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Prix2008
Prix 1987 - 2007

 
 
Veranstalter:
Ars Electronica Linz & ORF Oberösterreich
 


ANERKENNUNG DES BEITRAGES ZUM WISSENSFELD
Bodies in Code. Interfaces with Digital Media



Bodies in Code untersucht Theorien der menschlichen Körperlichkeit (wobei hier unter Körperlichkeit die aktive Auseinandersetzung eines körperlichen Wesens mit seiner Umgebung verstanden wird, im Gegensatz zum Körper als objektiver Repräsentation). Meine Untersuchungen zur Körperlichkeit bedienen sich mehrerer theoretischer Register: Phänomenologie (Merleau-Ponty), Psychoanalyse, speziell in Bezug auf Haut (Didier Anzieu) und Rasse (Fanon), sowie einiger Erkenntnisse der neueren Kognitionswissenschaft über die strukturelle Kopplung von Organismus und Umwelt Varela). Ergänzt werden diese durch eine Darstellung der technischen Dimension menschlichen Lebens, die ihrerseits durch meine Analysen exemplarischer Medienkunstwerke und Virtual-Reality-Environments herausgearbeitet wird. Anhand der Arbeiten von Medienkünstlern wie Myron Krueger, Char Davies, Simon Penny, Marcel Benayoun, Diller und Scofidio sowie Rafael Lozano-Hemmer gelingt es mir zu zeigen, dass die Körperlichkeit des Menschen immer schon virtuell gewesen ist, insofern sie sich in Abhängigkeit von den Möglichkeiten bildlicher Darstellung und kultureller Rahmung entwickelt, die über das hinausgehen, was in der jeweiligen Situation verwirklicht wird. Virtuell zu sein ist Teil der für den Menschen konstitutiven biologischen Entwicklungsmöglichkeiten, und die Art des Zusammenspiels menschlicher Kognoszenten mit kognitiv-komplexen Rechensystemen, wie wir sie heute in Virtual-Reality-Spielen oder chirurgischen Ferneingriffen erleben, sind lediglich das jüngste Stadium einer Koevolution des Menschen mit der Technik, die wie das gleichzeitige Auftreten von Hominidenfossilien und primitiven Steinwerkzeugen deutlich macht, bis zu den Ursprüngen der Menschheit zurückreicht.

Auszüge (S. 95–96, 98–99) zu R. Lozano-Hemmers Re:Positioning Fear (1997)

Die als Intervention rund um eines der größten Militärarsenale Europas, das Landeszeughaus in Graz, Österreich, entwickelte Arbeit besteht aus zwei Komponenten: einem Archiv der Sitzungen eines Internet Relay Chats (IRC) über zeitgenössische Ängste und einer Tele-Absenz-Installation, bei der Schatten und Texte auf die Fassade des Innenhofs des Landeszeughauses projiziert wurden. Indem er die Lesbarkeit der Texte (der projizierten IRC-Sitzungen) an die Projektion der vergrößerten Körperschatten des Publikums koppelte, stellte Lozano-Hemmer einen direkten Bezug zwischen Entkörperlichung und der Umwandlung der räumlichen Umgebung in Information her. Insofern schafft er buchstäblich einen body-in-code, wie ich ihn hier begrifflich entwickelt habe, und verbindet so den Begriff mit einem gewissen Maß an Entkörperlichung. Da der Text nur vor dem Hintergrund der vergrößerten Schatten lesbar wird, bildet die Verwandlung des verkörperten Teilnehmers in einen Schatten die Voraussetzung für die Verwandlung der physischen Fassade zum Informationsraum. [...]

Als Beitrag zu Lozano-Hemmers größerem Projekt der Herstellung einer neuen kollektiven Individuierung von Körperlichkeit unternimmt Re:Positioning Fear den ersten Schritt zu einer Entkörperlichung des Individualkörpers und eröffnet so die Möglichkeit eines Bruchs mit dem prothetischen Technikmodell. Genau deshalb beharrt Lozano-Hemmer auch darauf, dass "der Schatten kein Avatar, kein Agent, kein Alias des Teilnehmerkörpers", sondern vielmehr "projizierte Dunkelheit, ein Spiel der Geometrie, ein körperloser Körperteil" ist. [...]

Virtuelle Architektur macht gemeinsame Sache mit dem Technikmodell der Prothetik: Weil sie den individuellen Körper als Maßstab beibehält, ist sie außerstande, die Trennung von Körper und Welt anders zu überwinden als durch die Illusion der Simulation; Letztere dient aus Lozano-Hemmers Sicht einer Entmaterialisierung des Körpers. Demgegenüber hebt seine relationale Architektur diese Trennung auf und tritt für Indivision durch Entmaterialisierung der Umwelt ein: deren Verwandlung in eine gemeinsame Schöpfung von Körperlichkeit und Information, von körperlicher Äußerung, erweitert durch Information, und von Information, verkörpert durch diese Erweiterung. Damit wird ein Technikmodell propagiert, bei dem die Technik ein Individuationsmedium ist. Dieses Technikmodell zeigt die Komplementarität der beiden Formen der Individuation, die in Simondons Konzeptualisierung und Lozano-Hemmers relationalen Arbeiten zur Debatte stehen: die Individuation des (menschlichen) Individuums und die kollektive Individuation. Anhand Letzterer - insbesondere in der von Simondon als Transindividuation bezeichneten Form - begreifen wir, inwiefern eine gewisse Entkörperlichung (verstanden als konstitutive Kopplung des Individuums an das Präindividuum) eine Dimension der Körperlichkeit sein kann, wie hier nun schon seit einiger Zeit behauptet wird. [...] Erst vom Standpunkt der Transindividuation - einer überindividuellen und notwendigerweise auch technischen Körperlichkeit - wird das Hinausgehen des Individuums über sich selbst, das Hinausgehen seiner (prädindividuellen) Entwicklungsmöglichkeit über seine (individuelle) Aktualisierung als eine konstitutive Dimension seiner Verkörperung als Individuum erkennbar. In dieser Hinsicht könnte die Transindividuation als ultimativer Ausdruck des Urabstands bezeichnet werden. In der Transindividuation führt die ursprüngliche Weitergabe der für den Menschen konstitutiven Körperlichkeit und Technizität zu nichts Geringerem als zu einer technischen Verkörperung der Unteilbarkeit des Fleisches, einem technisch verkörperten Gemeingut, in dem mein Körper seine Autonomie erst durch die Teilnahme an einem umfassenderen Prozess der Verkörperung gewinnt.

Mark B. N. Hansen
New York, Routledge, 2006

Mark B. N. Hansen (US) ist Professor für Medienwissenschaft und Kulturtheorie. Er war außerordentlicher Professor an der Princeton University und Professor an der University of Chicago - in den Instituten für Englisch und Bildende Kunst sowie im Committee on Cinema and Media Studies. Seit 2008 ist er Professor für Literatur und Informationswissenschaft an der Duke University. Er ist Verfasser dreier Bücher, Embodying Technesis (Michigan 2000), New Philosophy for New Media (MIT 2004) und Bodies in Code (Routledge 2006), Autor zahlreicher Artikel über verschiedene Themen der Kultur- und Medientheorie.