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Prix2007
Prix 1987 - 2007

 
 
Veranstalter:
Ars Electronica Linz & ORF Oberösterreich
 


MEDIA.ART.RESEARCH AWARD
Exe.cut[up]able statements – Poetische Kalküle und Phantasmen
Florian Cramer


Exe.cut[up]able statements - Poetische Kalküle und +Phantasmen des selbstausführenden Texts ist ein 350-seitiges Buch über Kalkülschriften und algorithmische Codes in Literatur und anderen Künsten: in spekulativer, phantastischer und experimenteller Dichtung, Konzeptund Computerkunst von Sprachmagie, Kabbalistik, frühneuzeitlicher Permutationsdichtung bis zu aleatorischen Montageverfahren in den Avantgarden des 20. Jahrhunderts, Oulipo, stochastischen und rekursiven Texten, Hacker-Slang, net.art und Codeworks.

Das Buch rundet ein gutes Jahrzehnt kritisch teilnehmender Beobachtung von Netz- und Computerkünsten ab und reflektiert nicht zuletzt Debatten und Begegnungen mit Künstlern, Theoretikern und Aktivisten auf Mailinglisten, Konferenzen und Festivals – einschließlich der Ars Electronica, auf der der Autor 2003 ebenfalls unter der Überschrift der „exe.cut[up]able statements“ über die Poetik von Kommandozeilen referierte. Der Titel ist einem Codework der australischen Netzkünstlerin mez (Mary Anne Breeze) und ihrer netzpoetischen, mensch-maschinischen Schachtelwortsprache „mezangelle“ entnommen. Er bezeichnet Ausdrücke, die sowohl technisch ausführbarer Programmcode sind als auch – im Sinne von Brion Gysin und William S. Burroughs – Cut-ups, ekstatisch-halluzinogene Textmontagen. Damit sind die beiden Pole benannt, die sich in algorithmischen Poetiken spekulativ kurzschließen und von der Arbeit nachgezeichnet werden: Kalkül und Phantastik, Technizismus und Okkultismus, Formalismus und Anarchismus, Ingenieurwesen und Exzess, Kunst und Antikunst.

Beispielhaft zeigt sich dies an den künstlerischen und philosophischen Überhöhungen einfacher kombinatorischer Vertauschungen von Wörtern. Kabbalistisch werden sie als Weltschöpfungsweise begriffen, dann satirisch parodiert, prosaisch reflektiert, als Nonsense und Sinnzerstörungstechnik neu entdeckt, zur Technik rationalisiert und wiederum okkultistisch gedeutet. Nicht nur zwischen den Jahrhunderten, sondern oft auch innerhalb ein und derselben Kunstepoche gibt es solche Gegensätze der Einbildungskraft. Nicht selten sind die Imaginationen komplexer als die algorithmisch generierten Erzeugnisse, zum Beispiel wenn unabhängig voneinander der Barockdichter Quirinus Kuhlmann und Jorge Luis Borges über Kalküle spekulieren, die sämtliche existierenden und künftigen Bücher hervorbringen. Nicht nur in der „mezangelle“ schreibt sich so eine phantastische Literatur, die – anders als konventionelle Science-Fiction – ihre Phantasmen nicht bloß schildert, sondern auch in und an ihren Zeichen vollzieht. Sie liest nicht nur Bedeutung in scheinbar unsemantischen Codes, sondern sie spricht auch in ihnen.

Zwei ausführliche Textlektüren, die ein knappes Drittel des Buchs ausmachen, zeichnen nach, wie solche Codes nicht nur in zwielichtigen E-Mail-Attachments, sondern auch in Literatur und Kunst viral werden und Sprache und Diskurs anstecken: Kuhlmanns permutatives Sonett Vom Wechsel menschlicher Sachen (1671) und mez' Codework Viro.Logic Condition 1.1 (2001) infizieren ihre Schrift mit Algorithmik und ihre Leser mit der semiotischen Paranoia einer Schrift, in der „wi in einem Klumpen / die Samkörnchen der Schluss Red=Sitten=Weiß=Rechen=Erdmessungs=thon=Stern=Artznei=Natur=Recht=Schrift=weißheit verborgen / und wirst du imehr antreffen / imehr du suchest“, um per „N.pu.t][rojan.logic][ strains [or physical N.put“ zum künstlerischen buffer overflow und zur semiotischen Schutzverletzung zu werden.

