www.aec.at  
 
 
 

Prix Ars Electronica
Archive

Prix-Jury

 
 
Veranstalter
ORF Oberösterreich

Interaktive Kunst – wo stehen wir?

Christa Sommerer

In den letzten zehn bis zwölf Jahren hat sich die interaktive Kunst langsam etabliert. Während Künstler Ende der 80er- und Anfang der 90er-Jahre noch mit einer in den Kinderschuhen steckenden Technologie zu kämpfen hatten und folglich viele von ihnen Software und Interfaces selbst entwickeln mussten, steht heutzutage eine große Palette von Hard- und Softwarelösungen zur Schaffung interaktiver Erfahrungsumgebungen zur Verfügung. Dennoch hatten die ersten „interaktiven Künstler“ den Vorteil, jede Menge Neuland vor sich zu finden, und sie haben auf diesem jungfräulichen Boden in Übereinstimmung mit ihren individuellen Interessen und künstlerischen wie technischen Visionen ihre eigenen künstlerischen Untersuchungen betrieben.

Viele dieser Leute der ersten Stunde sind heute als „die“ Pioniere der Kunstgattung anerkannt, und ihre Werke werden gerne als Maßstab genutzt, an dem sich neuere Arbeiten zu messen haben. Aber diese Künstler sind selbst auch weiterhin produktiv, sie haben ihre künstlerische Suche verfeinert und raffiniert – und die Jury des diesjährigen Prix Ars Electronica für Interaktive Kunst konnte etliche hochqualitative Werke der „Meister des Genres“ begutachten.

Auf der anderen Seite hat die wachsende Akzeptanz und Institutionalisierung von Interaktivität und interaktiver Kunst im akademischen wie im Forschungsbereich jüngeren Künstlern geholfen, dieses Gebiet für sich zu erobern. Unter den heurigen Einreichungen haben wir viele Arbeiten jüngerer Künstler gefunden, die alle bestimmten generellen Strukturen im Design von Interfaces und in der Verknüpfung von Bild und Klang mit Interaktivität zu folgen scheinen. Alex Adriaansen hat während der Jurysitzung darauf hingewiesen, dass die wachsende Zahl von Medienkunst-Lehrgängen an Kunstschulen und Universitäten für diese Standardisierung des Interaktionsdesigns verantwortlich sein könnte, und sicherlich haben auch die kommerziell erhältlichen Hard- und Softwarepakete diese Etablierung von Standards der interaktiven Kunst zusätzlich gefördert.

Etliche der heuer eingereichten Arbeiten der „zweiten Generation“ waren vom Konzept her recht interessant, verließen sich aber allzu sehr auf Standardlösungen bei Interface und Interaktion. Andererseits fehlte bei Arbeiten, die technisch innovativ und überzeugend waren, häufig eine tiefergehende künstlerische Fragestellung oder ein ansprechendes Konzept. Daneben haben wir etliche Arbeiten zu sehen bekommen, die nicht als künstlerische Arbeiten per se entworfen waren, sondern eher Anforderungen aus dem Bereich der Unterhaltung, des Edutainments oder technischer Anwendungen gerecht wurden.

Eine der (vielen) Fragen, die während der Jurysitzung auftauchten, war, wie diese Diversität von Werktypen beurteilt werden sollte und welche Kriterien fair und angemessen wären. Wir haben uns bemüht, Werke herauszufinden, die folgenden Anforderungen gerecht wurden:

- Passt der Inhalt der Arbeit zur gewählten Interaktionslösung?

- Werden neue künstlerische Konzepte vorgestellt?

- Werden innovative und intuitive Interaktionserfahrungen angeboten?

- Werden die sozialen Auswirkungen dieser Technologie hinterfragt?

- Welche Relevanz kommt dieser Arbeit in Bezug auf Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft zu?

- Welcher Grad an Professionalität in der Umsetzung ist erkennbar?


