MEDIA.ART.RESEARCH AWARD
Interact or Die!
Interact or Die!, wurde 2007 zum alle zwei Jahre stattfindenden DEAF (Dutch Electronic Art Festival) publiziert. Das von Joke Brouwer und Arjen Mulder herausgegebene Buch versammelt Interviews und Essays von und mit Biologen, Künstlern, Architekten, Philosophen, Soziologen, die alle Aspekte der Interaktivität in der Kunst und den Life Sciences erörtern.
Aus der Einleitung der Herausgeber: "Interaktion ist ein Wesenszug alles Lebenden. Körper und Objekte gehen Verbindungen ein, schließen sich zu Netzwerken zusammen, um sodann durch Interaktion Organisation, Struktur, Gedächtnis, Erblichkeit auszubilden. Interaktion wird oft als eine Abfolge von Aktion und Reaktion zwischen zwei bereits bestehenden Körpern oder Objekten gesehen, aber das ist eine zu enge Sicht der Dinge. Interaktion kann dazu führen, dass sich Körper und Objekte verändern und Varianten entstehen. Interaktion ist keine Deformation existierender Formen, sondern ein Mehr an Information, eine Formierung oder Ausbildung von Formen. In Interact or Die! geht es darum, wie zufällige Verhaltensweisen in Netzwerken starke, aber flexible Strukturen und Formen hervorbringen können, ohne dass sie einen zentralen Koordinator oder Code benötigten, der dem Prozess eine bestimmte Richtung weist oder eine bestimmte Form gibt. Das Buch erkundet, auf welche Weise Interaktion effektive, funktionierende Teile von Netzwerken auswählt und ineffektive fallen lässt. Interaktivität ist einerseits eine Methode, etwas - eine Form, Struktur oder Organisation, einen Körper, eine Institution oder ein Kunstwerk - ins Leben zu rufen, andererseits aber auch eine Methode, damit umzugehen."
Die Praxis Interaktiver Kunst Auszüge aus einem Essay von Arjen Mulder, veröffentlicht in Interact or Die!
Interaktive Kunst entsteht erst dadurch, dass der Betrachter etwas an ihr ändert. Erfunden wurde sie, soweit ich sehe, von der brasilianischen Künstlerin Lygia Clark (1920-1988) mit ihrer Arbeit O dentro e o fora ("Das Innere ist das Äußere"). Sie besteht aus einer Möbiusschleife - einem um die Längsachse gedrehten und zu einer Schleife zusammengeklebten Papierstreifen, bei dem Innen- und Außenseite ineinander übergehen. Der Betrachter soll diese Schleife nun mit einer Schere der Länge nach so weit wie möglich aufschneiden. Dabei ergibt sich ein erstaunlicher Effekt: Während die ursprüngliche Schleife mit jedem Schnitt schmäler wird, wird das davon abgeschnittene Band immer größer. Und allmählich stellt sich die Erkenntnis ein: So ist ja das Leben. Man läuft in seinem engen Kreis herum, von innen nach außen und wieder zurück, und schleppt alle Entscheidungen, die man getroffen hat, in einem immer länger werdenden Zeitband hinter sich her. Dennoch bleibt einem nichts übrig, als weiterzumachen, bis man eines Tages nicht mehr anders kann, als die Möbiusschleife entzweizuschneiden und zu sterben. Das Werk lässt sich, etwa aus Zeitungspapier, leicht zu Hause nachbauen. Die papierene Möbiusschleife an sich hat keinerlei künstlerischen Wert. Als Objekt ist interaktive Kunst nichts, als Handlung ist sie alles. Langsam, aber unweigerlich wird einem klar, was einem das Objekt mitteilen will, und zwar weniger durch kritische Reflexion als vielmehr durch Erfahrung.
Interaktive Kunst ist keine hochtechnische digitale Untergattung der Installationskunst. Sie kann genauso gut mit wie ohne Computer gemacht werden. Ihre Qualität besteht in der Interaktivität: Wie bringt sie das Publikum zum Interagieren? Was ändert die Interaktivität sowohl an der Installation als auch am Publikum? Und was haben Betrachter davon, wenn sie andere mit der Arbeit interagieren sehen? Der aktiv Interagierende erlebt das in die Arbeit eingebettete ästhetische, präsentationsbezogene Wissen, der Betrachter das in die Interaktionssituation eingebettete ethische, diskursive Wissen. Interaktive Kunst ermöglicht sowohl unmittelbare Erfahrung als auch distanzierte Reflexion. Sie kann mit einer Person und einem Objekt, mit mehreren Personen und einem Objekt, mit einer Person und mehreren Objekten oder mit vielen Personen und vielen Objekten (als öffentliche Kunst) hergestellt werden. Interaktivität lässt sich mithilfe von Süßigkeiten, Robotern, Landkarten, Gebäuden, Licht, Ton oder beliebigen anderen nutzlosen oder nützlichen, sinnlosen oder bedeutungsvollen, billigen oder teuren Materialien erzeugen.
