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Prix2008
Prix 1987 - 2007

 
 
Veranstalter:
Ars Electronica Linz & ORF Oberösterreich
 


ANERKENNUNG DES BEITRAGES ZUM WISSENSFELD
Materializing New Media: Embodiment in Information Aesthetics
Anna Munster


Abstract

Materializing New Media ist der Versuch, eine radikal neue begriffliche und ästhetische Genealogie der digitalen Kultur zu entwickeln, die die Beziehung der Neuen Medien zur Materialität nicht leugnet. Das Buch materialisiert die Neuen Medien, indem es demonstriert, dass sich diese häufig mit der Visualisierung von Körpern beschäftigt und neue Aspekte körperlicher Tätigkeit in die Technologien selbst integriert haben. Das reicht von der Entwicklung haptischer und gestischer Schnittstellen bis zur Berücksichtigung der Auswirkungen von Körperbewegungen, materiellen Umständen und Umweltgegebenheiten auf die Kunst und Kultur der Neuen Medien. Die Informationsästhetik entstand, so meine These, durch eine Neukonfiguration des Verhältnisses von Körper, Materialität (inklusive technischer, gelebter und physischer Parameter) und Computer. Auf Bild- und Interfaceebene haben mit Neuen Medien arbeitende Künstler, Designer und Architekten die Auswirkungen des Körpers und materiellen Lebens auf diese Technologien stets mitberücksichtigt. Ebenso haben sie nach Mitteln und Wegen zur Erhaltung neuer Verbindungen von Rechenmedien und Körperlichkeit gesucht. Die Ästhetik der Informationskultur beschäftigt sich mit Formen sinnlicher Partizipation, bei denen verteilte Räume und zeitliche Variation eine wesentliche Rolle spielen. Durch ihre Beschäftigung mit - und ihre Visualisierung von - Körpern sowie ihre Reaktionen auf materielle Parameter verändern die Neuen Medien daher auch unser Verständnis des eigenen Körpers und unsere Beziehung zu ihm. Das Buch zeigt, dass Experimente mit Körperbildern und Körperinterfaces in der Medienkunst zu einer neuen Auffassung des Menschen als körperlicher Lebensform geführt haben.

Auszug (S. 120–121)

Künstler haben auf die sogenannten entmaterialisierendenTendenzen der Informationskultur meist dadurch reagiert, dass sie Körper in direkten Kontakt mit der Computerhardware gebracht haben. In Diane Ludins Performance und Datenbank-Installation Memory Flesh 2.0 (2004) näht die ruhig dasitzende Performerin an ihrem Bein herum, während auf einem Monitor nebenan aus dem Internet stammende und nun in einer Datenbank gespeicherte Images zu Collagen verarbeitet werden. Der Strom dieser Collagen besteht aus im Netz publizierten journalistischen und wissenschaftlichen Text- und Bildinhalten, die im Zusammenhang mit dem Abschluss des Humangenomprojekts (HGP) entstanden sind. In unmittelbarer Nähe und verstörendem Kontrast zu den intimen und offenbar schmerzhaften Gesten der Hautpenetration und Körpermodifikation werden wir mit dem öffentlichen Diskurs und Bild des HGP konfrontiert - einem wissenschaftlichen Projekt, das den Körper in Sequenzen entmaterialisierter Information verwandelt.

Wie sich herausstellt, wird das Nähen nur vorgeführt; die an sich selbst herumflickende Frau durchsticht lediglich ein Paar Strümpfe. Mit der Nadel ist ein Biegesensor verbunden, so dass die Performerin beim Nähen ein Signal erzeugt, das umgewandelt und zur Generierung der Bildcollagen aus der Datenbank verwendet werden kann. Das Entscheidende an Memory Flesh 2.0 ist weniger die Simulation des Nähens, sondern seine Vorführung; dass es metaphorisch auf etwas hindeutet. Für Ludin ist die Metapher vom Durchstoßen der Körperoberfläche mit einem technischen Gerät etwas, das uns zu begreifen hilft, wie Informationen - vor allem wenn sie von etwas dermaßen behörden- oder betriebsmäßig Organisiertem wie dem HGP handeln - buchstäblich unter die Haut gehen. Gleichermaßen wird der direkt unter der Haut sitzende leibliche Körper zur Quelle, aus der sich entmaterialisierte Formen eines informatischen Körpers als erstes speisen. Ludins Auffassung der Körper-Computer-Interaktion weist eine interessante Ähnlichkeit zu der von Rokeby in der Zeit zwischen den High-End-Hardware-Interfaces der 1980er Jahre und den Neue-Medien-Interfaces des 21. Jahrhunderts auf. In Very Nervous System lenkte Rokeby unser Augenmerk auf den Umstand, wie sehr das Computerinterfacedesign auf einer Tradition beruht, die den Körper ausschließt. 2004 macht Ludin genau dieselbe Beobachtung und nutzt sie als Ausgangspunkt für die Gegenüberstellung einer schockierenden körperbezogenen Performance und der immer noch bestehenden Bunkermentalität der Informationstechnologie: "Das Internet hat wie die Informations- und Computertechnologie mit Restriktion zu tun. Weil dem so ist, müssen Körperdarstellungen extrem und übertrieben sein, wenn sie etwas von der Kraft, der Erfahrung, dem Leben außerhalb des Computers widerspiegeln wollen" (Diane Ludin, E-Mail an die Verfasserin, 2005).

In beiden Fällen findet Körper-Computer-Interaktion nicht durch die nahtlose Übertragung von Information von einem ortlosen Raum zum anderen statt. Flächen und Körper, Konturen und Falten mögen durch Informationskreisläufe miteinander verbunden sein, doch entwickeln sich aus ihren Interaktionen sperrige, widerständige Interfaces.

Copyright 2006 Anna Munster, used with permission of Dartmouth College Press/University Press of New England. www.upne.com

Anna Munster
Materializing New Media: Embodiment in Information Aesthetics, Hanover, NH: Dartmouth College/University of New England Press, 2006.