Es ist sicherlich nicht leicht, allen diesen Anforderungen gerecht zu werden, aber angesichts der Vielzahl hoch qualitativer Einreichungen konnten wir auch den Maßstab zu ihrer Beurteilung recht hoch ansetzen. Wir haben uns darauf konzentriert, Arbeiten zu finden, die neue Formen der Interaktion definieren, fesselnde interaktive Erfahrungen bieten, neuartige Interaktionstechniken anwenden und neue Applikationen definieren, die von diesen Techniken Gebrauch machen. Wir haben Werke ausgewählt, die den Begriff „Interaktion“ ausweiten und die Bedeutung von „interaktiver Technologie“ im Kontext von Kunst, Technologie und Gesellschaft neu definieren, wie das Juror Hiroshi Ishii zusammengefasst hat.

Wir haben auch unsere Kriterien immer wieder in Frage gestellt und uns bemüht, so offen wie möglich zu bleiben. Wir wollten auch Werke einbeziehen, die zwar den obigen Kriterien nicht in allen Punkten entsprechen, aber dennoch neue Konzepte bieten, indem sie die Grenzen der interaktiven Kunst auf andere wertvolle Weise verschieben, etwa im Bereich der Spiele und Unterhaltung (Spezialgebiet des Jurymitglieds Masuyama aus Japan). Oder, wie Peter Higgins sich in der Jurysitzung ausdrückte, wir bemühten uns zu vermeiden, „… ungewollt diese gerade entstehende Kunstform einzuschränken und ihr gleichzeitig mehr Gewicht beizumessen, als ihr zukommt. Die Konsequenz daraus ist, dass die obigen Auswahlkriterien jetzt hinterfragt werden müssen, wenn wir das Potenzial dieses Genres wirklich neu bewerten wollen.“

Wir haben über jede der eingereichten Arbeiten lang und ausführlich debattiert, und nachdem wir einmal 18 Arbeiten in die nähere Wahl gezogen hatten, fiel es uns schwer, drei Arbeiten als mögliche Sieger zu benennen. Alle 18 waren in ihrer Umsetzung ausgezeichnet. Besonders gefreut hat uns, dass viele der mit Anerkennungen bedachten Arbeiten von jüngeren Künstlern stammen, und wir sind zuversichtlich, dass auch in Zukunft das Gebiet der interaktiven Kunst noch mehr von ihren hochqualitativen Werken sehen wird.


Wir freuen uns, folgende Preisträger des heurigen Wettbewerbs bekannt zu geben:

„n-cha(n)t“ von David Rokeby


Mit dieser Arbeit ist es David Rokeby gelungen, ein System zu schaffen, das modernste Technologie mit künstlerischer und konzeptueller Raffinesse verbindet. Während viele interaktive Projekte uns heutzutage entweder mit klug gestalteten Interfaces oder mit interessanten Konzepten beeindrucken, bedarf es schon eines besonderen künstlerischen Genies, Hardware, Software „und“ Konzepte in eine scheinbar mühelose Erfahrung zu kombinieren, die sowohl vom Konzept wie von der Umsetzung und ganz besonders wegen der tief gehenden menschlichen Emotionen beeindruckt, die von dieser Erfahrung ausgelöst werden. Mit „n-cha(n)t“ hat David Rokeby ein künstlerisch wie technisch herausragendes Werk geschaffen.

Ich erinnere mich, wie David vor sieben Jahren bei der von Nam June Paik organisierten Kwanju Biennale in Korea uns (Paul Garrin, Steina Vasulka, Laurent Mignonneau und etlichen anderen) von seinem „The Giver of Names“-Projekt erzählt hat. Wir konnten uns alle nicht so ganz vorstellen, wovon David sprach, aber er war sehr aufgeregt und inspiriert, und immer, wenn wir uns in den folgenden Jahren trafen, hat er mir weiter davon berichtet.

