GOLDENE NICA
Ryan
Chris Landreth
„Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind. Wir sehen die Dinge, wie wir sind.“ — Anaïs Nin
Ein Gentleman-Sandler. Einer der Pioniere der kanadischen Animation. Für den Oscar nominiert. Armer Bettler. Ein Künstler, unfähig des Schöpferischen. Gott, der die Welt beobachtet. Gefallener Engel. Arrogant. Scheu. Gebrochen. Nicht zerstört.
Ryan ist ein 14-minütiger Animationsfilm, der die unglaubliche, aber wahre Lebensgeschichte von Ryan Larkin erzählt, einem kanadischen Animator, der vor 35 Jahren am National Film Board of Canada einige der einflussreichsten animierten Filme seiner Zeit produzierte. Heute lebt Ryan von der Wohlfahrt und schnorrt ein wenig Kleingeld in der Innenstadt von Montreal zusammen. Wie konnte solch ein künstlerisches Genie so weit sinken? Ryan wirft ein dramatisches Licht auf diese Frage.
Ryan demonstriert eine leistungsfähige neue Anwendung der 3D-Computeranimation — als Werkzeug zur Schaffung eines „animierten Dokumentarfilms“. Man hört die Stimme von Ryan Larkin im Gespräch mit mir. Man hört die Stimmen von prominenten Animatoren und Menschen aus Ryans Leben. In der Welt von Ryan aber sprechen diese Stimmen aus seltsamen, verdrehten, gebrochenen und teilweise körperlosen Gestalten, Menschen mit einem Erscheinungsbild, das bizarr, komisch oder beunruhigend wirkt. Ein Erscheinungsbild, das meine Interpretation ihrer Persönlichkeit, ihrer Psychologie, ihrer Seele widerspiegelt. Und gleichzeitig auch meine eigenen Persönlichkeit und Seele. Um Anaïs Nin zu paraphrasieren: Ich verwende die 3D-Computeranimation, um „die Dinge zu sehen, wie ich bin“.
Im Verlauf der letzten 20 Jahre hat die computergenerierte Bildwelt (CGI genannt) den heiligen Gral namens „Fotorealismus“ angestrebt und auch erreicht. Praktisch jeder abendfüllende Film mit ausreichendem Budget bedient sich der CGI, um eindrucksvolle Explosionen zu inszenieren, Welten mit Außerirdischen zu bevölkern und virtuelle menschliche Schauspieler auftreten zu lassen … Und trotz — oder genau wegen — all dieser verschiedenen Einsatzmöglichkeiten wird CGI weithin als steriles, unpersönliches, grobes, ja, geradezu bedrohliches Medium angesehen. Warum? Ein Teil der Antwort, so glaube ich, liegt darin, dass es in der Charakteranimation noch eine andere Art von „Realismus“ gibt, der längst noch nicht genug erforscht ist: den metaphorischen Realismus der menschlichen Gedanken, Emotionen und psychologischen Nuancen. Können die weit entwickelten Werkzeuge der Computeranimation dazu verwendet werden, diese Art von Realismus zu zeigen? Ich glaube, dass die Computeranimation ein enormes unerforschtes Potenzial aufweist, uns zu bewegen und herauszufordern — gerade indem sie diese Seite der menschlichen Erfahrung zeigt.
In meinen Animationsarbeiten (insbesondere the end und Bingo) verwende ich seit jeher und noch immer den Fotorealismus, aber was mich interessiert, ist nicht, computergrafischen Fotorealismus zu erzielen, sondern fotorealistische Elemente für einen anderen Zweck einzusetzen, nämlich den Realismus jener unglaublich komplexen, unordentlichen, chaotischen, manchmal primitiven und immer konfliktbeladenen Eigenschaft darzustellen, die wir „menschliche Natur“ nennen. In meinen jüngsten Vorträgen zu diesem Thema habe ich diese Form „Psychorealismus“ genannt.
Eine faszinierende Entwicklung des letzten Jahrzehnts war das Auftauchen von Animationen, die sich um nicht-fiktive menschliche Gestalten drehen. Der wohl bekannteste davon ist Nick Parks mit dem Oscar ausgezeichneter Kurzfilm Creature Comforts (1990), in dem Park die Gespräche alltäglicher Menschen über ihr alltägliches Leben aufzeichnete und diese Dialoge dann Zootieren unterlegte, die er aus Knetmasse formte und animierte. Andere neuere Beispiele von „animierten Dokumentarfilmen“ sind Repetition / Compulsion von Ellie Lee, basierend auf Interviews mit geprügelten Frauen aus New York; Drawn From Memory von Paul Fierlinger, bei dem die persönlichen Erinnerungen von Leuten in 3-minütigen Vignetten animiert wurden; und Snack and Drink von Bob Sabiston, der sich bemüht, die Welt durch die Augen und Ohren eines in Austin/Texas lebenden autistischen Jugendlichen zu zeigen (Sabiston hat später mit Richard Linklater im abendfüllenden Film Waking Life zusammengearbeitet). In jedem dieser drei Beispiele verwendet der Filmemacher animierte Bildwelten, um die Realität dessen, was von echten Menschen und nicht von fiktiven Gestalten gesagt wurde, zu unterstreichen, zu akzentuieren oder zu übertreiben. In jedem dieser drei Beispiele findet sich ein starkes Element des „Psychorealismus“: Der Dialog ist auf berührende Weise authentisch, er folgt keinem Drehbuch — man hört all das gewöhnliche Stottern, Pausieren, Zögern, wie es eben vorkommt, wenn Leute sprechen und gleichzeitig nachdenken, und das so gut wie unmöglich zu „inszenieren“ oder in den Text „einzubauen“ ist. Das Ergebnis, etwa bei Creature Comforts, ist eine Geschichte, die dem gesprochenen Dialog treu bleibt, aber dennoch kraftvoll allegorisch wirkt, indem sie den Realismus der ursprünglichen Geschichte ergänzt, filtert oder destilliert, und zwar auf eine Weise, wie dies der gewöhnliche, live mitgeschnittene Dokumentarfilm niemals könnte.
Der Film Ryan hebt diesen „animierten Dokumentarfilm“ auf eine neue Ebene. Anders als die oben erwähnten Beispiele wurde Ryan mit 3D-Computergrafik geschaffen. Wie bei Bingo und the end biete ich eine visuellen Annäherung, die zwar detaillierte fotorealistische Elemente aufweist, aber ebenso intensive nicht-realistische Interpretationen wiedergibt. Es liegt in meiner Absicht, diese Elemente zu verwenden um die wahre Geschichte zu erzählen, nämlich jene von Ryan Larkin — eine Geschichte, die aufwühlend ist, zum Verzweifeln, tragisch - und letztlich doch erlösend.
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