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Prix2007
Prix 1987 - 2007

 
 
Veranstalter:
Ars Electronica Linz & ORF Oberösterreich
 


AUSZEICHNUNG
Cloaca
Wim Delvoye


Wim Delvoyes Werk war von allem Anfang an durch die Infragestellung von Geschmackskonventionen gekennzeichnet. Sein Spiel mit dem Gegensatz von „high“ und „low“, zeitgenössischer Kunst und Populärkultur macht die Werke zu Hybriden, die sowohl plebeische als auch aristokratische Züge aufweisen: Sie sind kunstfertig und konzeptuell, dekorativ und funktional. Delvoye selbst nennt sie „glokal“: Sie sind von lokalen Traditionen inspiriert, aber zugleich universell verständlich. Etwa wenn Mischmaschinen mit Ornamenten aus unterschiedlichsten Kunstströmungen und Kulturen verziert werden, zugleich aber als Mischmaschinen erkennbar bleiben.

Ein Durchbruch gelang Delvoye mit seinen tätowierten Schweinen. Bereits 1995 ließ Delvoye Tattoos in Schweinehäute stechen und sie dann gerben. Mit der Wahl dieses extrem plebeischen Tiers steigert Delvoye nicht nur die Spannung zwischen „high“ und „low“ – zwischen dem, was das Tier ist (innen), und dem, wozu es durch den Eingriff des Menschen wird: Kunst (außen) –, sondern legt auch das Spannungsfeld zwischen Kunst und Konsum frei. Das Schwein/Kunstwerk als Konsum-artikel verweist überdies auf einen ökonomischen Aspekt: Mit dem Wachstum des Schweins wächst auch das Kunstwerk, womit sich Delvoye implizit über die Kunst als Spekulationsobjekt lustig macht.

Cloaca

Dieser proletarisch-demokratische Aspekt darf bei Cloaca, der funktional-kinetischen Installation, die Delvoye seit Mitte der 1990er Jahre zu entwickeln versucht, nicht übersehen werden. Zweck der Maschine ist, das menschliche Verdauungssystem nachzubilden, ohne auf menschliche Züge zurückzugreifen. Die Funktionen der verschiedenen Verdauungsstufen (Mund – Magen – Bauchspeicheldrüse – Darm – Anus) werden mithilfe verschiedener Behälter mit ihrer je spezifischen chemischen Zusammensetzung (ihren Enzymen) quasi kopiert. Die Maschine bedarf ständiger Betreuung, als handelte es sich dabei um ein Lebewesen.Cloaca kann folglich als Cyborg gesehen werden, als Mensch-Maschine-Hybrid, der die fundamentale biologische conditio Humana symbolisiert: fressen und gefressen werden. Mit seiner Fertigungsanlage aus rostfreiem Stahl, seinen Glasbehältern mit – ständig auf Körpertemperatur gehaltener – Nahrung in verschiedenen Verdauungsstadien, seinen peristaltischen Pumpen, die das Gebräu über Silikongedärme weiterbefördern, und seinen die Software der Maschine steuernden elektrischen Drähten Ist Cloaca so etwas wie ein Labor – ein Labor, in dem Natur simuliert und Leben geschaffen wird: Die Maschine nimmt göttliche Eigenschaften an, ihre Fütterung ist ein Opfer, sie selbst ein Altar.

Cloaca ist purer Materialismus und Konsumismus; die Arbeit verkörpert als Kunstobjekt den Kapitalismus in Reinkultur. Sie ist ein Sinnbild für die heutige Macht der Konzerne; das Logo wird zu einem zeitgenössischen Wappen. Andererseits verpflichtet uns Cloaca zu nichts: Die Maschine hat kein Ziel, kein Geschlecht, keine Meinung; Cloaca ist eine posthumane Ikone, eine Skulptur, auf die jeder seine Ansichten projizieren kann, „the Medium is the Message“.

Cloaca – New and Improved / Cloaca – Turbo

Mit der neuen Version Cloaca – New and Improved (2001) trieb Wim Delvoye die Verbindung von Kunst und Technologie weiter. Diese Version passt sich der industriellen Automatisierung an: Der Laborcharakter macht einer stromlinienförmigeren, cleaneren Fertigungsstraße Platz, die Software ist voll automatisiert und ein Modem ermöglicht die Fernsteuerung der Maschine.

Eine dritte Entwicklungsstufe ist Cloaca – Turbo (2003), die die Produktionskapazität substanziell steigert. Der Turbo besitzt keine separaten Behälter für die einzelnen Stufen des Verdauungsprozesses mehr, sondern vereint diese zum kontinuierlichen Strom dreier die Nahrung weiter befördernder Industriewaschmaschinen.

Weitere Versionen sind Cloaca Quattro & Cloaca 5. Analog zur Evolution des Menschen hat sich Cloaca aufgerichtet. Diese Versionen nutzen die Schwerkraft nicht nur technisch für den Verdauungsvorgang, sondern kehren auch sonst wieder auf festen Boden zurück: Die Nahrung wird nicht mehr geopfert (über eine Leiter zum Göttlichen aufsteigend), sondern wird einfach vom Grundniveau aus zugeführt, was die Industrialisierung an Säkularisierung und Konsumismus koppelt.

Cloaca Ltd.

Als Industriemetapher hat Cloaca klarerweise wirtschaftliche Implikationen. Eine limitierte Anzahl von 100 für gut befundenen Ausscheidungen von den ersten fünf Ausstellungen der ersten beiden Maschinen wurden aufbewahrt, datiert und als Sachleistung in Cloaca Ltd. eingebracht. Sie wurden mit Gammastrahlen behandelt (um alle Bakterien zu zerstören), getrocknet und vakuumverpackt, sodann luftdicht und unter Druck in eine Plexiglasbox eingeschweißt (versehen mit Orts- und Datumsangabe, Produktionszeit und Delvoyes Signatur). Bis Ende März 2003 wurden diese Editionen im Internet über die Cloaca Website http://www.cloaca.be zum Kauf angeboten. Durch die Verbindung des Projekts mit dem kapitalistischen System und die Aufstellung der Maschine als echte Fertigungsstraße einer Metapher für den Kunstmarkt vollzieht Delvoye auch die künstlerische Logik nach, derzufolge jeder Künstler seine Welt und Methode zu einem persönlichen, „idiosynkratischen“ und originellen Produkt formen muss. Cloaca Ltd. ist die logische Konsequenz des künstlerischen Werdegangs: von der Schöpfung zur Spekulation. (Gianni Degryse)