Wir Menschen stecken voller Erfahrungen und Gefühle, die sich nicht, oder wenigstens nicht vollständig, in Sprache übersetzen lassen. Um sie zu verstehen, haben wir die Kunst. Die Bedeutung eines jeden Kunstwerks liegt in der Veränderung, die im Betrachter vor sich geht, wenn er es ansieht oder darüber nachdenkt. Bedeutung ist, was in der Interaktion zwischen Kunst und Betrachter für eine Zeitlang zum Leben erwacht. Darum wird auch traditionelle Kunst als interaktiv bezeichnet: Vollzieht sich nicht etwas zwischen Werk und Betrachter? Das ist jedoch nicht ganz richtig, denn auch wenn Menschen persönliche Dinge in das Werk hineinlesen oder ganz andere Verbindungen herstellen als frühere Generationen, so bleibt das Werk materiell oder energetisch gesehen doch unverändert. Lebendige Bedeutung - was Lygia Clark als vivências, als gelebte Erfahrung, bezeichnete - findet sich einzig und allein auf der Seite des Betrachters. In der interaktiven Kunst wird der Prozess des Bedeutungsstiftens beim Wort genommen.
Interaktive Kunst besteht nicht aus Endprodukten, die, wie gute Gemälde oder Skulpturen, die Fähigkeit besitzen, ihre Betrachter zu beeinflussen; sie versucht, den Prozess der gegenseitigen Veränderung von Schöpfer und Werk, durch den Gemälde und Skulpturen entstehen, am Leben zu halten - allerdings mit dem Betrachter anstelle des Künstlers. Interaktive Kunst weigert sich, die erzwungene Spaltung zwischen einer Kunstwelt, in der richtige Künstler produktiv arbeiten, und einer Außenwelt, in der einfache Menschen Kunst konsumieren, fortzuführen. Interaktive Kunst versucht, Kunst und Leben wieder zu vereinen, das Leben wieder ganz oder - wie das Lygia Clark genannt hat - "leer-voll" zu machen. Interaktivität erlöst uns von den hundert Jahren Einsamkeit der Kunst des 20. Jahrhunderts. Da Interaktion gegenseitige Veränderung bedeutet, und da für uns nur lebt, was mit uns interagiert, verändern wir alles um uns herum, genauso wie es uns verändert - Natur und Technik, Nahestehende und Fremde, Zimmer und Stadt, Bett und Welt. Interaktive Kunst ist die Kunst des Globalisierungszeitalters. Alles und jeder ist ständig in Wandel begriffen, und dieser ewige Prozess sorgt dafür, dass sich die Welt weiterdreht. Interaktive Kunst beschäftigt sich mit dieser Situation per se, sie versucht, sie im Moment ihres Entstehens zu erfassen, als bewusst gelebte Erfahrung und nicht in der Sprache von gestern oder übermorgen.
Arjen Mulder V2 Publishing / NAI Publishers, Rotterdam 2007, co-edited with Joke Brouwer, Contributors: Sean B. Carroll, Eva Jablonka, Arjen Mulder, Brian Massumi, Jeanne van Heeswijk, Detlef Mertins, Lars Spuybroek, Michael Hensel, Noortje Marres, Alberto Tascano and Gilbert Simondon.
Arjen Mulder (NL) ist Biologe und Medientheoretiker und hat eine ganze Reihe von Essaybänden zum Verhältnis von technischen Medien, physischer Erfahrung und Kunst veröffentlicht. Als Autor u. a.: Book for the Electronic Arts (2000) und Understanding Media Theory: Language, Image, Sound, Behavior (2004); als Herausgeber zusammen mit Joke Brouwer u. a. transUrbanism (2002), Information is Alive (2003), Feelings Are Always Local (2004), aRt&D: Artistic Research and Development (mit Anne Nigten, 2005), Interact or Die! (2007) sowie eine Monografie über Dick Raaijmakers (2008).
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