Jetzt ist dieses Werk endlich fertig gestellt, und es ist zweifellos eine seiner besten Arbeiten. In seinen eigenen Worten treibt das System „… in einem Meer von Sprachen dahin, die es manipulieren, aber nicht verstehen kann. Seine Daseinsform wie seine Einsamkeit scheinen nach einer sozialen Gruppe zu verlangen. Und so stellte ich mir eine Gruppe intelligenter Agenten vor, die in irgendeiner Ecke des Internet in ihrer Freizeit herumlungern und mit ihrem synthetischen Geist spielen … Sprachen gegenseitig an sich ausprobieren … vielleicht ihren eigenen Dialekt finden… diese fremde Sprache irgendwie zu ihrer eigenen machen.“(Rokeby, 2002)

Abgesehen von den technischen Innovationen, die David für diese Arbeit entwickelt hat (etwa wie die lernfähigen Algorithmen zur Spracherkennung), spricht er auch verborgene Ängste – etwa die Angst vor Einsamkeit – und unser Streben nach sozialer Anerkennung an. Hiroshi Ishii hat es in der Jurysitzung so ausgedrückt: „Diese Arbeit erinnert uns an die Gesellschaft, in der wir leben. Es ist eine Gesellschaft, die an der Oberfläche Homogenität bevorzugt und sich gestört fühlt von Fremden (Besuchern), die Lärm machen. Diese Arbeit lässt dem Publikum bewusst werden, wie empfindlich das Gleichgewicht der Gesellschaft samt ihrer sich selbst organisierende Verteidigung gegen Eindringlinge ist.“ In einem Zeitalter der Globalisierung und gleichzeitigen Abschottung nach außen, in dem die Angst vor dem Fremden und Unbekannten ein wichtiges politisches Argument geworden ist, erinnert uns „n-cha(n)t“ auf unheimliche Weise daran, dass wir alle Fremde sind und es immer Gruppen geben wird, die sich gegenüber Außenseitern abgrenzen. „Ob sie wohl noch über uns sprechen, wenn wir gegangen sind?“ fragte Peter Higgins während der Jurysitzung.


„Body Movies“ von Rafael Lozano-Hemmer

Eine ganz andere Form von Interaktionsdesign wurde von Rafael Lozano-Hemmer in seiner neuesten Arbeit „Body Movies“ geschaffen. Das Werk wurde im öffentlichen Raum beim V2-Festival in Rotterdam präsentiert und baut auf der Grundidee des Schattenspiels auf. Die Mitspieler interagieren mittels ihrer Schatten, die auf die große Fassade eines am Platz stehenden Gebäudes projiziert werden. Aber die Mitspieler sehen nicht nur ihre eigenen Schatten und jene der anderen aktiven Mitwirkenden, sondern auch projizierte Bilder von aufgezeichneten Usern. Manche Schatten erscheinen groß, andere kleiner. Dieser Unterschied im Maßstab löst automatisch ein sehr unterhaltsames Machtspiel beim teilnehmenden Publikum aus, wobei jene mit größeren Schatten häufig versuchen, sich die kleineren gefügig zu machen oder, umgekehrt, mit den kleinen Schatten die großen zu provozieren.

In seiner geschickten technischen Umsetzung verwendet Rafael nicht nur die Schatten der aktuellen Mitwirkenden für die Interaktion, er bringt auch aufgezeichnete Bilder von früheren Teilnehmern ins Spiel, Bilder, die erst sichtbar werden, wenn der jetzige Mitspieler seine Schattenform jener des ehemaligen Users anpasst. Die intelligent ausgedachte Methode, die hochauflösende Projektion der Aufzeichnung mit hellem Licht zu überdecken, das der Mitspielers jedoch mit seinem Körper abfangen kann, schafft ein einfaches, aber dennoch raffiniertes Interaktions-Szenarium. Die User können die Bilder früherer User durch ihr eigenen Schattenspiel wieder zum Leben erwecken. Sie können die Größe des eigenen Schattens beeinflussen, aber vor allem werden sie vom Potenzial ihrer dunklen Negativform inspiriert, die als Schattenriss ein Bild ans Licht bringt.

