ANERKENNUNG
Bingo
Chris Landreth
Die Herstellung des computeranimierten Kurzfilms Bingo stellte uns in Produktion, Software-Entwicklung und im Erzählerischen vor eine einzigartige Aufgabe. Das Produktionsteam musste zumindest zwei Ziele gleichzeitig erreichen: Einerseits sollte CG-Software entwickelt, getestet und noch während der Entwicklung verifiziert werden – Software, die irgendwann zum Alias|Wavefront-Animationsprogramm Maya werden wollte. Andererseits hatten wir uns vorgenommen, mit einer Erzählebene und Bildwelten zu experimentieren, wie sie nur die Computergrafik zu schaffen in der Lage ist. Aus diesen Gründen ist Bingo sowohl ein höchst raffiniertes Beispiel für Character-Animation als auch in seiner Erzählweise sehr experimentell.
Bingos erzählerische Besonderheit liegt zumindest in einem Punkt: Meines Wissens ist es die erste Animation, die zur Gänze auf einem kurzen Theaterstück basiert, das für die Bühne konzipiert wurde. Das Stück selbst – Disregard This Play („Beachten Sie dieses Stück nicht”) ist ein absurd-surreales Drama, das von den Neo-Futurists – einer Theatercompagnie aus Chicago – aufgeführt wird. Der Soundtrack der Dialoge in Bingo wurde direkt bei einer Aufführung dieses Stückes mitgeschnitten, und die animierte Bildwelt entstand ausschließlich auf Basis dieser Theateraufführung.
„Durch geschickte Lügen, unablässig wiederholt, ist es möglich, die Leute glauben zu machen, der Himmel sei die Hölle und die Hölle der Himmel. Je dreister die Lüge, desto eher wird ihr Glauben geschenkt werden.“ A. Hitler, Mein Kampf
Ich habe über die Implementierung von Software- Techniken und über die Erzählung als „Ziele“ bei Bingo gesprochen. Aber am wichtigsten war für mich, eine Geschichte im Sinne des obigen Zitats zu erzählen – eines Zitats, das mich ob des Bösen, das es vermittelt, irritiert und das mich gleichzeitig wegen der Schärfe seiner Beobachtung der menschlichen Natur erstaunt. Als ich die Neo- Futuristen bei der Aufführung von Disregard This Play sah, erkannte ich einen Kristallisationspunkt dieser Aussage und fühlte, daß man ihr durch die Kunst der Computeranimation noch mehr Gewicht verleihen könnte.
Bingo zeigt eine mögliche Konsequenz fehlenden Selbstvertrauens. Wir sehen, welch absurden, schwarzhumorigen und gleichzeitig störenden Effekt eine „unablässig wiederholte“ Lüge bei einer im Grunde intelligenten und wohlerzogenen Person auslösen kann und wie diese Person sich selbst wahrnimmt. Für mich hat der Hautpdarsteller in Bingo einen freien Willen: Er kann jederzeit die Bühne verlassen, auf der er mit den anderen Charakteren konfrontiert wird. Er hat auch die Freiheit, diesen Figuren zu sagen, wer er ist, wenn er denn nicht Bingo der Clown ist. Daß er weder das eine noch das andere tut und irgendwann einfach die absurde Schlußfolgerung akzeptiert, ein Clown zu sein, läßt den Betrachter auf einer ganz tiefliegenden Ebene Wut empfinden. Es spiegelt eine ebenso absurde und häufig unerklärliche Bereitschaft wider, die ich bei Leuten (auch bei mir selbst) erfahren habe – Ungenauigkeiten oder „unablässig wiederholte Lügen“ über ihre eigene Identität hinzunehmen. Dieser Wahrnehmung wollte ich in Bingo Ausdruck und Stimme verleihen.
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