Dabei gibt – entgegen aller Theorien eines „medialen a priori“ – nicht reale Technologie dieser Literatur ihre Einbildungskraft vor, sondern ist die Imagination der Technik oft phantasmagorisch voraus. Dennoch sind Kalküle in ihr nicht bloß metaphorisch. In den Dichtungen, die in der Arbeit untersucht werden, sind Kalküle nicht vom Text getrennt, sondern Teil der poetischen Sprache; nicht nur Beschriebenes, sondern auch Material. So, wie die visuelle Poesie die graphischbildkünstlerische Dimension aller Sprache und Literatur herausstellt und die Lautdichtung ihre musikalische, extrapolieren sprachkombinatorische und algorithmische Dichtung die Kalküle der Schrift. Spätestens seit in der Antike Götter- und Herrschernamen numerologisch in andere Wörter umcodiert wurden, gibt es computationelle Literatur. Dieses Buch versucht, diese Literatur insgesamt zu beschreiben – über Einzelformen wie frühneuzeitliche Spielpoesie, aleatorische Dichtung und Computerkünste hinaus und jenseits historisch und ästhetisch spezialisierter Literatur- und Kunstgeschichten. Wenn Literatur eine Cross-over-Kunst nicht nur semantischer, phonetischer und graphetischer Erzählungen, Lauten und Schriften ist, sondern auch zähl und ausführbare Kalkülzeichen einschließt, erlaubt dies unter anderem philologische Vergleiche von Sades Pornographie, Novalis' Aphoristik, Italo Calvinos späten Romanen, John Cages Zufallskompositionen, Alvin Luciers Tonbandmusik und netzkünstlerischen Codeworks.

So unterscheidet das Buch nicht zwischen Literatur, bildender Kunst und Musik, wenn Fluxus- und Concept Art-Partituren als algorithmische Poesie lesbar werden, wenn Netz- und Softwarekünstler wie jodi, Graham Harwood, jaromil und Adrian Ward neben Georges Perec und Hans-Magnus Enzensberger stehen und True-Crime-Bücher neben Semiotik und Hugo Balls Lautdichtung neben Monologen aus Jess-Franco-Kannibalenfilmen. Seine Anfangskapitel untersuchen Prototypen der Sprachalgorithmik in Magie und pythagoräischem Denken, ihre Synthese in jüdischer und christlicher Kabbalistik sowie lullistischer ars combinatoria und frühneuzeitlicher Permutationsdichtung. Die zweite Hälfte der Arbeit fokussiert die Künste des 20. und 21. Jahrhunderts, mit romantischen Kalkülen als Vorläufern.

Jedoch werden weniger Epochen als Verfahren unterschieden: Algorithmische Totalkunst von Sade über Mallarmé bis La Monte Young, strukturale Sprachkombinatorik von Saussure bis Duchamp, stochastische Poetiken von Shannon über Benses Informationsästhetik bis zur „travesty“-Software, Algorithmik in ihrer Dialektik von Chaos und Restriktion von John Cage zum psychogeographischen Computer von socialfiction.org, Rekursion in Gorgias' Rhetorik, postmoderner Fiktion und dem GNU-Akronym, Algorithmik als ästhetische Denkfigur in Programmiersprachenlyrik von Oulipo bis net.art, Poesie- und Kunstautomaten in ihrem Scheitern an falschen Versprechen künstlicher Intelligenz. Das Schlusskapitel hinterfragt Konzepte, die bislang den Diskurs über computationelle Kunst geprägt haben, und bezweifelt, dass Begriffe wie „Medium“ bzw. „Medien“ sinnvoll sind und sich halten lassen.

Exe.cut[up]able statements – Poetische Kalküle und Phantasmen des selbstausführenden Texts wurde 2006 als Doktorarbeit im Fach Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin angenommen und ist noch nicht im Buchdruck erschienen. Das Buch basiert in Teilen auf dem Essay Words Made Flesh: Code, Culture, Imagination, der 2005 vom Piet Zwart Institute Rotterdam elektronisch publiziert wurde (http://pzwart.wdka.hro.nl/mdr/research/fcramer/wordsmadeflesh/), ist jedoch ein erheblich ausführlicherer und literaturwissenschaftlicherer Text.