Die Einfachheit und Eleganz dieses Interfaces erlaubt es den Usern, ihre eigenen Interaktionen zu erfinden; durch simples Bewegen und Herumspielen mit dem eigenen und fremden Schatten und Bildern erfolgt ein spontaner Austausch zwischen einander völlig unbekannten Personen. Es gibt genügend Feed-back, das dem User sagt, was er tun soll, dennoch schaffen die Unvorhersehbarkeit des nächsten Ereignisses und die Frage, wer wohl als nächster ins Spiel eingreifen wird, ein offenes System, das dem Sinn des Publikums für Improvisation ebenso Rechnung trägt wie dem Spieltrieb und der Neugier auf Zufallsbekanntschaften – eine elegante, leicht fassliche und höchst unterhaltsame Form sozialer Kunst.


„The Crossing“ von Ranjit Makkuni und anderen

Während die beiden oben beschriebenen Werke von zwei Künstlern stammen, die am Gipfel ihrer künstlerischen Kreativität angekommen sind und uns bereits großartige interaktive Arbeiten gezeigt haben, repräsentiert das dritte Werk, dem wir eine Auszeichnung zuerkannt haben, ein völlig anderes Feld, in dem die Interaktivität zunehmend an Bedeutung gewinnt.

In den letzten Jahren setzen Museen zunehmend interaktive Systeme zur Präsentation und Erläuterung des kulturellen und technologischen Inhalts ihrer Sammlungen ein. Während das typische interaktive Interface in einem Museum zunächst meist ein Touch-Screen oder ein Monitor samt Tastatur-/ Maussteuerung zu sein pflegte, sind heutzutage Museen und Ausstellungen immer stärker daran interessiert, ein leichter zugängliches, intuitiveres und flexibleres Interface-Design anzubieten, um ein allgemeines Publikum anzusprechen, das häufig von ganz jungen bis zu älteren oder erfahrenen Besuchern reicht.

„The Crossing“, ein Ausstellungskonzept, das von einer Gruppe von Forschern rund um Ranjit Makkuni von Xerox Parc, USA, entwickelt wurde, ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie ein kultureller Inhalt – in diesem Fall indische Mythologie – durch die Anwendung neuartiger und intuitiver Interfaces transparent und zugänglich gemacht werden kann. So erlaubt beispielsweise der Einsatz einer indischen Rikscha als Interface den Besuchern, Teile der indischen Kultur zu erfahren. Die Ausstellung eröffnet neue Wege im Transport kultureller Inhalte in den Bereichen der Erziehung, im Edutainment und in der Unterhaltung, und zwar auf eine in der Kultur selbst begründete und dem Thema angepasste Weise. Diese Initiative ist auch insofern wertvoll, als sie im Zusammenhang mit einem Schwellenland der Hochtechnologie entstanden ist, das besonders wichtige und faszinierende kulturelle Geschichten zu erzählen hat. Während die Technologie in der indischen Geschäftswelt selbstverständlich geworden ist, scheint sie im Kulturbereich bisher noch nicht so effizient eingesetzt worden zu sein. Zudem verdient auch die Unterstützung und Kooperation des kommerziellen Partners bei einem so ungewöhnlichen Szenario unseren Applaus, unterstrich Peter Higgins.

Durch seine Kombination modernster Interface-Techniken mit inhaltsreichen kulturellen Erfahrungen bezieht das „The Crossing“-Projekt das Publikum in die Schaffung und Verbesserung einer kollektiven Lernerfahrung innerhalb eines Museumskontexts ein. Wir haben dieses Werk ausgewählt, um es einerseits als Gegengewicht zu den rein künstlerischen Umsetzungen von Interaktions-Design zu präsentieren, andererseits aber auch um den wachsenden Einfluss der Interaktivität im Bereich von Bildung, Unterhaltung und Edutainment in kulturell unterschiedlichem Rahmenvorgaben herauszustreichen und anzuerkennen, zumal diese Arbeit ein handwerklich besonders gut gestaltetes Beispiel ist, das in neue Richtungen weist, in denen sich künstlerische, wissenschaftliche und technische Anwendungen treffen können.

 
© Ars Electronica Linz GmbH, info@aec.at