von Fliegenschwärmen". Die Jury fand sein elegantes und einfaches Design anerkennenswert.


0100101110101101.ORG

Kunst oder konzeptueller Streich? Auseinandersetzungen um geistiges Eigentum beschränken sich nicht auf Napster, MP3-Musik oder die Welt des Videos. Was bedeutet Autorschaft, wenn alles auf der ganzen Welt mit einem Tastendruck kopierbar ist? Die Frage nach dem geistigen Eigentum steht (spätestens) seit der Französischen Revolution im Raum, als die Revolutionäre die individuelle Autorschaft für abgesetzt erklärten. Die Jury war der Ansicht, dass die Website von 0100101110101101.ORG in Stil und Ausführung auch "jodi" Tribut zollt, einer anderen Gruppe von Anarchisten/Künstlern. Sie hinterfragt den Wert des "Originals" in digitalen Medien und stellt das gesamte Copyright-Konzept in Frage.


 
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