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Prix2006
Prix 1987 - 2007

 
 
Veranstalter:
Ars Electronica Linz & ORF Oberösterreich
 


GOLDENE NICA
L’île re-sonante
Eliane Radigue, shiin


Wenn minimalistische Musik auf lang gehaltenen Noten basiert und ebenso klar konzipiert wie inspiriert ist, dann ist eine ihrer Eigenschaften, dass sie den Hörer in einen anderen Seinszustand eintauchen kann, in eine Art Wachtraum, in dem man paradoxerweise viel feiner hört und die kleinsten und subtilsten Nuancen wahrnimmt.

Für L’Ile ré-sonante hat Eliane Radigue ihre Inspiration aus einem Bild empfangen: Eine Insel in einem See, in dessen Wasser sich ihr Gesicht spiegelt. Das ist gleichzeitig ein „reales“ Bild und eine optische Illusion. Die Klänge beziehen sich auf die Tiefen – das Wasser des Sees – und die Höhen – die Insel, die sich darüber erhebt. Die Komponistin unterstreicht die Transparenz, aus der dieses Werk im Wesentlichen entstand, und liefert uns gleichzeitig eine weitere Inspirationsquelle: jenen besonderen Moment in der klassischen Musik, in der das Ohr die vorhergehenden Noten nicht mehr hört, aber auch noch nicht jene, die erst folgen werden. Dieser vergängliche Sekundenbruchteil, der in einem „Noch nicht“ angesiedelt ist, wird hier erheblich verlängert. Aber nichts – keine Erklärung, keine Bedeutung – wird dem Hörer aufgedrängt, im Gegenteil: Alles fordert ihn auf, der Resonanz seiner eigenen Innenwelt zu lauschen.

Ein Klang wird aus der Stille geboren und schwillt langsam aus dem tiefen Bass an, während ein wenig später die Höhen auftauchen und ihren Part in einer ganzen Palette von Oszillationen spielen. In einem schimmernden Klang öffnet sich dieser hohe Ton, der zu leben und sich zu kräuseln scheint, in anschwellenden Bewegungen. Der Schlüssel zum Geheimnis dieses elektronischen Klangs, der im wahrsten Sinne des Wortes zum Leben erweckt wird, liegt darin, dass nach und nach immer weitere Frequenzen dem ursprünglichen Ton hinzugefügt werden, was dem Hauch einer Klangfarbe langsam Form verleiht – bis man plötzlich den Eindruck hat, ganz weit in der Ferne eine Art Wiegenlied zu hören, eine menschliche Melodie, die sich von einem Klanggipfel zum nächsten verschiebt …

Sobald die anschwellenden Klänge wieder abgeflaut sind, wird die Ahnung einer Singstimme, wahrscheinlich einer Frauenstimme, immer deutlicher. Die Überlagerung der Bassfrequenzen führt dann zu den Klängen einer Kirchenorgel. Die aus einem verschlungenen Knoten von Zyklen aufgebaute Klangmasse bewegt sich unaufhaltsam voran, bis (ist das real oder nur eine Illusion?) das Tempo langsam Fahrt aufzunehmen und die menschliche Stimme wieder aufzutauchen und sich in einer wechselseitigen Umschlingung durchscheinender Echos selbst zu antworten scheint. Die schnellen wie die langsamen Effekte sind allerdings bei dieser Art von Musik von gehaltenen Noten nur etwas Relatives, denn sie verbinden sich mit der Unbeweglichkeit in einem täuschenden Spiel der interagierenden Klangwellen.

Es folgen lange hypnotische Abschnitte großer meditativer Stille, mit ständig rollendem Bass und sprühenden Höhen, die manchmal von einem mysteriösen Halo aus Klang umgeben sind, während das Anschwellen langsam in ein Wiegenlied verklingt. (Daniel Caux)